Kempowski Walter

 

Walter Kempowski

* 1929 in Rostock

† 5. Oktober 2007 in Rotenburg an der Wümme

1948 von einem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt.

1956 nach 8 Jahren vorzeitig entlassen.


Werke unter anderem:


Ein Kapitel für sich   1975

Aus großer Zeit   1978

Hundstage   1988

Somnia Tagebuch 1991

Alles umsonst   2006



 

Auszeichnungen unter anderem:


1995: Uwe-Johnson-Preis für „Das Echolot“

2005: Thomas-Mann-Preis der Stadt Lübeck

2006: Verleihung des Großen Bundesverdienstkreuzes mit Stern

In Hamburg wird alle zwei Jahre der Walter-Kempowski-Literaturpreis vergeben.

Der Asteroid (11789) Kempowski ist nach ihm benannt.

 

 

Hundstage   

"Hundstage" - die heißesten Tage des Sommers. Diese Zeit will der Schriftsteller  Alexander Sowtschick auf seinem schönen Anwesen in Norddeutschland verbringen . Allein, ohne seine Ehefrau und ganz auf sein neues Werk konzentriert. Aber die geplante Idylle wird gründlich gestört: Es kommt zu einer Reihe unvorhergesehener Ereignisse - bis hin zu einem Mord. Und Alexander Sowtschick nähert sich immer mehr den Abgründen der eigenen Seelenlandschaft.

 

 

 

Mein Einwurf

Freundschaft wurde schon immer falsch interpretiert, bewußt falsch interpretiert, weil dieses Wort leider schon immer mit anderen Inhalten besetzt wurde, mit Inhalten, die nie zu ihm gehörten.
Kempowski bestreitet zwar das Autobiographische an diesem Werk, aber meiner Meinung nach kann etwas autobiographischer gar nicht sein. Das ist jedoch eine andere Diskussion.
Kempowski beschreibt hier einen Menschen, einen Schriftsteller, der mitten im Sommer einen Roman über einen Schriftsteller schreibt, der mitten im Winter spielt,über einen Schriftsteller der einen Roman schreibt. Mitten drin das Gedicht "Frost".
Oberflächlich zunächst eine herrliche Persiflage über die sechziger, siebziger, achtziger Jahre aus der Sicht eines damals Sechzigjährigen. Aber es ist viel mehr. Mehr auch als die Kritik an der Schriftstellerszene. Es ist eine Kritik an der Gesellschaft der damaligen Zeit, die auch heute nichts an Bedeutung verloren hat.

Freundschaft wurde schon damals mit den selben Vorurteilen belegt, wie sie noch heute gebräuchlich sind. Wenn sich der geschilderte Schriftsteller mit den weiblichen  Personen jüngerer Generationen freundschaftlich einläßt, werden gleich sämtliche Vorurteile aus der Mottenkiste der Geschichte herausgeholt. Es kann einfach nicht sein, nein, es darf einfach nicht sein, daß Alt und Jung miteinander leben, ohne daß die alte Person die böse ist, die nichts weiter will, als sich sexuell an der Jugend zu erfreuen und sie entsprechend zu benutzen. Natürlich ist Sexualität im Alter kein Thema, welches nicht mehr existiert, aber sie hat eine ganz andere Bedeutung. Und genauso hat Freundschaft im Alter eine andere Bedeutung als in der Jugend.

Wenn ich heute eine Frau, egal welchen Alters, als Freundin gewinne, dann nicht, um mit ihr das Bett zu teilen - auch so ein seltsamer Begriff, bei dem ich immer den Eindruck habe, daß der Mann mit der Kettensäge im Schlafzimmer steht -, sondern um sie als Mensch zu gewinnen  und gemeinsam mit ihr unvergeßliche Augenblicke zu erleben. Und diese Augenblicke gibt es, zur Verwunderung vieler, auch außerhalb des Bettes .

