Gedanken erzählen



Gedanken erzählen ...







Manchmal möchte ich einfach nur etwas erzählen. Nein, nicht nur was ich erlebt habe, sondern Geschichten, die mir meine Gedanken erzählen. 


Gedankengeschichten.












Die Beliebigkeit


Es regnet. Eigentlich sollte es jetzt schneien. Immerhin ist es eine Woche vor Weihnachten oder: zwei Wochen vor Silvester. Für die heutige Generation. Zumindest für Teile von ihr. Jedenfalls für Lena. Lena heißt eigentlich Brigitte. Wenn ich sie besonders mag, nenne ich sie Marion, wenn ich sie nicht mag, nenne ich sie Gaby, dann schreit sie laut, und ich bin verärgert über Nicky, wie sie ihre Freunde nennen. Die mag ich übrigens auch nicht. Sie finden Weihnachten nicht mehr „in“, genauso wie Marion.


Jetzt stehe ich hier an der Haltestelle. Warte auf den Bus. Dabei wollte ich zu Fuß gehen. Wollte meine Gedanken ordnen. Kann man sie ordnen? Wenn ich ihnen widerspreche, sind es dann noch meine Gedanken? Kann ich etwas Fremdes ordnen? Ich kann ihnen nachhängen, sagt Nicky. Hoffentlich verpasse ich dabei nicht den Bus. Aber dann könnte ich doch noch zu Fuß gehen.


Du spinnst würde Gaby jetzt sagen. Aber ich will ja nicht mit Nicky zu Fuß gehen. Wohin will ich überhaupt? Ich soll in die Stadt gehen. Ein Weihnachtsgeschenk kaufen. Hat Brigitte gesagt. Aber ich kaufe lieber Geburtstagsgeschenke. Obwohl ich nichts gegen Weihnachten habe. Oder doch ? Aber Weihnachtsgeschenke sind ja auch Geburtstagsgeschenke, wenn man sie richtig versteht.


Also werde ich ein Geburtstagsgeschenk zum Weihnachtsfest kaufen.










Gedankenbild


Seit mehreren Minuten stand ich nun schon am Fenster und schaute auf die Straße. Eigentlich auf die kleinen Fützen dort unten mitten auf der Kreuzung. Ganz deutlich konnte man sehen, daß es noch immer regnete. Obwohl, es war mehr ein Tröpfeln. Nein, ein Grieseln, denn für den Regen war es viel zu kalt geworden. Irgendwo in mir bildete sich bereits das Wort "Winter".


Wie ein Fernrohr schwenkte ich den Blick hinauf zum Himmel. Und nein, ich meine nicht den Raum, in dem die Religionen ihre Märchen spielen lassen. Ganz einfach nur das Sichtbare über uns. Allerdings war da heute bei den Wolken schon die Sicht vorbei. Aber wenn wir diese lange genug ansehen, formen sich in unserer Phantasie dort auch manchmal seltsame Gebilde. Märchenfiguren ähnlich oder auch Gegenständen des Irdischen. Fast wie Spiegelungen. Und doch nur eine Ansammlung von sehr feinen Wassertröpfchen. Einige landen gerade wieder auf der Kreuzung. Bei den Eisenbänken vor und hinter den Bahnschranken fallen sie direkt durch die kleinen Öffnungen der Sitzfläche. Im Gegensatz zu der Holzbank unter dem Baum. Dort vereinigen sie sich zu einer glatten Wasserfläche.Eine Taube war das einzige Lebewesen, daß sich dort jetzt niederließ. Einsam und verlassen, fast traurig wirkte dieser Ort, an dem sonst reger Verkehr herrschte. Und wenn sich die Bahnschranken senkten, hatte man das Gefühlt, in eine andere Welt zu blicken, auch wenn die Tropfen ihren Weg unbeirrt fortsetzten. Sie lassen sich von keiner Absperrung aufhalten.


Und dann wurde das Bild plötzlich zerstört. Mit großen Schritten, den Oberkörper nach vorne gebeut und einen Schirm gegen den Regen stemmend, kreutzte ein mir bekannter Mann die Stille. Er konnte mich am Fenster nicht sehen, weil der Schirm seine Sicht einschränkte. Aber seine schlanke, große Figur und besonders seine Bewegungen verrieten ihn mir. Nur wenige Augenblicke bestimmte er das Bild. Dann stampfte er, wie es seine Art war, nach rechts in die Straße hinein, in der er wohnte und verschwand im Hintergrund. Wie ein Wassertropfen auf der Holzbank zog sich die Ansicht wieder zusammen. 


Mit meinen Augen fertigte ich ein Bild und schob es zu den vielen anderen Gedankenbildern in mein Bewußtsein.

 












post siparium


Der Tag beginnt mit der Post. Stimmt nicht so ganz. An manchen Orten kommt sie auch erst gegen Mittag oder noch später. Und außerdem hängt es davon ab, wann ich aufstehe. Morgens um sechs werde ich mit der Behauptung kein Glück haben, mittags um zwölf schon eher. Jedenfalls ist einer der ersten Wege meistens zum Briefkasten. Oft umsonst. Aber selbst, wenn er einen Inhalt aufweist, bedeutet das nicht, daß es etwas Wichtiges ist. Und zu manchen Zeiten sind wir, wenn wir ehrlich sind, auch froh, in einen leeren Kasten zu blicken. Womit ich jetzt nicht die fehlende Werbung meine. Post ist eben nicht gleich Post.


