Pamuk Orhan

 

Orhan Pamuk

* 07.Juni 1952 in Istanbul


Nach der Grundschule besuchte Pamuk das englischsprachige Robert College. Früh setzte er sich intensiv mit der Malerei auseinander und hatte bereits als Jugendlicher den Wunsch, Künstler zu werden. Dennoch begann er – wie schon der Großvater und der Vater – an der Technischen Universität Istanbul ein Architekturstudium. Er brach das Studium nach einigen Jahren ab, beschloss die Malerei aufzugeben und Schriftsteller zu werden. Auch um dem Militärdienst zu entgehen, wechselte er an die Universität Istanbul und erwarb 1977 einen universitären Abschluss als Journalist. 

 

Auszeichnungen unter anderem:


2005: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels

2006: Literatur-Nobelpreis 

 

 

 

Schnee

(2005)

Ein Fremder kommt nach Kars, in die türkische Provinzstadt, die einmal zu Rußland gehört hat und dann von der Zeit vergessen wurde. Ka, so nennt er sich, soll im Auftrag einer Istanbuler Zeitung  eine merkwürdige Serie von Selbstmorden untersuchen : Junge Mädchen haben sich umgebracht, weil man sie zwang, das Kopftuch abzulegen. Insgeheim aber will  er vor allem Ipek wiedersehen, die schöne Freundin   aus Studienzeiten. Kaum hat er sich im Hotel  Schneepalast einquartiert, wollen ihn, den „Westler“, der lange im Exil in Deutschland gelebt hat, alle möglichen Leute für sich gewinnen  : Serdar Bey, Besitzer einer Zeitung, die Nachrichten bringt, noch bevor sie passiert sind, der Polizeipräsident, Ipeks Exmann, der für das Amt des Bürgermeisters kandidiert, junge Heißsporne aus der Vorbeter- und Predigerschule, schließlich auch ein charismatischer im Untergrund agierender Sprecher der Islamisten, der, wie sich herausstellt, der Geliebte von Ipeks Schwester ist. Und an dem Abend, als Ka vor einer größeren Öffentlichkeit auftritt, kommt es zu einem Putsch, inszeniert von einem Schauspieler, so daß alle zunächst an einen Theatercoup glauben. Doch es intervenieren echte  Soldaten, es fließt echtes Blut , und keiner kann die Stadt verlassen, weil es seit Tagen unaufhörlich schneit…

 

 

Mein Einwurf  (1)

Hier hat es im letzten Winter fast nicht geschneit, und auch die Kälte hat sich in Grenzen gehalten, aber es ist das Gefühl, was Schnee und Kälte in uns erzeugen, sie grenzen uns ein, sie isolieren uns, sie lassen uns erstarren.

In der Türkei scheint dieser Zustand der Alltag zu sein.Wer aus dem Westen hineinschaut – und mehr ist uns überhaupt nicht möglich – erlebt ein in viele Richtungen gespaltenes, fast zerrissenes Volk, welches zwar versucht,den Anschein einer geschlossenen Gesellschaft zu erwecken, aber in Wirklichkeit gibt es nicht das türkische Volk, nicht den Türken .Beide suchen verzweifelt nach ihrer Identität, nein, es ist mehr als ein Suchen, es ist ein Kampf, der zu keinem Ende, zu keinem Ergebnis kommt, weil ihn die Geschichte immer wieder einholt und weil auch ihre Religion gespalten ist.Jeder nimmt sich jeweils die Passage, die für ihn zum Vorteil ist,und er instrumentalisiert den Islam damit. Jeder strickt sich seinen eigenen Allah und macht die Religion damit zur Beliebigkeit.

Der Islam und das Christentum, ein Gegensatz ? Wie ist das mit dem kleinen Zimmer in Frankfurt und der oft primitiven Behausung im Inneren der Türkei ? Ist die Welt in Frankfurt oder  Berlin nicht auch eine andere, als die irgendwo auf dem Land ? Genauso, wie in Istanbul und Kars ? Die Einsamkeit in den großen Städten,und die vermeintliche Gemeinschaft in den Dörfern.

Und noch ein Punkt muß an dieser Stelle genannt werden: Wenn alle Wege zugeschneit sind und keiner mehr eine Lösung anbieten kann,versucht man, die Kunst als neutralen Schlichter zu installieren und jede Seite mißbraucht sie für ihre Zwecke.

Der Konflikt ist keiner zwischen Türkei und Westen,auch und schon gar nicht einer zwischen Islam und Christentum.

Der wirkliche Konflikt auf dieser Welt ist der zwischen Religion und Logik.

Wenn der Schnee, der wie die Religionen auf uns herabrieselt 

und zusammen mit der daraus entstehenden Kälte das Denken der Menschen erstarren läßt,

eines Tages tauen sollte, werden endlich auch die Straßen in die Freiheit passierbar werden.


 

 

 

Mein Einwurf  (2)

Um ein System - gleichbedeutend mit Staat, Kultur, Beziehung - zu beurteilen oder zu kritisieren, egal ob positiv oder negativ, genügt es nicht, die Dinge von mir aus zu betrachten und ein Urteil zu fällen, sondern, ich muß dieses Gebilde - man behandle diesen Ausdruck bitte als Neutrum - aus sich selber her sehen und beurteilen und mein Urteil, bzw. meine Kritik aus dem System selber her formulieren.

Ich habe das damals immer an der alten DDR versucht klarzumachen. Mein Besuch in Ostberlin im Rahmen meines Studiums im Haus des Lehrers - so nannte man es dort - hat mich zu dem Verständnis gebracht, daß man fremde Kulturen, Systeme und alles, was einem fremd ist, nur aus ihnen selbst beurteilen und kritisieren kann und darf, wenn man eine Chance haben will, mit den Leuten auf gleicher Ebene diskutieren zu wollen und damit auch seine eigene Meinung rüberzubringen und eventuell auch überzeugen zu können. Ganz nebenbei ist dies auch die einzige Möglichkeit in der Erziehung von Kindern. Auch hier muß man sich ja in die Situation der Kinder und ihr Denken versetzen.

Was ich meine: natürlich ist uns die Kultur des Islam, die Kultur des türkischen Staates und damit auch das Denken dieser Menschen fremd, genauso, wie uns das kindliche Denken inzwischen leider oft fremd ist, aber Verstehen ist nur möglich, wenn ich mich hineindenke in all diese Dinge, versuche, sie aus sich selber zu erfassen. So und nur so kann ich Menschen überhaupt begreifen. Wie könnte ich Dich, wie Du mich verstehen, wenn ich, wir uns nicht in unser jeweiliges Denken versuchen würden hineinzuversetzen? Ein Beurteilen allein aus unserem Denken führt immer zu etwas Negativem. Etwas mir nicht Geläufiges kann ich also nur beurteilen, verstehen und damit auch, wenn ich will, kritisieren, wenn ich mich in sein Inneres begebe. 

Dies beginnt bei einem einzelnen Menschen und endet bei allen Dingen vor dem Hintergrund der Welt. 



 

 

 

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