Aber dann erscheinen diese "Hundstage", die ja zweierlei Bedeutung haben : Zum einen die heiße Jahreszeit, die schon immer die Phantasie angeregt hat, aber, was viel wichtiger ist, die Tage im Leben, die man nicht einmal einem Hund zumuten möchte - nicht umsonst hat Sowtschick in dem Roman mehrere Hunde um sich  - . Das sind nämlich die Tage, an denen die verlogene Gesellschaft mit ihrer Scheinmoral alle irgendwo vorhandenen Vorurteile aus Neid vor einem Menschen ausgräbt, der zwar nicht der Norm entspricht, der sie aber im Grunde gerne sein möchten, wenn es die Gesellschaft denn zulassen würde. Und irgendwie und irgendwann besteht das Leben dann für beide Seiten nur noch aus Hundstagen. Da brennt sogar das "Fron-Hus" nieder, was doch zeigt, daß die ganze alte Moral den Bach runter geht, ja mehr noch, ertränkt wird, wie das Mädchen, welches auch nicht wirklich zur Gesellschaft gehörte, weil sie doch behindert war. So behindert, wie ein alter Mann, der sich mit der Jugend anfreundete. Das muß doch in einer Katastrophe enden.

Ich habe am Ende erfahren, warum er, Kempowski, beziehungsweise sein Dichter im Roman immer die Diesteln, das Unkraut in seinem Garten mit einer Hackenbewegung zertritt. Genau so ein einziger Tritt, so eine einzige Bewegung war nur nötig, um sein Leben zu zerstören. Wenn wir unsere Hacke auf eine Distel, ein vermeintliches Unkraut, stellen und einmal kräftig drehen, dann ist sie zerstört. Und genauso handeln die Menschen. Denjenigen, den sie einmal als "Unkraut" ausgemacht haben , zerstören sie mit einer einzigen Handlung. Sie löschen ihn einfach aus und versenken ihn in die Dunkelheit. Nur, einen Menschen kann man weder einfach wieder aus dem Erdreich herausziehen und er ergrünt wieder, noch kann man ihn aus seinem selbstgebauten Käfig befreien und nur die Birne auswechseln, damit er wieder erstrahlt.


 

 

 

Deutsche Chronik

 

Drei Bilder aus Rostock, so beginnt Kempowski eine Geschichte Deutschlands im 20sten Jahrhundert. Es ist nicht die Geschichte der Jahreszahlen, die Geschichte der Herrschenden, die Geschichte „der da oben“, es ist die Geschichte des Volkes, es ist das Leben eines Volkes,das Leben der Menschen in diesem Jahrhundert.

Was machen wir eigentlich, wenn wir uns an unsere Geschichte, an unser Leben erinnern wollen ? Richtig, wir greifen zum Bilderalbum, denn Bilder erzählen deutlicher noch als Geschichten die Vergangenheit, weil auf ihnen auch so manche Kleinigkeiten zu sehen sind,die uns erst das Damals verstehen lassen, unsere Vorstellungskraft anstacheln. Erst duch sie beginnen die Bilder wieder zu leben.

Genau das erleben wir bei Kempowski, der die vielen kleinen Geschichten seiner Familie zur Geschichte Deutschlands und, was viel wichtiger ist, zur Geschichte der Menschen in Deutschland werden läßt.


 

 

Aus großer Zeit   

Walter Kempowski, "eine der ungewöhnlichsten und überraschendsten Begabung der neuen deutschen Literatur", schlägt nun die ersten Seiten jener deutschen Bürger-Chronik auf, die nach seinem Plan bis in unsere unmittelbare Gegenwart reichen wird. Er ist dem Leben und Treiben der Kempowskis und ihrer Freunde in jener "großen Zeit" nachgegangen und erzählt vom Schicksal des Ahnherrn Robert William, seiner Frau Anna und deren Sohn Karl.

 

 

Mein Einwurf

Nach dem letzten Satz habe ich, wie so oft, im Internet nachgeschaut, wie über dieses Werk geurteilt wird. Da redet man eigentlich recht positiv, aber immer wieder lese ich die Kritik, daß Kempowski hier nur eine bürgerliche Idylle beschreibt, eine Familienidylle, eine Behaglichkeit, eine Verklärung der Zeit. Genau das aber geschieht in diesem Roman meiner Meinung nach nicht.