Ja, an manchen Tagen kann die Post schon entscheiden, ob es ein erfreulicher oder ein ärgerlicher, vielleicht sogar ein trauriger Tag wird. Und wenn ich von der Post spreche, dann meine ich hier natürlich den Inhalt meines Briefkastens, also die Briefe, Karten oder was auch immer. Gleichsam eventuelle Päckchen oder Pakete. Auf keinen Fall aber den Briefträger oder Paketzusteller. Das sind nur Boten, die für den Inhalt der Nachrichten, die sie verteilen, überhaupt nicht verantwortlich sind. Sie ja auch gar nicht kennen, gar nicht kennen dürfen. Aber so, wie sich im Laufe der Jahrzehnte so viele Dinge verändert haben, ist natürlich auch die Post nicht geblieben, was und wie sie war.


Schon das Schreiben von Briefen ist zur Rarität geworden, zumindet im privaten Bereich. Über Liebesbriefe lächelt man bei der Jugend nur noch, weil das doch per E-Mail oder SMS in Sekundenschnelle geht, auch wenn dadurch so viele schöne Augenblicke verloren gehen. Sicher, früher mußte man tagelang auf eine Antwort warten. Aber war es nicht eine spannende Zeit ? Jeden Tag, wenn der Briefträger auf das Haus zuschritt oder man am Morgen, am Mittag den Postkasten öffnete, steigerte sich das Kribbeln und die Erwartung erhöhte den Pulsschlag. Ob dieses schöne Gefühl heute am Handy noch spürbar ist, vermag ich nicht zu sagen.

Und was wurde nicht noch alles durch die Post zugestellt. Postkarten, Ansichtskarten aus dem Urlaub verschickt man heute höchstens noch an die Oma, die kein Handy hat. Ob es Postanweisungen noch gibt, bin ich überfragt. Sicher kann ich nur sagen, daß die Rente nicht mehr durch die Post ausgezahlt wird. Das war am Monatsanfang immer ein Höhepunkt. Zumindest für den Postboten. Und die zahlreichen kleinen Geschichten, die dadurch entstanden sind, vermisse ich auch. Wobei ich nicht unterschlagen will, daß der eine oder andere während seiner Laufbahn gezwungenermaßen fast zum Alkoholiker geworden ist. Warum, ist einfach erzählt.


In den einzelnen Ortschaften, zumal in den kleineren, gab es jeweils nur einen Postboten, der diese Tätigkeit über Jahre ausübte. Meistens bis zu seiner Rente. Doch vorher brachte er jeweils pünktlich am Ersten des Monats allen Rentnern des Ortes ihr Geld. Bar. Und da man sich also kannte, oft auch privat, bat man ihn an diesem Tag in die Wohnung, besser, ins Wohnzimmer, den Ort für die besonderen Augenblicke. Und nachdem das Geld bis auf den Pfennig genau auf dem Tisch lag, besiegelte man diesen Akt mit einem Schnaps. Nun gab es in jedem Bezirk ja mehr als einen Rentner, also auch mehr als einen Schnaps. Da kann sich jeder vorstellen, in welcher Verfassung der Postbote in den Feierabend schlängelte. Daß das nach einigen Jahren auch oft Folgen für den Herrn hatte scheint zumindest verständlich. Deutlich wird dies an der noch heute gebräuchlichen Redewendung: "Es wird höchste Eisenbahn."


Hierbei wird auf ein altes Berliner Theaterstück angespielt. In einer humoristischen Szene mit dem Titel Ein Heiratsantrag in der Niederwallstraße geht es um einen zerstreuten Briefträger namens Bornike. Dieser verhaspelt sich andauernd beim Sprechen und bringt immer wieder Wörter in den Sätzen durcheinander. Als er bei seinem zukünftigen Schwiegervater um die Hand von dessen Tochter anhalten will, drückt er seine Freude über dessen Einverständnis so aus: „Diese Tochter is janz hinreichend, ich heirate ihre Mitgift.“ Kurz darauf bricht er eilig auf, da er vergessen hat, dass die Post, die er austragen muss, schon längst mit dem Zug angekommen ist. In der Eile entschuldigt er sich mit: „Herrjesses Leipzig! […] Es ist die allerhöchste Eisenbahn, die Zeit is schon vor drei Stunden anjekommen."

Leider ist heute alles Persönliche von der Post gewichen.


Links auf meinem Schreibtisch liegt schon seit einiger Zeit eine Karte, eine Geburtstagskarte. Vor ungefähr sieben Monaten muß sie bei mir angekommen sein. Von einer lieben Bekannten.  "Alles Liebe ....."

Wie viele mögen auch so eine Karte oder so eine ähnliche bekommen haben ? Wie viele mögen vor sieben Monaten eine geschrieben oder erhalten haben ? Wie viele hätten gerne eine bekommen oder geschrieben. Wie viele mögen solche Karten oder auch nicht. Wie viele mag die Post zugestellt haben ? Und dann kommt manchmal ganz plötzlich ein Wunsch in mir hoch. Der Wunsch, einen Tag mit der Post anderer verbringen zu können. Einfach nur der Empfänger der Post in einem anderen Haus, einer anderen Straße, einem anderen Ort zu sein. Egal, wer dort wohnt, ich will es gar nicht wissen. Aber wie würde ich den Tag verbringen, wenn ich die Post dieses Menschen erhalten würde ?


