Reich Ranicki Marcel

 

Marcel Reich-Ranicki

*02. Juni 1920 Wloclawek 

(deutsch auch Leslau,von 1939-1945) polnische Stadt in der Woiwodschaft Kugawien-Pommern

† 18.Sept. 2013 Frankfurt/Main

 

Auszeichnungen unter anderem:

Thomas-Mann-Preis (1987)

Goethepreis der Stadt Frankfurt (2002)

Rede des Jahres (vergeben vom Seminar für Allgemeine Rhetorik der Eberhard Karls Universität Tübingen) 2012 zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, gehalten am 27. Januar im Deutschen Bundestag

 

 

 

Die besten deutschen Gedichte

„Gedichte können die Zeit besser überstehen als die prächtigsten Tempel und Paläste“,

sagt Marcel Reich-Ranicki.

Dieser Band versammelt die für den Literaturkritiker wichtigsten und

schönsten Gedichte vom 12. bis zum 21. Jahrhundert:

Gedichte von Liebe und Vergänglichkeit, die heute noch leuchten wie am ersten Tag.

 

Mein Einwurf

Da hat mich gleich das Vorwort von Marcel Reich-Ranicki nachdenklich gemacht.
Er spricht dort einmal von Dichtung und dann wieder von Poesie und beides vermischt sich anschließend etwas, wogegen für mich Dichtung mehr eine Art Dachbegriff für die Künste ist, während Poesie sich mit den literarischen Gattungen beschäftigt.
Außerdem redet er von der Vergänglichkeit, um auszudrücken, daß Gedichte dieser genau entgegenwirken, eben nicht vergänglich sind. In diesem Punkt bin ich mit ihm einig, obwohl ich finde, es ist zu kurz gegriffen, dies nur oder auch nur im besonderen Maße den Gedichten zuzuordnen, da es genauso für andere Gattungen gelten kann und außerdem auch für Lieder oder Malerei. Alleine schon deshalb möchte ich den Begriff Dichtung so weit ausweiten.

Am Ende bezeichnet er dann die Gedichte als ein Spiel, ohne jedoch genau zu sagen, was er unter Spiel versteht und meint dann, dichten -hier wieder die Vermischung, die zur Eindeutigkeit nicht beiträgt- bedeute ordnen. Dann behauptet er, die Dichter würden "von unser aller Leiden" sprechen und die Poesie widersetzt sich der Vergänglichkeit und ist "auch Lebensbejahung". Insofern, so scheint mir, also doch keine Ordnung und Spiel wäre mir etwas abwertend.
Bedeutet dichten nicht zuallererst etwas festzuhalten und dann daraus Fragen zu stellen? Vielleicht meint er mit ordnen dieses Festhalten, aber die Vergänglichkeit besiegen kann ich doch nur mit Fragen, die die Zukunft betreffen. Wenn ich aber mit diesen Dingen spiele, kann ich keine ernsthaften Antworten erwarten.
 Und wenn außerdem, wie MRR behauptet, die Poesie bewirkt, daß "der Mensch zum Augenblicke sagt: Verweile doch, du bist so schön.", so kann dies nur eine von vielen kleinen Wirkungen sein, denn sonst würde sie ganz schnell wieder von der Vergänglichkeit überrollt.

 

Also, mit dem Vorwort habe ich so meine Schwierigkeiten, obwohl es viele Denkanstöße liefert, aber die vielen wunderbaren Gedichte anschließend sind eine Fundgrube, wie ich sie noch nie in den Händen gehalten habe. 

Schon die ersten mittelalterlichen haben gerade in ihrer Originalfassung einen ganz besonderen Reiz, weil sie eben nicht immer eindeutig sind, da manche Dinge nur schwer oder fast gar nicht in unsere Sprache und vor allem in unser Denken zu übersetzen sind. Der damalige Hintergrund war eben ein anderer. Aber genau diesen sollten wir uns beim Lesen stets vor Augen führen und sehen, ob sich aus den daraus ergebenen Fragen bis heute Antworten gefunden haben oder ob die Fragen auch heute noch im Raum stehen. Wir reden immer von den großen Entwicklungen, Weiterentwicklungen, die es in technischer Hinsicht ohne Zweifel gegeben hat, aber finden wir sie auch im geistigen Bereich? Hat sich unser Bewußtsein tatsächlich entscheident verändert? Oder stellen wir noch immer dieselben Fragen, müssen wir noch immer dieselben Fragen stellen ?


 


 

 

 

 

 

Dû bist mîn

 

Mein Einwurf

Gleich das erste Stück aus dem Mittelalter hat mich auf meine Art gefangengenommen.

Und diesen Ausdruck wähle ich hier bewußt.

Dû bist mîn, ich bin dîn.
des solt dû gewis sîn.
dû bist beslozzen
in mînem herzen,
verlorn ist das sluzzelîn:
dû muost ouch immêr darinne sîn.