Immer wieder gab es große Zeiten und die guten alten Zeiten, was gleichbedeutend ist. Und immer gab es sie nur im Rückblick, der soweit zurück lag, daß man die Hintergründe schon gar nicht mehr kannte. Wir erinnern uns an die goldenen 20er Jahre, die ja nun keineswegs golden waren. Natürlich denkt man dabei immer nur an die schönen und guten Dinge einer Zeit, den Rest vergißt man. Jedoch ist das nur die halbe Wahrheit. Schon in der großen, guten alten Zeit, war man bemüht, das Schlechte zu überspielen und es als etwas Großes und Lebenswertes hervorzuheben.

Kempowski schafft es, dies alles in einem einzigen Satz zusammenzufassen, mehr noch, den ganzen Roman mit diesem Satz zu erklären:
" Wir leben in einer großen Zeit, der größten wohl, die Deutschland je gesehen hat. Söhne und Enkel werden uns beneiden."
Nein, sie werden uns nicht beneiden, sie werden uns loben. Und das ist etwas ganz anderes und viel Schlimmeres. Weil sie dann nicht verstanden haben, was wirklich geschehen, vorgefallen ist.

Bei mir das letzte Jahr. Es war eine große Zeit. Ich durfte helfen. War nicht alleine, hatte immer eine Aufgabe, war verantwortlich. Die Frage, ob ich diese Verwantwortlichkeit im Letztlichen wahrgenommen habe, will ich an dieser Stelle mal ausschließen, weil das ein anderes Thema ist, welches mich zwar sehr beschäftigt, aber nicht hierher gehört.
Im Rückblick war es vielleicht eine große Zeit, aber eine große Zeit war in der Geschichte meisten auch eine schlechte Zeit.

"Anna ließt diesen Brief....der auf schlechtes graues Papier geschrieben ist."
Ja, all diese guten, großen, alten Zeiten sind auf schlechtem Papier geschrieben, " mit zerlaufender Tinte". Und so verschwindet sie, die Tinte, wieder im Morgen.

Nachdem ich das Buch zugeschlagen hatte, erinnerte ich mich an ein Gedicht welches ich bei Peter von Matt gelesen hatte und ganz besonders an seine wundebare Interpretation. Ich meine das Gedicht von Karl Kraus " An den Schnittlauch". Und es kam mir vor wie eine Ergänzung, wie eine Erklärung von Kempowskis Roman. Mehr noch, es scheint mir die Auflösung zu sein, warum wir immer wieder von der so unträglichen Vergangenheit schwärmen.

Da schreibt Peter von Matt in seiner Interpretation, die er sinnigerweise "Eine letzte Hoffnung" nennt - vielleicht ist die Vergangenheit, die verklärte Vergangenheit unsere letzte Hoffnung, das Jetzt zu bewältigen -: " ...die Erde ist auch die Mutter der hingemähten jungen Soldaten, die alle so gerne gelebt und geliebt und etwas geleistet hätten, als sie in den Krieg geschickt wurden von alten, wahnbesetzten Männern in Dekorationsuniformen." Da ist sie wiede die Idylle, die verlogene Idylle. Du wirst beim Lesen genau dies wiederfinden, wenn Karl, als Fünfzehnjähriger in den 1. Weltkrieg zieht und die Situation um ihn herum beschrieben wird, wie er sie sieht.

Das erste, was im Krieg verloren geht, ist die Wahrheit. Vor diesem Hintergrund feiert Kraus den Schnittlauch, eine Pflanze, die "einfach ist, wahr und ehrlich."Der Kampf gegen die Verlogenheit. Kempowski zeigt ihn. Am Anfang die Darstellung der Idylle, mitten hinein der Krieg, mit ihm die Verlogenheit. Während zu Hause noch immer die Idylle gepflegt wird, fällt die Jugend in den Schützengräben. Ohne Eindruck zu erwecken. Der Anzug wird daheim schon mal entsorgt. " Er fällt ja doch."