Gestern, gerade kam ich vom Einkauf, nur ein paar Kleinigkeiten in einem weißen Beutel, als ich auf der anderen Straßenseite einen Postboten erblickte. Nun mache ich diesen Weg ja jeden Tag, wobei das Einkaufen nur als Grund vorgeschoben ist, denn eigentlich geht es mir mehr um den Spaziergang, um die tägliche Bewegung. Deshalb habe ich auch extra ein Kaufhaus ausgewählt, daß weiter entfernt seinen Sitz hat. Natürlich könnte ich auch alles an einem Tag in der Woche holen, aber auf der einen Seite wäre es ziemlich schwer für mich zu tragen, denn ich besitze nämlich kein Auto, auch dies mit Bedacht, andererseits würde ich zum Beispiel bei schlechtem Wetter - und dies gibt es öfter als man glaubt, weil man ja selber entscheidet, ob es gutes oder schlechtes Wetter ist - einfach zu Hause bleiben. Womit der Spaziergang, die Bewegung mal wieder aus Faulheit ausfallen würde. Doch zurück zu meiner Entdeckung. Richtig, zu dem Postboten. Genauer muß man heute wohl Postbotin sagen, obwohl Postbote ja ein Oberbegriff ist, völlig unabhängig vom Geschlecht der Person. Früher war die Unterscheidung auch gar nicht notwendig, denn da gab es noch keine weiblichen Postboten -von der "Christel von der Post" mal abgesehen -. Da trug der Herr noch eine Uniform. Schwarze Hose, blaue Jacke, Schirmmütze. Inzwischen hat man alle mit bequemen Bekleidungsstücken ausgestattet. Und alles in gelb mit dem Postzeichen auf dem Rücken und auf einem Fahrrad, hinten ein großer Kasten, in dem alles einsortiert ist. Also auch ohne die schwarze Umhängetasche. Interessant wäre mal zu klären, ob sich die Hunde an die Umstellung gewöhnt haben. Doch das ist ein anderes Thema.


Meine beobachtete Zustellerin steuerte jedenfalls gerade auf das Haus mit der Nummer 18 zu und ließ verschiedene Sachen in den Briefkästen, die jeweils mit einer silbernen Klappe versehen waren, verschwinden. Dann schwang die Person sich wieder auf ihr Rad und trampelte dem Haus Nummer 20 entgegen. Wie oft sie dies wohl an einem Tag auf ihrer Tour wiederholen mußte ? Aber lassen wir sie weiter ihre Arbeit machen, denn in diesem Augenblick kam ich ins Spiel. Oder genauer, meine Gedanken.


Nun ist es nicht so, daß ich den Brief dort im Kasten vom Haus gegenüber lesen möchte. Nein, ich frage mich nur, wie der Rest meines Tages sich gestalten würde, wenn dieses Schreiben an mich gerichtet, ich also der Empfänger wäre. Vielleicht müßte ich mir jetzt überlegen, wie und wann ich eine Rechnung zu bezahlen hätte. Der Weg zur Bank stände mir also bevor oder zumindest eine Tätigkeit am Rechner. Vielleicht würde ich irgendeine Mitteilung irgendeines Amtes lesen. Mag sein erfreulich. Oder auch nicht. Eine Antwort müßte geschrieben werden. Vielleicht ist es auch der Brief eines oder einer Bekannten. Viele Gedanken gingen mir dann durch den Kopf. Möglich auch eine Todesanzeige. Die nächsten Stunden gehörten dann dieser Person. Oder war es nur eine Ansichtskarte von einem Urlauber ? Gar ein Werbebrief ? Viele andere Möglichkeiten gibt es natürlich noch, die mir jetzt gar nicht einfallen. Eines ist jedoch sicher: Dieser, eventuell sogar der nächste Tag und die nächsten Wochen würden einen anderen Verlauf nehmen, als es jetzt, wenn ich nach Hause gehe, geschieht.


Post. Dieses täglich neue Geheimnis. Woher kommt eigentlich dieses Wort mit den vier Buchstaben ? Da müssen wir einen Blick zurück in das 16.Jahrhundert werfen. Nach Italien. Aus posta also dem lateinischen posita, "festgelegt", wurde unsere Post. Gemeint war eine Wechselstation, ein festgelegter Ort an dem berittene Boten ihre Pferde auswechselten. Erst ein Jahrhundert später kam der Begriff nach Deutschland, wurde verallgemeinert und bezeichnete irgendwelche versendete Dinge. Jetzt sind aus den Pferden Autos, Züge, Flugzeuge und Fahrräder geworden. Eine Wechselstation aber ist die Post geblieben.


Wechseln. Da war doch etwas. Richtig, ich muß meinen Standort wechseln. Mir fällt nämlich ein, daß ich Eis eingekauft habe. Das ist bestimmt schon halb aufgetaut. Jetzt wird es aber höchste Eisenbahn, daß ich nach Hause komme und das Eis in den Kühlschrank. Nur vorher noch in den Briefkasten schauen, ob ich Post bekommen habe. Wie wird mein Tag danach aussehen? Doch das verrate ich nicht. 

Postgeheimnis.


post siparium, hinter den Kulissen, heimlich.







Alles hat seine Zeit

Der kleine Raum war nur mäßig ausgeleuchtet und zum Lesen eigentlich völlig ungeeignet. Sicher, man konnte zur Not eine Tageszeitung überfliegen oder einen Brief lesen, auch die Ziffern auf dem Bildschirm des Computers waren zu erkennen und im Wort und Satzzusammenhang zu deuten, aber lesen....also wirklich lesen war in dieser Umgebung eigentlich kaum möglich. Aber Sosias hatte es sich fest vorgenommen und ließ sich auch durch die widrigen Umstände nicht davon abbringen. 

Buchstabe um Buchstabe flog an seinen Augen vorbei und erst im nachhinein fand jeder einen ihm passenden anderen, um ihn zu dem zu machen, was er anstrebte. Und so wurde langsam aus jedem Einzelnen ein sinnvolles Ganzes. In dem Dunkel des Raumes entstand etwas Lebendiges und Sosias war quasi der Schöpfer. Er schenkte jedem Buchstaben das Leben.

