Kür Pinar

 

Pinar Kür

*15. April 1943 in Bursa / Türkei


Werk unter anderem :

2006 : Ein verrückter Baum

 


Auszeichnung:

1984: Sait-Faik-Literaturpreis

 

 

       Ein verrückter Baum          

 

Erzählungen

Reihe türkische Literatur

Die fünf Geschichten im Band „Ein verrückter Baum“ sind keine beliebig erzählten „Storys“ aus Istambul, die man als einfache Unterhaltung lesen sollte,denn sie werden von etwas Latentem und Wesentlichem getragen, das die Grenzen der Literatur und also dieser Erzählungen übersteigt.

Es eröffnet sich nicht auf den ersten Blick, daß alle Geschichten im gleichen Haus spielen. Dieses alte, ungewöhnliche, tapfer verfallende Haus  ist lediglich eine passive Kulisse, die dem Leben seiner Bewohner einen gut erkennbaren, äußeren Rahmen liefert-es bildet aber nicht dessen Grundlagen.

 

 

Mein Einwurf

Wie oft habe ich schon von dem Baum erzählt, der vor meinem Balkon steht. Von der Taube, die dort nun schon im zweiten Jahr ihre Eier in ihrem Nest legt, aus dem schon vier junge Lebewesen hinaus in die Natur geflogen sind. Davon, daß die Äste sich unter der Decke meines Balkons zu mir zwängen, bei jedem Sturm, davon, daß er mich dichtbeblättert jeden Sommer vor der Sonne schützt und den Regen von mir abhält, wie er im Winter nackt vor mir steht, den Schnee auffängt und im Frühling gleich wieder seine Arme nach oben streckt, sich dehnt und im Sommer wieder etwas höher in Richtung Himmel gewachsen ist und den Wettstreit mit dem kleinen Baum auf meinem Balkon erneut gewonnen hat.

Und zwischendurch erzähl ich von den neuen Generationen die bei mir in der Familie dazugekommen sind, wie sich meine Verwandschaft erneut verästelt hat, ohne daß ich, was über meinem Kopf geschehen ist, verstanden habe, wie ich trotzdem immer wieder versuche, dem ein Stückchen näher zu kommen, was wir Freiheit nennen. Ja, es gibt Rückschläge, es gibt Fragen und es kommt auch der Augenblick, wo es eigentlich unmöglich ist, dieses Zimmer, daß dort oben am Himmel hängt noch zu erreichen, aber wir sind verrückt genug, am nächsten Tag wieder durch die Gassen des Lebens zu laufen und zu hoffen, jemanden zu finden, der uns die Liebe gibt, die wir benötigen, um weiter gegen die Stürme ankämpfen zu können.

„Kein anderes Geschöpf ist mit dem Geschick der Menschheit so vielfältig, so eng verknüpft wie der Baum.“ Dies schrieb der Historiker Alexander Demandt.

Wir pflanzen einen Baum bei der Geburt und einen letzten auf dem Grab.

Ja, damals, als das alte Haus gebaut wurde, als das Leben begann, war es rundherum noch ruhig, und der Baum wuchs langsam und erreichte Stockwerk für Stockwerk. Er entwickelte sich gemeinsam mit dem Leben immer weiter. Und so wurden beide älter und gleichsam veränderte sich ihre Umgebung.

Bin ich dieser Baum ? Ist das Haus das Leben ?

Ich schaue zurück und erlebe die Generationen in diesem Haus, in meinem Leben. Manchmal gehörte ich zu den Glücklichen, manchmal glaubte ich, daß alle meine Feinde seien. Manchmal beobachtete ich die anderen, weil ich glücklich aber dennoch einsam war, manchmal hörte ich in meinen Träumen Violinmusik, die mich an glücklichere Zeiten erinnerte. Aber jetzt, wo ich ein gewisses Alter erreicht habe, stellen sich mir viele Fragen, und ich bin unsicher, ob ich in meinem Leben alles richtig gemacht habe. Doch die Antwort findet nur, wer das Unsichtbare sieht oder zumindest versucht es zu sehen, das, was sich außerhalb des Alltäglichen zuträgt, was nur in unserem Bewußtsein spielt.

„Doch das ist noch nicht alles. Viele andere Dinge weiß ich noch. Ich kenne seine kranken Tage. Ich weiß alles von diesem Baum. Am besten kenne ich seinen Herzschlag. Auf seinem verwirrten Weg zum Himmel gerät er so sehr außer Atem, daß sein Herzschlag zu sehen ist.“

Irgendwann wurde ich gepflanzt, in die Welt geworfen, existierte und mußte mir meinen Weg zum Glück, zur Freiheit selber suchen.Und so irrte ich durch viele Gassen, in denen viele Gefahren lauerten, um die Liebe, mein Glück, das Zimmer oben am Himmel zu finden. Denn es gibt unzählige Möglichkeiten. Und jeder Mensch in diesem alten Haus, in diesem Leben, hat ebenfalls unzählige Möglichkeiten.

Nein, ich bin nicht, wir sind nicht verrückt und der Baum ist auch nicht verrückt. Ab und zu erscheint es uns nur so, wenn das Leben mal wieder „von völlig unvorhersehbaren…Ereignissen auf eine neue Laufbahn gelenkt“ wird.


 

 

Gestutzte Eiche
 

Wie haben sie dich, Baum, verschnitten
Wie stehst du fremd und sonderbar!
Wie hast du hundertmal gelitten,
Bis nichts in dir als Trotz und Wille war!
Ich bin wie du, mit dem verschnittnen,
Gequälten Leben brach ich nicht
Und tauche täglich aus durchlittnen
Roheiten neu die Stirn ins Licht.
Was in mir weich und zart gewesen,
Hat mir die Welt zu Tod gehöhnt,
Doch unzerstörbar ist mein Wesen,
Ich bin zufrieden, bin versöhnt,
Geduldig neue Blätter treib ich
Aus Ästen hundertmal zerspellt,
Und allem Weh zu Trotze bleib ich
 Verliebt in die verrückte Welt.
 

Hermann Hesse

 

 

 

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