Für das Gewissen muß nur der Schein aufrechterhalten werden.
"Während der Wille zum Töten und Lügen die Menschheit dezimiert, versichert sich der Autor im Essen dieses guten Grüns fast rituell der Möglichkeit, trotz allem wahr und ehrlich und gütig zu sein." Peter von Matt über das Essen des Schnittlauchs.
Für die Kempowskis und de Bonsacs gilt genau das Gegenteil. Da wird mitten im Krieg gepraßt. Wenn auch nur mit Ersatz. Es ist das Wort des Augenblicks. Brotersatz, Käseersatz, Eierersatz. "Und vor dem Hintergrund der hingeschlachteten Jugend, des Ersatzbrotes....feiert er (Kraus) eine Pflanze, die ganz einfach ist, wahr und ehrlich." Den Schnittlauch.
Das bürgerliche Idyll bekommt Sprünge, die Harmonie, die am Anfang geschildert wird, verrät sich als scheinhaft. Der letzte Satz bei Kempowski lautet: "Nicht, daß sie tot sind, all die Kameraden, ist der Schmerz, sondern, daß man sie vergessen wird. Trotz aller Monumente."

 "Aus großer Zeit" ist also keineswegs die Verklärung der alten Zeit, sondern die Darstellung deutsch-bürgerlicher Beschränktheit.


 

 

 

 

 

Ein Kapitel für sich  

Im Frühjahr 1948 wurde Walter Kempowski wegen Spionage verurteilt, weil er Frachtbriefe aus der Reederei seines Vaters an die Amerikaner weitergeleitete hatte, um zu demonstrieren, wie die Russen die von ihnen besetzte »Zone« ausbeuten. Mit Walter wurden auch seine Mutter und sein Bruder Robert zeitweilig eingesperrt.Im vorliegenden Roman lässt der Autor jeden der Beteiligten aus seiner Sicht über die Haftzeit berichten.

 

 

Mein Einwurf

So, wie wir ohne gefragt zu werden, in die Welt "geworfen" werden, entfernt man uns auch wieder aus ihr.
 

Und dann taucht immer wieder dieser Satz auf: Der Tod gehört zum Leben. Nein ! Es sei denn, man glaubt an ein Leben danach. Wenn schon, dann ist das Sterben der letzte Akt in unserem Dasein. Der Tod findet nach dem Leben statt und das Sterben beendet es. Aber beides ist nicht Teil des Lebens, zumindest nicht meines Lebens. Und das Sterben und der Tod der anderen gehört zur Welt, aber nicht zum Leben. So zumindest mein Denken. Gestattet mir nur noch einen Satz zu diesem Thema:
 Der Tod - insbesondere mein Tod - ist nichts, womit ich mich beschäftigen muß, denn ich kann ihn zeitlich nicht in mein Leben einplanen, er ist vielmehr ein Ereignis für die anderen.Und er schränkt auch meine Freiheit nicht ein, da ich nicht zurückblicken kann. Ich existiere nur im Gedächtnis der anderen weiter.

Jedenfalls habe ich eine Bekannte an einem meiner Urlaubstage besucht, sie in der Küche, ich schaue um die Ecke und sehe, was ihr aufgefallen ist, in einer Schale Bananen liegen. Also, vom Aussehen her tote Bananen, schwarze Bananen, was nicht bedeutet, daß alles was schwarz ist, tot ist. Und sie waren es innerlich wohl auch nicht, sie lebten lediglich in einer heruntergekommenen Behausung. In dem Moment sagte sie zu mir: Schau mal, die werden bei uns auch noch verwendet. Ja, antwortete ich wahrheitsgemäß, bei mir ist es genauso. Auch meine Bananen sind manchmal schwarz oder haben derartige großflächige Flecken, sind aber dennoch genießbar. Es ist eben so, daß nicht alles, was anders aussieht, nicht mehr eßbar, nicht alles, was verdorben aussieht auch schlecht, nicht alles mit einem unschönen Äußeren, innerlich bereits tot ist. Wir dürfen nicht immer nur mit den Augen urteilen.

Schon als Kind haben wir gesagt: Den Spinat mag ich nicht, wie der auch schon aussieht. Den Geschmack haben wir dadurch nie erfahren - manche bis zum Ende ihrer Existenz nicht, weil sie ihrem Geschmack immer dieses Bild gezeigt haben - , so wie wir beim Menschen eventuell nie sein Sein erfahren, wenn wir ihn nur nach dem Aussehen beurteilen. Und ich meine da nicht nur die Hautfarbe.