Ganz langsam hauchte er das entstandene Wort gegen die weiße Decke, indem er den Kopf hob und die zusammengefügten Buchstaben langsam durch die Lippen gleiten ließ....ATEM----A, wie Anfang – T, wie Tod – E, wie Ende – M, wie Morgen...........Eine Geschichte war entstanden. Die Geschichte des Atem.


Aus dem Atem entsteht das Wort, die plastische Sprache.“ Jean-Louis Barrault

(Französischer Schauspieler, Pantomime und Regisseur. 1910-1994)



Es war mal wieder früh geworden in der Welt von Sosias, in der Welt, in die er sich in manchen Stunden zurückzog, nicht, weil er dem Geschehen draußen entfliehen wollte, sondern, weil er die Realität des Draußen leben wollte. Nicht das Ganze, sondern bewußt das Einzelne, denn dieses Einzelne erlaubte es dem Ganzen erst, die Welt zu sein. Seine Finger glitten über die Tastatur, deren Zwischenräume dringend mal wieder entstaubt werden mußten, was die einzelnen Tasten aber nicht daran hinderte, ihre Funktion auszuführen. Der Mittelfinger seiner linken Hand zauderte einen Augenblick, ließ dann aber doch seine Schwerkraft auf die Taste mit dem Buchstaben "d" einwirken und, ohne über die weitere Reihenfolge der zu tippenden Buchstaben nachzudenken, schrieb er das Wort: devot......d--wie Demut, e—wie Erfurcht, v—wie Vernunft, o – wie Ohnmacht , t—wie Trieb.

In diesem Moment fielen seine Hände wie leblos hinab auf die Armlehne seines Stuhls. Die Gedanken hatten sich ihnen entzogen und weilten für einen Augenblick in der Vergangenheit, nein, nicht in der Gesamtheit der Vergangenheit, sondern nur in einem kleinem Teil von ihr. Noch war das Bild verschwommen und Sosias erkannte nur einige Umrisse, die sich erst ganz langsam zusammenfügten. Ihm war, als ob er aus einer Nakose erwachte und plötzlich wieder in der Gegenwart der Vergangenheit auftauchte.


Charis, ein Mädchen – nein, eine junge Frau, jedenfalls jung im Gegensatz zu ihm -, hatte er irgendwann im Frühling des letzten Jahres kennengelernt. Wobei kennengelernt eigentlich etwas übertrieben ist, denn was er von ihr kannte, waren nur ein paar E-Mails und die sich daraus ergebenden Ansichten und Meinungen. Natürlich, dachte Sosias und stellte seine Beine schön gekreuzt abseits des Computers über die ihm gegenüber liegende Sofalehne, natürlich würde ich sie gerne real kennenlernen, aber ich bin nicht sicher, ob dies auf Gegenseitigkeit beruht. Obwohl wir nie direkt über das gesprochen hatten was uns beide beschäftigte, wußten wir doch immer was wir meinten und selbst, wenn es um das Wetter ging, gab es keine Unklarheiten über  die Bedeutung der Buchstaben, die sich unter den Händen der Beiden  zu  unwichtigen Aussagen – was zumindest dem nicht eingeweihtem Leser so erscheinen mag – vereinigten,  noch gab es Differenzen über die Definitionen der gemachten Aussagen. Mit anderen Worten, beide wußten ohne direkte Absprache, was sie meinten.  

Charis hatte damals gewisse Vorlieben für sich entdeckt und ich bin diesen nicht abgneigt oder besser gesagt, ich mag sie, aber ich mag sie nur in einer bestimmten Art. Nicht um ihrer selbst willen, sondern als spannendes Einzel im Ganzen. Um nun nicht mißverstanden zu werden: es war damals keineswegs nur ein kleines Detail, welches man nach Belieben hinzufügen oder weglassen konnte, sondern es war das entscheidende Etwas,  daß das Ganze erst  zur Erfüllung werden ließ. Obwohl, manchmal gab es Zweifel bei Sosias. Das diese Zweifel auch bei Charis bestanden, kam ihm erst viel später zu Bewußtsein, änderte aber nichts an seiner Einstellung zu ihr. In dieser Hinsicht beschäftigten ihn ganz andere Dinge, die aber in diesem Augenblick noch nicht existierten, sondern erst zu einem viel späteren Zeitpunkt auftauchten. 


Dieser "viel später auftauchende Zeitpunkt" ist übrigens etwas, was sich im Leben von Sosias nicht nur an dieser Stelle findet. Schon seine Geburt, die kurz nach dem zweiten Weltkrieg vollzogen wurde, hätte eigentlich zu einem später auftauchendem Zeitpunkt stattfinden sollen. Da dies aber irgendwann nicht mehr zu verhindern war, blieb seinen Eltern zu der damaligen Zeit, wo die katholische Kirche sich weigerte, in der Adventszeit eine Trauung vorzunehmen – warum ist mir bis heute nicht überzeugend erklärt worden,weder von meinen Eltern, geschweige denn von der katholischen Kirche – nichts anderes übrig,als einen Tag vor Silvester zu heiraten. Der Vorteil zu einem später auftauchendem Zeitpunkt war, daß die Silvesterfeiern bei uns immer schon am 30. Dezember begannen. Besonders zur Silbernen- Goldenen- und Diamantenen Hochzeit waren die Auswirkungen etwas weitergreifender.