Soweit das Gedicht von einem unbekannten Autor oder einer Autorin, was zunächt gleichgültig ist.

Bei der Suche nach einer Übersetzung bin ich dann immer wieder auf den Hinweis gestoßen, daß es sich um ein Liebesgedicht handele. Und dem wage ich zu widersprechen.
 Für mich beschreibt dieses Gedicht eine ganz andere Art der Liebe, nämlich das Gegenteil, die Unfreiheit, die erzwungene Liebe.Der erste Satz macht dies überdeutlich. Du bist mein, ich bin dein. Hier wird jemand vereinnahmt, denn ein wirklich Liebender würde es genau andersherum formulieren. Und genau diese Tendenz wird konsequent weiterverfolgt. Du kannst ganz sicher sein, daß du eingeschlossen bist und nicht mehr herauskommst, und der Schlüssel ist auch für alle Zeit verloren, und du mußt, ob du willst oder nicht, drinnen bleiben. Das alles hat mit Liebe nichts gemein. Hier spielt jemand seine Macht aus, was noch äußerlich dadurch verstärkt wird, daß die beiden mittleren Zeilen von den beiden ersten und den letzten eingeschlossen werden. . Auch sie haben keine Chance der Selbstständigkeit, der Freiheit, und Liebe erfordert Freiheit, die aber gibt es in dem ganzen Gedicht nicht. 


Beschrieben wird wohl eher eine Abhängigkeit, wie sie gerade im Mittelalter zum Alltag gehörte. Was mich dann noch auf einen anderen Gedanken bringt:

Das Gedicht wurde eventuell von einer Nonne im Kloster geschrieben: Sie darf das "Du" nicht lieben und damit sie nicht in Versuchung kommt, schließt sie es ein und wirft den Schlüssel weg. Zudem auch noch ein Schlüssilein, also ein Diminutiv.Der Schlüssel ist ganz klein, womit man ihn noch schwerer wiederfindet.Eine weltliche Liebe der Nonne ist ausgeschlossen, da sie Gott liebt und von ihm geliebt wird. Somit wird eine ihr vielleicht angetragene Liebe konsequent für alle Zeit verschlossen. Sie ist nicht vernichtet, aber sie kann ihr nichts mehr anhaben, da keiner den kleinen Schlüssel mehr finden kann. 

Du must auch immer da drinne sein, die Betonung liegt auf „must“. Und am Anfang, Du sollst gewiß sein, daß Du mein und ich dein bin, das kann ich dir sagen, aber du bist eingeschlossen und ich habe keine Möglichkeit an dich heranzukommen, dich zu befreien.

 

1. Version:   Ein Liebesgedicht

2. Version:   Genau das Gegenteil,

3. Version:   Das Gedicht wurde eventuell von einer Nonne im Kloster geschrieben:

Diese 3. Version ist auch möglich, wenn die Nonne im Kloster sich nicht als wahr erweisen würde und erklärt so die Drehung in der ersten Zeile und das sollen und müssen, sowie den Diminutiv.Auch das äußere Bild, die beiden mittleren Zeilen sind eingeschlossen von den ersten und letzten. Auch sie haben keine Chance der Selbstständigkeit, der Freiheit, und Liebe erfordert Freiheit, die aber gibt es in dem ganzen Gedicht nicht.


 

 

 

Joachim Ringelnatz

*07.August 1883 in Wurzen

+17.November 1934 in Berlin

 

"Wir Menschen haben keinen
Schlüssel
zu den tiefsten Ursachen der Dinge,
höchstens unvollkommene Dietriche."

 

 

 

 

 

 

Der doppelte Boden

 

Ein Gespräch über Literatur und Kritik 

mit Peter von Matt

 

In den Gesprächen geht es um Fragen wie diese: Welche Aufgaben, welche Bedeutung hat Literaturkritik ? Wie ist es um das Verhältnis zwischen Literaturwissenschaft und Literaturkritik bestellt ? Die Werke welcher Autorinnen und Autoren sollten wir alle lesen und warum ?

 

Mein Einwurf

Marcel Reich-Ranicki plaudert unter anderem auch über seine Erfahrungen im Leben und von denen in und mit der Literatur.

Ja, manchmal wird man sagen, was reden denn die, was redet denn der da für einen Unsinn mit seinen Erfahrungen. Selbige sind sicher wichtig, aber nicht die Folgerungen die er daraus zieht. Aber ist es nicht ziemlich uninteressant, was ich daraus herleite ? Ich habe diese Erfahrungen auch für andere gemacht und es ist ihre Sache, wie sie sie verwenden. Dieser Gedanke kam mir bei der Lektüre von "Der doppelte Boden". Marcel Reich -Ranicki sagt dort an einer Stelle, wo er auf ein Gespräch mit Anna Seghers über "Das siebte Kreuz" zu sprechen kommt: "Was sie da redet, schien mir banal und zum Teil sogar falsch." Übrigens ein Gefühl, das mich bei einigen Lesungen an der Uni auch oft befallen hat, wenn ich die Antworten der Autoren hörte. Dann jedoch Marcel Reich-Ranicki weiter: " Bis ich mir dann dachte, dass es völlig belanglos ist, was sie redet, sie hat diesen großen, wunderbaren Roman geschrieben."