Der Lehrer, der Apotheker, der Unternehmer, der Doktor in Freizeitkleidung? Zu meiner Zeit unmöglich.Vielleicht im Urlaub, wo sie niemand kannte.
Anders beim Handwerker, beim Arbeiter, die schlüpften nur zu besonderen Anlässen in so eine Kleidung, bei Feierlichkeiten und am Sonntag. Natürlich in der Kirche.

Die äußere Schale zeigte also nicht den Kern der sich darin verbarg.Was allerdings auch ziemlich bewußt war, denn als Kind sagte meine Mutter, wenn sie mit mir zum Einkaufen gehen wollte: Zieh deine gute Hose an, wir gehen in die Stadt. Ein bißchen mogeln war also erlaubt.

Anders ausgedrückt: Man unterschied und beurteilte die Menschen noch alleine vom Äußeren.

Derlei Bilder habe ich auch immer wieder bei Walter Kempowski vor Augen, wenn ich die Berichte von seiner Haft und jetzt aus der Zeit danach lese.
"So möchte er das auch mal machen, später. Wie`n Dussel aussehen und doch die größte Koryphae sein".
Im Knast sah er so aus und keiner akzeptierte ihn wirklich,aber wenn er wieder draußen wäre, dann würden die Menschen ihn, den Sohn eines bekannten Reeders natürlich gleich wieder entsprechend aufnehmen. Die "gute" Kleidung von damals trug er später manchmal noch in der Haft, und er erinnerte sich ja auch noch, wie er früher mit seinem Vater morgens die Post geholt hatte. Die Menschen erkannten und achteten ihn.Stets "korrekt" gekleidet. Und auch für seinen Bruder ist es selbstverständlich, später wieder etwas standesgemäßes auszuüben.

"Er überlege grade, ob wir nicht doch in Rostock blieben, das Geschäft sausen ließen und dafür eine Bar aufmachten, grundsolide, mit Schiffsmodellen unter der Decke und ausgestopften Krokodilen."

Mit der Zeit lernte er jedoch, die Mitgefangenen, die Menschen nicht nur nach dem Äußeren zu beurteilen.Nicht nach dem Aussehen und auch nicht nach dem, wie sie sich gaben, weil jeder damit nur sein eigenes Dasein, sein Leben sichern wollte.

Und so sind auch all seine Gedanken natürlich nur Mittel, um die Zeit dort in Bautzen zu überstehen. Nachdenken über das Draußen vorher und nachher. Und mit diesen Planspielchen richtet er sich unbewußt im Gefängnis ein, muß er sich dort einrichten, um zu überleben. Genauso, wie man es im Krieg gemacht hat. Nach dem Bombenangriff ging man wieder den täglichen Notwendigkeiten nach, räumte auf, besorgte Dinge zum Leben, ging Brötchen holen, machte einen Spaziergang durch die kaputten Straßen. Man lebte den Alltag so gut es ging einfach weiter, um die im Jetzt schrecklichen Ereignisse zu überspielen. Auch im Gefängnis versuchte man nach dem Verhör seine Armseligkeiten in Ordnung zu bringen, führte Gespräche und Diskussionen mit anderen Insassen, ging in den Gängen spazieren. Alles mitmachen, alles ertragen, um fit zu sein für das Danach. So tun, als ob alles "normal" wäre. Es ist nun mal so, also lebe ich es.
Nur so kann sich der Mensch gegen die eigene Nichtung wehren. Es tritt eine Gewöhnung der Situation ein und er verliert allmählich die Angst, weil man nicht dauernd Angst haben kann, weil er dazu die Energie nicht aufbringen kann.

Wobei man auch unterscheiden muß: Im Krieg hatte man Furcht vor den Bomben, hier im Gefängnis mußte man meistens die Angst überwinden, denn Furcht ist immer die Furcht vor den Dingen in der Welt, Angst ist Furcht vor uns selbst, vor unserer Freiheit sich richtig oder falsch verhalten zu können.

Irgendwann war Walter wieder frei und mußte eine weitere schmerzliche Erfahrung machen: Die draußen konnten sich das "Leben" in Bautzen nicht vorstellen, es existierte nicht, die in Bautzen konnten sich das Leben draußen, das aktuelle nicht mehr vorstellen, nur das vergangene. Sie fühlten sich auch nicht wirklich unfrei, weil sie nur noch im Gedächtnis der da draußen existierten und nicht mehr auf das Jetzt blicken konnten.
Für die außerhalb von Bautzen waren sie eigentlich tot und bei ihrer Entlassung drangen sie plötzlich wieder in das Leben der anderen ein.