Sosias mußte unwillkürlich lächeln, als er an diese Augenblicke zurückdachte. Dabei fielen ihm auch wieder die Reden ein, die er jedesmal kurz vor dem Hauptessen halten mußte. Nicht wirklich gezwungen, aber, da es nach Aussagen der Verwandschaft keiner besser konnte als er, gab es eine allgemeine, unausgesprochene Regel, daß er das Wort zu erheben hatte, um, während die Bedienungen in den Gaststätten, in denen die Feiern stattfanden, das Essen auftrugen, eine Laudatio auf das Geburtstagskind oder auf die Eltern, die ihren Hochzeitstag feierten, zu halten. An die Tatsache, daß am Ende der Rede jedesmal die Suppe kalt war, hatte man sich bald gewöhnt.  Und Sosias störte diese Aufgabe eigentlich auch nicht, aber im Laufe der Jahre wurde sie immer schwieriger, weil das Meiste schon gesagt war. Aber irgendwie schaffte er nach Auskunft der Beteiligten immer wieder eine Steigerung. So erfuhr Sosias hier Augenblicke, die ansonsten in seinem Leben eher selten waren und eine familiäre Bindung schafften, die in seinem Bewußtsein nicht gerade an erster Stelle stand. Nicht, daß das Verhältnis zu seinen Eltern oder zu seinem einzigen Bruder in irgendeiner Form negativ gewesen wäre, aber der regelmäßige Besuch bei seinen Eltern im "zwei-Wochen-Rhythmus" und der Kontakt zu den übrigen Familienmitgliedern zu Weihnachten, Ostern und sonstigen Feierlichkeiten reichte ihm vollkommen. Übrigens ein Tatbestand, der sich auch in später auftauchenden Zeitpunkten bei seinen Beziehungen teilweise wiederholte. Auf Charis traf dies insofern nicht zu, da schon die Entfernung ein häufiges Treffen nicht zuließ und sie außerdem glücklich verheiratet war, was auch seine, spätestens seit seiner Scheidung veränderte Einstellung zur Beziehung allgemein nicht abändern konnte. In diesem Punkt war er, zumindest nach außen konservativ. Innerlich hatte er sich von dieser Einstellung längst verabschiedet, obwohl Reste bedingt durch die Erziehung kaum auslöschbar erschienen und immer wieder eine Kampfansage an sein Denken verschickten. 


Kurzum, er fühlte sich nicht konservativ, konnte sich aber in einzelnen Punkten nur schwerlich vom verhaßten konservativem Bewußtsein trennen. Charis lebte einen zumindest ähnlichen Konflikt. Auf der einen Seite ihre Familie mit ihrem Mann, dessen Einstellung Sosias bisher nur ahnen konnte und die für ihn noch ziemlich unklar war – auch in Bezug auf Charis, auch wenn diese immer wieder von einer funktionierenden Beziehung sprach, und ihre zwei Kinder natürlich möglichst vor allem Negativen bewahren wollte und auf der anderen Seite, ihr Wunsch, ja ihr manchmal unbändiger Wunsch, dem sie dann im entscheidenden Moment doch immer wieder Fesseln anlegte, sich frei von allen Regeln zu entfalten. Manchmal schaffte sie es auch, sich über alle ihr selbst gesetzten Regeln hinwegzusetzen, um diese dann ganz plötzlich wieder gewollt noch höher neu aufzubauen. Nun darf man aber nicht vergessen, daß zwischen Sosias und Charis eine ganze Generation lag und sie die prägenden Jahre meiner Kinder-und Jugendzeit nur vom Erzählen kannte. Die Gefühle und die Denkweise, die sich als gelebt tief in mein Bewußtsein eingeprägt hatten, waren bei ihr zwangsläufig angelesenes Wissen. Was beide aber verband, waren zumindest gewisse gemeinsame Phantasien und das Denken im Jetzt, wobei sie es immer wieder schafften, diese Dinge geschickt zu vermischen, obwohl die Sexualität immer weiter in den Hintergrund rückte um später dann praktisch ganz zu verschwinden und das Interesse an Literatur ihren Platz einnahm. Und noch etwas war anders, als man es sich gewöhnlich vorstellen mag: Solange beide über Sexualität redeten, geschah dies nie in direkter Weise und schon gar nicht obzön. Obwohl sie immer ihre eigene Sexualität meinten, war es immer ein Gespräch von oben, quasi über die Sexualität, auch über Details, aber nie direkt. Und doch wußte jeder genau, was der andere meinte. So wanderten ihre E-Mail-Gespräche also zwischen sexuellen Definitionen und Erklärungen, dem letzten Mittagessen, dem jeweiligen Wetter im Süden und im Norden der Republik, Erfahrungen mit den Kindern – vornehmlich denen von Charis, da Sosias nur zwei Stiefkinder aus der geschiedenen Ehe hatte – und sonstigen Alltäglichkeiten hin und her. Und doch war manchmal ein gewisses Knistern fast zu hören, artete aber nie zu größeren Gefühlsausbrüchen aus, sondern kam kurz vor der Grenze, wie vor einem unsichtbarem Schlagbaum mehr oder weniger abrupt zum Stehen. Eine direkte Sexualität zwischen beiden gab es ohnehin nicht.


Natürlich spielte die Tatsache, daß sie verheiratet war, dabei eine große Rolle, aber es war mehr. Irgendetwas in seinem, aber wahrscheinlich auch in ihrem Inneren erzeugte eine Art Angst, jedoch eine Angst der positiven Gattung. Er fürchtete sich nicht vor der Angst, sondern er genoß sie, ohne es allerdings sich selber zuzugeben. Nein, das Ganze sollte nicht in einem wie auch immer geartetem Gefühlschaos enden. Es sollte, wie sie einmal so schön geschrieben hatte: alles so bleiben, wie es war. Beide versuchten – und manchmal wirkte es schon etwas krampfhaft – eine ganz normale Freundschaft vor dem Hintergrund der Welt aufzuführen. Und dann gab es immer wieder die winzigen Augenblicke, die sich diesem Hintergrund entzogen und die eigentlich dafür verantwortlich waren, daß es zu einer Freundschaft ganz besonderer Art kam.