Und genauso belanglos ist es doch, was man über unsere Erfahrungen redet. Wir haben diese "wunderbaren" Erfahrungen gemacht. Wenn dem aber so ist, dann sind wir gerade an einem Punkt angekommen, wo sich Literatur und Leben treffen. Es geht eben nicht nur um die Geschichten, die wir jedesmal so gerne und schnell deuten wollen, es geht - und ich sage es mal wieder - um unsere Geschichten, die uns die Literatur zeigen will. Unsere "Geschichten" die uns die Literatur vielleicht manchmal auch besser verstehen läßt. Nicht der Autor will uns etwas zeigen, sondern die Geschichte. Und genauso verstehe ich auch Brecht, der in seinem epischen Theater vom Zeigen spricht, denn auch dort werden Erfahrungen gezeigt. Und auch sie führen wieder zu neuen Überlegungen, zu neuen Erfahrungen. Da haben wir also auf der einen Seite die wunderbaren Romane und Geschichten und andererseits die wunderbaren Gedanken und Erfahrungen.

Martin Buber – jüdischer Religionsphilosoph : „Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch"

Passender könnte das Gespräch zwischen Marcel Reich-Ranicki und Peter von Matt nicht überschrieben werden. Reich-Ranicki will auch in seinen Kritiken nicht belehren, er will ein Gespräch führen, mit den Autoren, den Kritikern, den Verlegern, den Lesern, mit der Literatur.

Gleich am Anfang, als Peter von Matt nach der Korruption oder den Korruptionsversuchen fragt, erfährt man etwas darüber, wie der Literaturbetrieb funktioniert.Da fällt mir gleich Marlene Streeruwitz (Autorenlesungen, Uni Paderborn,  2015) ein, die sich bei der Diskussion nach ihrer Lesung - aber teilweise auch während der Lesung - sehr darüber beklagte, daß sie zwar immer mal wieder mit ihren Büchern auf der Short-bzw.Longlist zum Deutschen Buchpreis landete, ihn aber nie erhalten habe. Sie nutzte bei ihren Antworten fast jeden zweiten Satz, um sich über die Regeln und Verfahren und über gewisse Dinge zu beschweren, wodurch sie angeblich absichtlich vom Preis ferngehalten würde. Kritiker und Verleger machte sie dafür verantwortlich. Daß der Grund auch bei ihr liegen könnte, darauf kam sie nicht. Marcel Reich-Ranicki beschreibt es unter anderem am Beispiel von Peter Handke, der ja inzwischen sogar den Literaturnobelpreis bekommen hat. Was hätte Reich-Ranicki wohl dazu gesagt ? Oder anders herum, was hätte Handke zu Reich-Ranicki gesagt ?

Marcel Reich-Ranicki: „Der Autor sucht nie die Schuld bei sich selber, sondern immer nur beim Kritiker, dem er Perfidie, Dummheit oder eben Willkür vorwirft."

Man kann dieses Buch, dieses Gespräch nicht wie einen Roman einfach lesen, sondern muß nach einzelnen Fragen und Antworten einhalten, um nach eigenen Antworten zu suchen oder über vorhandene nachzudenken, sie an die Oberfläche kommen lassen.

So wie beim Lesen eines Romans, eines Gedichts, eines Dramas jeweils neue Geschichten beim Lesen entstehen sollten, ergeben sich beim Lesen dieses Gesprächs neue Antworten, veränderte Antworten, auch Bestätigungen von Antworten und vielleicht auch entsprechende Fragen.

Dann ist gute Literatur, egal in welcher Form, auch gleichzeitig spannend und unterhaltend und verliert sich dennoch nicht im Tal der Trivialität.

Geanu da kommt der "doppelte Boden" zum Vorschein.

Marcel Reich-Ranicki drückt es so aus:

„Die meisten Leser nehmen nur Kenntnis von dem, was sich auf Anhieb wahrnehmen lässt, sie ahnen nicht, dass in der Novelle oder im Gedicht noch etwas enthalten ist, ein zweiter, über das unmittelbar Erkennbare hinausgehender Inhalt.“

Aber was auch immer in diesem doppelten Boden verborgen sein mag, in einem bin ich mir mit Reich-Ranicki einig:

„Der Gegenstand Buch bleibt,davon bin ich überzeugt.“

 


 

 

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