 Man lebt oder ist tot. Aber das eine gehört nicht zum anderen. Die Entlassenen wurden quasi zum zweiten Mal  in die Welt "geworfen", zum zweiten Mal geboren. Behördlich und gedanklich neu erstellt.


Eine neue Essenz. 

Erst kommt die Existenz, dann die Essenz. (Sartre)




 

 

 

 

 

Alles umsonst   

Ostpreußen im Januar 1945: Hunderttausende Menschen fliehen vor den Russen in Richtung Westen. Doch die schöne Katharina von Globig, Herrin auf Gut Georgenhof, verschließt vor der Realität die Augen. Sie zieht sich in ihr Refugium aus Büchern, Musik und Träumen zurück. Als der Dorfpastor sie bittet, für eine Nacht einen Verfolgten zu verstecken, willigt sie ein. Kurze Zeit später wird der Mann aufgegriffen, Katharina wird verhaftet. Die trügerische Idylle ist dahin. Mit Sack und Pack macht sich der Rest der Familie auf den Weg. Die große Flucht wird zu einem Albtraum.

 

 

 

Mein Einwurf

1945, die Idylle auf einem kleinen Gutshof, abseits der großen Städte, abseits der großen Politik. Das Leben war anders, aber jeder versuchte, den ganz gewöhnlichen Alltag, den es eigentlich gar nicht mehr gab, zu spielen. Und doch lag irgendetwas in der Luft, das jeder verdrängte.

Der Satz, den Peter, der Sohn, als Tischspruch von sich gab, sagt es ganz genau: " Es ißt der Mensch, es frißt das Pferd, doch heute ist es umgekehrt."
Ja, es war alles anders, das "Normale" hatte keine Gültigkeit mehr. Oder anders ausgedrückt: "Es ist alles nicht so einfach", wie das Tantchen immer sagte.

Und vor allen Dingen wußte keiner was geschehen würde, wie es weiter gehen würde, keiner wußte, was im Augenblick war. Alles ungewiß. Deshalb steht hinter fast jedem Satz ein Fragezeichen. Wer kannte sich denn noch aus, wem war denn noch klar, was richtig oder falsch war?

Katharina, die Frau mit der weißen Persianermütze, die Unschuldige im schwarzen Gewand. Die Unschuld in der Nacht, in der Heimlichkeit.
Erst der Jude für eine Nacht, dann der Flüchtlingsstrom. Der Baron fand Unterschlupf im "Georgenhof", die anderen zogen weiter.
Drygalski. Nur als nettes Mädchen hatte man auch bei einem Nazi eine Chance. Es war alles nicht so einfach.

Gibt es für Flüchtlinge heute auch einen Georgenhof ? Wahrscheinlich das "Waldschlößchen".
Und die, die heute über Flüchtlinge schimpfen und klagen, also die Flüchtlinge von damals? Vielleicht von irgendeinem Georgenhof ? Jetzt, wo alles vorüber ist ?

"Sie fragten die vielen Leute, ob sie was brauchten und ob alles in Ordnung ist. Ein ziemliches Durcheinander herrschte auf dem Platz, aber sie schafften das schon, sie würden das hinkriegen. Die Leute waren im großen und ganzen vernünftig. Meckereien hielten sich in Grenzen."
Wir schaffen das, noch immer, die Flüchtlinge von damals, aber die Meckereien überschreiten heute alle Grenzen, ganz ohne Vernunft.
Jetzt ist es unser eigenes Reich. "Aber aufräumen mußt du mal, wie sieht es denn hier aus?" Ja, es mußte dringend aufgeräumt werden, damals. Alles zerstört, kaputt, tot. Und heute, wie sieht es da in unserem Reich, in unserem Bewußtsein aus ? Jedes Mitgefühl, jedes Denken zerstört, kaputt, tot?

Der letzte Satz: " War nun alles gut ?"
Oder war alles umsonst gewesen ? Wir geben heute selbst die Antwort.