 

Irgendwann war es dann endlich soweit. Wir kannten uns schon fast ein Jahr. Wenn ich, in einem stillen Moment zurückdachte, kam es mir vor, als wären wir uns irgendwann im letzten Jahrhundert begegnet, in der Zeit, als zwar die Beatles nicht mehr auftraten und Baader-Meinhof Vergangenheit waren, aber wir in einer schummrigen kleinen Kneipe, in der aus der Musikbox zum achtundneunzigsten Mal "Ein bißchen Frieden" gedudelt wurde, bei zwei Glas Wein saßen und uns über die Dinge unterhielten, die wir uns jetzt die ganze Zeit per Mail hinübergeschoben hatten. Nein, ich will ehrlich sein, ich kam mir vor, wie ein "Halbstarker". Genauso nannte man zu meiner Zeit die Jugendlichen, die dann später als Twens und Teenager bezeichnet wurden und die heute in keinerlei solcher Bezeichnungen wiederzufinden sind. Sicherlich auch einer von unendlich vielen Gründen, warum Jugendlichen eine Identifikation fehlt. Sie existieren als selbständige Klasse eigentlich gar nicht mehr. Womit sollen sie sich also auseinandersetzen, wenn sie nur noch ein mehr oder weniger ungewollter Übergang von den Kids zu den Erwachsenen sind ?


Genau, ein bißchen Frieden, war eigentlich das Thema, warum ich mir meinen schicken roten R4, mit einem Anti-Strauß-Plakat im hinteren Fenster auf der Fahrerseite, durch einen Stein in genau das Fenster hatte verunstalten lassen und noch stolz darauf war. Sicherlich, in der Eckkneipe, etwa fünfhundert Meter von der Wohnung meiner Eltern entfernt, in der ich zu der Zeit noch mein Kinderzimmer mein Zuhause nannte, gerade als Student in Deutsch und Geschichte  mit dem Ziel einmal Hauptschullehrer zu werden, eingeschrieben, wurde ich meistens mit dem Satz begrüßt: Hallo, der Kommunist kommt auch. Aber das war damals eigentlich keine Beschimpfung, sondern, zumindest in meinem Bewußtsein, mehr eine Ehrung. Man fühlte sich als ein Intellektueller, der zwar für die Arbeiterklasse kämpfen wollte, aber ihnen doch weit überlegen war. Zwar für sie, aber bitte nicht als einer von ihnen. Ein Widerspruch ? Nein, denn die Arbeiterklasse brauchte doch welche aus ihren Reihen, die aber weiter denken konnten, um sie aus dieser Klasse befreien zu können. Das die Arbeiter sie nicht verstanden  und sie sich selber meistens auch nicht, war nicht entscheident. Und ich meine das jetzt nicht ironisch, denn genau aus diesem Denken entstanden die heute noch nicht verstandenen sogenannten Achtundsechziger. Dies ist nicht der Grund ihrer Entstehung, aber der Grund, warum sie zum Mythos wurden, was aber auch nicht zu bedeuten hat, daß diese Bewegung, die sich eigentlich kaum bewegte , sondern nur ihren Status Quo verteidigt hat, ohne Bedeutung gewesen wäre. Die fünfziger Jahre mit ihrem Aufschwung, die den Krieg in eine fast schon unendliche Ferne gerückt hatten, wurden in den sechzigern wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt und mehr noch: die Jugend versuchte klar zu machen, daß die Demokratie erst am Anfang stand und die Freiheit noch in weiter Ferne war. Kapitalismus war keine Freiheit, sondern nur Dikatur auf einer anderen Ebene. Heute haben wir dieses Problem in einer anderen Form wieder und noch immer nicht begriffen. 


Ich glaube, es war an einem Dienstag, als Sosias per Mail den ersten Hinweis von Charis in Bezug auf ein Treffen erhielt. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich darauf gewartet und muß mir eingestehen, daß ich Angst hatte, dieses Zeichen selber zu geben, wobei die Angst nicht auf das Treffen gerichtet war, sondern sich einzig und allein auf meine Person bezog. Wenn ich zurückdachte, so war der Bezug zum weiblichen Geschlecht nicht unbedingt gering, aber es war immer nur ein Bezug gewesen, was selbst für meine relativ kurze wirkliche Beziehung und die daraus noch relativ kürzere Ehe zutraf. Meine ,wie man in der heutigen "Kürzel-Welt" zu sagen pflegt, Ex-Frau hatte ich in einer, nein, in meiner Gastwirtschaft kennengelernt. Meiner ersten Gastwirtschaft oder wie umgangssprachlich derartige Lokalitäten bezeichnet werden : meiner ersten Kneipe. Dem zuvor gegangen war ein Werdegang, der mein heutiges Dasein wohl nachdrücklich geprägt hat. Ein cirka fünfzehn Jahre andauernder Werdegang, welcher tiefe sozilogische, psychische und auch reale,  sowohl positive, als auch negative Narben hinterlassen hat, die unverarbeitet, auch heute, nach weiteren zwanzig  Jahren sich einer Nichtung standhaft entgegenstellen. Wobei in diesen letzten zwanzig  Jahren ein dreijähriger gastronomischer Rückfall enthalten ist, welcher auch zum Kennenlernen und heiraten einer Person führten, die zwar liebenswürdig und liebenswert war, aber, wenn ich es aus heutiger Sicht und damit mit dem nötigen Abstand betrachte, von mir nie wirklich geliebt wurde. Zwei Dinge standen dabei Parte: Da gab es einen Augenblick vor dem Rathaus der Stadt in der ich real seit meinem siebenundzwanzigstem Lebensjahr wohnte, aber im Geiste schon mindestens zehn Jahre vorher eingezogen war und es gab den Augenblick am Abend in meiner ersten Kneipe, den ich hinter dem Tresen verbrachte und sie, meine spätere Frau zum ersten Mal mit einer Freundin wirklich wahrgenommen habe und der mich den unausgesprochenen Satz denken ließ: nutze deine Überlegenheit und laß deinen Traum Wirklichkeit werden. Der Traum bezog sich auf  jene eben genannte Situation vor dem Rathaus und lag geschätzte drei Jahre zurück.


Es muß ein Samstag gewesen sein, als Sosias die Gastwirtschaft, ein Kelgelcenter, verlassen hatte. Ein Blick auf die Uhr, welche genau über der Eingangstür eines selbigen Geschäfts hing, zeigte ihm leicht verschwommen, daß es inzwischen zehn Uhr war. Die letzte Nacht hatte sich mal wieder, wie fast gewöhnlich am Freitag, erheblich ausgedehnt, weil die übrig gebliebenen Gäste kein Ende fanden und Sosias,der dort als Kompagnon arbeitete, immer wieder in ihre letzten und allerletzten Runden mit einschlossen, was ebenfalls an der Tagesordnung war. Dies mag auch den verschwommenen Blick auf die Uhr erklären. So stand Sosias also nun  unter dieser Zeitanzeige vor der Tür des Schmuckgeschäfts, welches von einem  Mann in seinem Alter geführt wurde, der mal ein angesehener Fußballer der Stadt war. Der Verein, einstmals die Nummer eins, war inzwischen in den Niederungen des sportlichen Geschehens verschwunden, auch wenn sein Name "Grün-Weiß" noch immer bei den Interessierten – und zu denen gehörte auch Sosias – viele Erinnerungen hervorrief. Selbiges galt auch für den Inhaber des Geschäfts, der quasi  in vorderster Front stand, wenn man über die Fußballgeschichte der Stadt redete. Das er schwul war, wußte zwar jeder, aber zu jener Zeit sprach man darüber nicht, mehr noch, man nichtete es einfach, weil so ein herausragender Fußballspieler doch Vorbild war und da paßte dies einfach nicht hinein. Es war damals noch nicht "gut so".  Sexualität war, zumindest in der Provinz noch tabu, auch, wenn das alltägliche private Leben eine ganz andere Sprache sein Eigen nannte. Sosias konnte, hauptsächlich bedingt durch sein Wirken in der Gastronomie, ein Lied davon singen. Um ehrlich zu sein, waren es mehrere Lieder. Man hätte bequem eine Langspielplatte damit füllen können. 


Zwischen mir und dem Anfang des 17. Jahrhunderts erbauten Rathaus im Stil der Weserrenaissance befand sich ein kleiner Platz, der von seiner Leere um diese Zeit nur durch einen barocken Kump und vereinzelten Fußgängern ablenken konnte. Unterbrochen wurde die Situation, als aus diesem Gebäude, in dem sich auch das Standesamt befand, ein wohl soeben getrautes Paar heraustrat und von ungefähr vier Personen jubelnd begrüßt wurde. Genau in diesem Moment beschloß ich, ganz ohne irgendwelche Diskussion mit mir selber, irgendwann auch einmal dort aus der Türe herauszutreten  - und zwar nicht alleine, sondern gerade in den Stand der Ehe versetzt – um den Beifall meiner wenigen Freunde und vielen Bekannten entgegenzunehmen.

 

Nun, Träume gehen zwar manchmal in Erfüllung, aber sie enden nicht unbedingt immer in der Erfüllung. Diese Erfahrung hält mich aber auch heute noch nicht davon ab, gewisse Träume in einem inzwischen immer kleiner werdenden Zeitfenster weiter zu verfolgen. Was Charis betrifft, so bezieht sich die Verfolgung lediglich – und das ist keinesfalls negativ gemeint – auf eine wirkliche Freundschaft, da mir mein Aufwachsen und Erleben in einer anders denkenden Welt, die zwar nicht mehr mein heutiges Bewußtsein bestimmt, aus der ich mich aber nicht, auch nicht mit Gewalt, ganz trennen kann, keine andere Wahl läßt. Ein Zustand, den ich aber nicht bereue, sondern in vielerlei Hinsicht als Geschenk betrachte.

Charis nannte also zum ersten Mal einen Zeitpunkt für ein reales Kennenlernen und kam mir, um der Verwirklichung Nachdruck zu verleien, damit entgegen, daß sie vorschlug, wir könnten uns ja auf fast halbem Weg treffen. Um auch gleich jeden sexuellen Hintergrund auszuschließen, was wohl in erster Linie meiner Zurückhaltung in dieser Hinsicht geschuldet war, bezog sie die Wahl des Ortes auf unser letztes literarisches Thema und schlug den Goethe-Platz in Frankfurt vor.


Die Nacht vor diesem von Sosias so herbeigesehntem Apriltag verlief eigentlich wie jede der letzten denkbaren an einem Samstag. Die abendlichen Stunden des Freitag nutzte ich, nachdem ich so gegen dreiundzwanzig Uhr mein Mittagessen – also eine warme Mahlzeit – zu mir nahm, um noch ein bißchen am Computer einer Arbeit nachzugehen, die zwar keinen Ertrag bescherte, aber mir das Gefühl gab, meine Zeit mit etwas Sinnvollem zu füllen. Natürlich wußte ich, daß ich mir mit dieser Tätigkeit lediglich selber etwas vormachte, aber ohne sie hätte ich die nachfolgende nächtliche entlohnte Beschäftigung nicht ertragen. Nicht unbedingt wegen der Beschäftigung, sondern wegen der Achtung vor mir selber, die ich im Bewußtsein des Verspielens verspielt hatte, um mir Achtung vor wem auch immer zu verschaffen – wahrscheinlich vor mir selber. Nicht, daß ich sie irgendwann verloren hätte, ich hatte sie nie besessen.

So gegen zwei Uhr machte ich mich im Badezimmer, welches ich erst vor wenigen Wochen in der Überzeugung, mir etwas Gutes zu erweisen, gestrichen , etwas umgeräumt und mit ein paar künstlichen Blumen den Versuch unternommen hatte, es nicht mehr so kalt, sondern wohnlicher aussehen zu lassen, etwas frisch , rasierte mich sogar, wie jede Nacht und  zwang meinen Körper in Bekleidungsstücke, mit welchen ich bei Tageslicht nie auf die Straße gegangen wäre, die aber notwendig waren, um meine Hemden und Hosen vor der Druckerschwärze der Zeitungen zu schützen. Im Gegensatz zu den anderen Nächten war mein Schritt heute schneller und meine Bewegungen etwas hektischer, weil ich um acht Uhr den Zug Richtung Charis erreichen wollte und vorher die eben beschriebene Prozedur ja noch in die andere Richtung wiederholen, beziehungsweise die Verwandlung rückgängig machen mußte. Dazu kam die Aufregung, und in Gedanken spielte ich die ganze Nacht den Augenblick der Begegnung in allen Einzelheiten durch, obwohl mir klar war, daß die Realität in ein paar Stunden ganz anders aussehen würde. Und selbst das Aussehen von Charis, welches mir ja nur vom Bild her bekannt war, führte ich mir immer wieder vor Augen, um blos nicht Gefahr zu laufen, sie nicht zu erkennen. Nichts mehr war übrig geblieben von dem Menschen, der doch immer vorgab, alles im Griff zu haben. Aber in außergewöhnlichen Situationen sah es im Inneren von Sosias immer so aus.

 

Die Zugfahrt bestand, da er ja noch nicht geschlafen hatte und ihm dies auch vor den Morgenstunden des Sonntags nicht vergönnt sein sollte, aus mehreren Versuchen die Tageszeitung zu lesen und die Augen wenigstens ab und zu so weit geöffnet zu halten, daß er den jeweiligen Bahnhof erkennen konnte, auf dem er umsteigen mußte. Diese Versuche gelangen jedenfalls besser, als die der Züge, pünktlich am entsprechendem Haltepunkt anzukommen. Trotzdem erreicht er mit nur fünfzehn Minuten Verspätung seinen Zielbahnhof, welchen er von früheren Fahrten zu einer anderen Bekannten, die ungefähr fünfzig Kilometer entfernt wohnte, kannte.

Da stand ich nun  auf dem mir riesig erscheinendem Vorplatz des Bahnhofs, während aus dem fürchterlichem Grau des Himmels ganz leise, aber ohne Hoffnung auf  Beendigung,ein Nieselregen gerade dabei war, das zu zerstören, was ich immer noch meine Frisur nannte. Etwas, was mich im Augenblick mehr beschäftigte, als die Tatsache, daß ich den Weg zum vereinbartem Treffpunkt nicht ansatzweise kannte, weil ich Charis doch nicht den ersten Eindruck von mir verderben wollte. Das war überhaupt etwas, was eigentlich immer einen festen Platz in meinem Bewußtsein hatte. Selbst während meiner Bundeswehrzeit fühlte ich mich besonders auf Übungen draußen im Gelände unwohl, wenn mein Äußeres in irgendeiner Form hätte unordentlich oder dergleichen wirken können. Es war mir immer, als würden die anderen mich beobachten und wenigstens insgeheim schlecht über mich denken oder reden. Etwas, was ich unbedingt verhindern mußte, wollte ich mich nicht noch unwohler fühlen, als es in solchen Situationen sowieso schon der Fall war. Also kramte ich unauffällig meinen Kamm hervor, durchfuhr damit einige Male die dünnen Haare, die den mittleren Teil des Kopfes, den ich für mich immer „Hubschrauberlandeplatz“ nannte, nicht im Geringsten bedecken konnten, zog den Reißverschluß meiner Jacke, die ich bis zu diesem Zeitpunkt offen getragen hatte, etwas zu und steuerte auf ein kleines Häuschen zu, welches wohl zum Eingang einer Tiefgarage gehörte und in welches sich gerade ein halbwegs Uniformierter – mit blauem Pullover und einer ebensolchen Schirmmütze – vor der Nässe flüchten wollte. Das war wohl auch der Grund, daß er mich ziemlich mißmutig anschaute, als ich ihn nach dem Goetheplatz fragte und er mir mit einer Handbewegung deutlich machte, daß ich die Straße vor dem Bahnhof überqueren müsse um dann immer der dahinterliegenden Straße zu folgen. Immer geradeaus, waren seine einzigen Worte. Das erinnerte mich dann auch wieder an die Bundeswehr, als es galt, ohne Karte und Kompaß einen bestimmten Punkt im Wald zu erreichen. Auch damals regnete es. