Müller Herta





Herta Müller


*  17. August 1953 in Nițchidorf, Volksrepublik Rumänien

  Eine deutsche Schriftstellerin, die im rumänischen Banat aufgewachsen ist und 1987 in die Bundesrepublik Deutschland ausreiste

 

 

Ihre Mutter wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zu mehrjähriger Zwangsarbeit in ein sowjetisches Lager in die Ukraine deportiert.

 

Werke unter anderem:

 

  Der Fuchs war damals schon der Jäger 1992

Herztier  1994

Atemschaukel  2009

 

Auszeichnungen unter anderem:

 

1994: Kleist-Preis

1998: Brüder-Grimm-Professur der Universität Kassel

1999: Franz-Kafka-Preis der Stadt Klosterneuburg

2009: Nobelpreis für Literatur

2012: Ehrendoktorwürde der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn

2015: Heinrich-Böll-Preis, Literaturpreis der Stadt Köln

2015: Friedrich-Hölderlin-Preis der Universität und der Universitätsstadt Tübingen

2021: Jacob-Grimm-Preis Deutsche Sprache



Atemschaukel


Der siebzehnjährige Leopold Auberg wird als ein Mitglied der Volksgruppe der Siebenbürger Sachsen von den anrückenden Sowjetsoldaten zum Arbeitsdienst in die Sowjetunion deportiert. Im Lager angekommen durchlebt er fünf Jahre voller Entbehrung und Hunger. Von den Bewachern und dem Natschalnik (vergleichsweise Kapo) Tur Prikulitsch unterdrückt, passt er sich jedoch geistig und körperlich an das Lagerleben an und arrangiert sich mit den Gegebenheiten. Auch nach seiner Entlassung aus dem Lager steht Leopold weiter unter dem Eindruck des dort Erlebten. 


 

Mein Einwurf


Atemschaukel, nein ich erkläre dieses Wort nicht, weil man dann ja auch alle anderen Wortschöpfungen von Herta Müller erklären müßte. Aber man kann sie nicht erklären, jedenfalls nicht, wenn man die Worte nicht erlebt hat. Und so kommen sie einem beim Lesen entgegen. Oder, wie die Autorin bei ihrer Dankesrede zur Verleihung des Kulturpreises Deutsche Sprache gesagt hat: “Wörter fallen aus dem Mund dem Kopf zu.“

 

Diesen Roman liest man vom ersten Satz an auf verschiedenen Ebenen:

Der inhaltlichen,

der sprachlichen,

der denkenden.

 

Herta Müller erzählt die Geschichte eines Lagerinsassen, eines Zwangsarbeiters. Nein, sie erzählt viele Geschichten. Welche, die vielleicht beim Schreiben entstanden sind, welche, die beim Lesen zu neuen Geschichten führen. Geschichten von Personen die sie kennt. Geschichten die sie erlebt oder gehört hat.

Und die Wörter, so Herta Müller, kommen durch Zufall. Der Zwangsarbeiter sieht sie vor sich, alles um ihn herum wird zu Wörtern, die mit ihm sprechen und in seinem Bewußtsein eingesperrt bleiben. Auch noch Jahre nach seiner Entlassung. Immer wieder melden sie sich und werden zu Bildern von damals.

Der Zwangsarbeiter ist zurück, nach Hause gefahren, aber im Bewußtsein ist er nie dort angekommen. Er fährt immer weiter und immer wieder zurück. "Solang du fährst, bist du noch nicht angekommen." Und eigentlich will er gar nicht ankommen, weil er Angst hat, frei zu sein. Er hat sich eingerichtet in seinem Lagerleben, eingerichtet in und mit seinen Wörtern. Aber hier zu Hause hatten diese Wörter keinen Platz mehr.

"Dann war eine Art Ferne in mir."






16. Oktober 2021

 

Kulturpreis Deutsche Sprache

Jacob-Grimm-Preis

Herta Müller

Begründung : Für die meisterliche Nutzung der unendlichen Möglichkeiten, die die deutsche Sprache als Quelle der Poesie bietet.



Mein Einwurf

 

Sprache besteht aus Buchstaben, Wörtern und Sätzen. Für Herta Müller sind Wörter die Hauptakteure. Immer wieder läßt sie neue über ihre Lippen gleiten, der jeweiligen Situation angepaßt. Oder, um mit ihr zu sprechen: Sie fallen aus dem Kopf dem Mund zu.

 

Lange nach dieser Veranstaltung stand ich noch unter dem Eindruck der vielen Wörter die bei der Dankesrede von Herta Müller gefallen waren. Und auch nach längerer Zeit holen sie mich noch immer wieder ein und verharren bestängig in meinem Bewußtsein. Die Zeit bleibt eben nicht stehen vor den Wörtern und den Gedanken hinter ihnen. Und, es waren eine Menge Wörter. Aber dafür fahre ich ja auch zu so einer Veranstaltung, um die Wörter aufzulesen, sie zu sammeln und sie zu meinem Eigen zu machen. Wobei mir eine Frage von Herta Müller einfällt: " Gehört mir überhaupt ein Wort ?" Also leihe ich es mir zumindest, um es irgendwann weiterzugeben.


Die Wörter " sie kommen in den Mund wie sie wollen. In ihnen sitzt immer der Zufall."


Ja, ich kann die Wörter nicht rufen. Das Denken schickt sie meistens. Manche sammel ich auch jeden Tag auf und verstaue sie irgendwo zwischen meinen Gedanken. Sie sind mir draußen zugeflogen, wenn die Menschen in der Stadt an mir vorbeieilen. Die merken nicht, wenn sie sie verlieren, man muß sie nur auffangen. Im Kopf lagern. Wichtig ist nur, sie dann richtig zu sortieren, denn oft kommen sie einfach ungeordnet. Und wenn aus ihnen dann ein Satz geworden ist, fehlt immer noch die Geschichte. Die kann nur von Sätzen geboren werden. Wörter, aus Buchstaben entstanden, werden zu Sätzen und enden als Geschichten. Wie das Leben. Jedes eine Geschichte des einzelnen Wesens. Auch die von Herta Müller geschilderte eigene. Ein kleiner Teil der eigenen.


Wortgeschichten.






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