 


 

 

 

 

 

 

Somnia 

Tagebuch 1991

 

Seine Tagebücher – so auch Somnia – sind der literarische Ort seines individuellen Gedächtnisses und gewähren einen faszinierenden Einblick in das Seelenleben eines der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Gegenwartsliteratur.

(Text hinten auf dem Buch)

 

Über Kempowski

„Wenn die Welt noch Augen hat, zu sehen, wird sie, um es in einem Wort zu sagen, in ‚Echolot‘ eine der größten Leistungen der Literatur unseres Jahrhunderts erblicken. Wenn sie im Begriff sein wird, ihr Gedächtnis und ihre Geschichte endgültig zu verlieren, wird sie sich auf dieses Werk besinnen und damit wieder Gerechtigkeit herstellen können. Denn keine Klasse der heutigen Gesellschaft, so hat ein Historiker geschrieben, unterdrücken wir so rücksichtslos wie die Toten. Morgen, so hat er hinzugefügt, sind wir die Toten, dann sind unsere Zukunftsträume nichts weiter als alte Geschichten.“

– Frank Schirrmacher, 13. November 1993

(F.Schrirrmacher 1959-2014:Journalist, Essayist, Buchautor und von 1994 bis zu seinem Tod Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.)

 

Mein Einwurf

Ich bin immer wieder überrascht, was 1991 so alles geschehen ist und wie lange so manche Dinge schon wieder zurückliegen. Da reflektiert man unwillkürlich die eigene Vergangenheit und überlegt, wo und wie man diese Ereignisse damals erlebt hat. Würde man es aufschreiben, käme ein eigenes Tagebuch zustande und man würde sehen, wie unterschiedlich dieses oder jenes Ereignis auf- und wahrgenommen worden ist und wie man heute darüber denkt. So ist die Wahrnehmung und Beurteilung von Kempowski eben nur selbige eines einzelnen Menschen und würde in keinem anderen Tagebuch genauso erscheinen. Ganz zu schweigen von dem Zustand in dem der Autor sich befunden hat,welcher ja von Tag zu Tag auch noch extremer wird.

Somnia ist ja in der römischen Mythologie die Personifikation der Träume. Und ein Tagebuch beinhaltet doch unter anderem auch immer Träume, wobei jeweils erst die Zukunft zeigt, was aus ihnen geworden ist. Ähnlich einem Poesiealbum erinnert es an Menschen, mit denen wir unseren Lebensweg oder wenigstens Abschnitte davon geteilt haben.

Auch bei Kempowski fließen ja ab und zu Sprüche oder kleine Gedichte in die Aufzeichnungen ein und Widmungen sowie kleine Zeichnungen erinnern oft an ein Poesiealbum. Er spricht ja selber von Einträgen in mein Album.
 Das Tagebuch ist also nicht mehr und nicht weniger als das Leben, das eigene Leben vor dem Hintergrund der Welt.


 

 

Somnia:

27.Januar 1991

...Nun hat Saddam H. „unkonventionelle“ Mittel angedroht, nein: angekündigt.

Schwappende Ölsee im Golf, flügelschlagende, halbtote Kormorane sind zu sehen....

In der SU das nahende Chaos. Es ist, als ob sich Europa als Kartenhaus erweist. Wir sollten zu Haus bleiben und die Luft anhalten. Uns einfach still verhalten.



Helmut Pohl :

21.Juli 2017

Der Konflikt mit der Türkei nimmt zu. Verschärfte Reiseempfehlungen. Wie wird Erdogan reagieren ?

In den USA gerät Trump immer mehr in Bedrängnis.

EU in Konflikt mit Polen. 

Das Hamburger G20 Treffen und die Krawalle sind auch noch immer im Gespräch. Folgen vermutlich keine. Wahlkampf. Merkel sagt wie immer lieber nichts. 

Gabriel versucht die internationale Lage zu nutzen.Er verhält sich als Außenminister besser als auch ich erwartet hatte. 

 

Somnia:

16.Februar 1991

Warneke (Lothar Warneke (1936–2005), deutscher Filmregisseur und Drehbuchautor) erzählte, daß vor seinem Haus in Klein-Machnow ein schwarzer Mercedes vorgefahren sei. Und aus dem Autofenster heraus  habe einer das Haus fotografiert.....

Nicht einmal der Ansatzt eines Unrechts-oder Rechtsbewußtseins- wie man`s nimmt – ist vorhanden....Mancher ist eben „im Düsenjäger durch die Kinderstube geflitzt“,....

 


Helmut Pohl :

2017

Was wird heute nicht alles photographiert. Unrechts-Rechtsbewußtsein ? Datenschutz nennt man das jetzt. Und der interessiert auch nicht mehr. Moderne Düsenjäger sind überschallschnell und flitzen auf dem Rechner durch die Kinderstube.

 

Somnia:

24.März 1991

Peter Schreier gibt auf die Frage, was er sein möchte, an: manchmal eine Frau (FAZ)

 

„Ich hatte selbst oft grillenhafte Stunden,

doch solchen Trieb hab ich noch nie empfunden.“

(Goethe)

 


Helmut Pohl :

2017

Bleibt die Frage, ob vom Körper oder von den Gedanken, vom Bewußtsein.

Der Bundestag hat inzwischen die Ehe für alle beschlossen.

 

Somnia:

16.Juni 1991

TV: Film von Vesper über Frohburg.

 

Helmut Pohl :

24.Okt. 2016

Bei einer Autorenlesung an der Uni Paderborn habe ich Guntram Vesper kennengelernt. Er las aus „Frohburg“

Da höre ich immer wieder: ein großartiges Prosawerk neben den Büchern von Walter Kempowski....
Nun, daß man Kempowski wohl noch immer nicht verstanden hat oder verstehen will, scheint mir inzwischen klar, aber warum wird dieser Vesper mit seinem Wälzer so hochgelobt?

Diese tausend Seiten seien keine Biographie, darum ginge es ihm nicht, er wolle seine persönliche Geschichte mit der Geschichte verbinden. Dabei landet er für mich viel zu viel im Detail, um dann wieder nebenbei von unzähligen anderen Dingen zu berichten.

Machen wir es kurz: Manchmal ist weniger mehr. Von toller Sprache und Erzählweise keine Spur. Und der Vergleich mit Kempowski....

 

Somnia:

13.August 1991

30 Jahre her, der Mauerbau.

....Jetzt isse weg.Kann mich gar nicht mehr erinnern.

 

Helmut Pohl :

13.August 2017

Jedenfalls habe ich vieles noch direkt vor Augen, war in dem Moment als Kind zufällig an der Grenze. Ferien im Landschulheim, wie das damals hieß, in Braunlage.

Allerdings ist meine Erinnerung in vielen Dingen anders als bei Kempowski. Aber da muß man wohl seine Haftzeit berücksichtigen, die seine Urteilsfähigkeit beeinflußt, beziehungsweise verändert hat.

Bau der Mauer: 13.August 1961

Fall der Mauer: 9. November 1989

Deutsche Einheit: 3.Oktober 1990

 

Somnia:

19.Dezember 1991

Ein Fotograf aus Leipzig zur Wiedervereinigung:

Ich finde es ein bißchen schade, daß die, die das angeschoben haben, wieder die Verlierer sind, die ganz Aktiven, die sich getraut haben, was zu sagen. Die anderen haben doch nur in den Löchern gesessen, und als alles klar war, kamen sie dann erst raus.Und dann hat die CDU das abkassiert.

 

Helmut Pohl :

2017

Macht sie es heute nicht noch genauso ? Ist das nicht die Art und Weise, wie sie Politik betreibt, wie sie Machterhalt betreibt ?

Damals haben es Scheel und Brand angeschoben und Kohl später abkassiert.

Heute heftet sich Merkel die Erfolge des Koalitionspartners an die Brust.

Machterhalt durch Übernahme.

 

Somnia:

1.Oktober 1991

Wie die Atomrüsterei rückgängig gemacht werden kann eines Tages, das ist wohl niemandem klar.

 

Helmut Pohl :

August 2017

Atomkonflikt zwischen Nordkorea und den USA. Zwischen Kim Jong Un und Trump.

Atomrüsterei auf der ganzen Welt.

 

Letzter Eintrag Somnia:

21.Dezember 1991

 

Schlaganfall

 

 

 

 

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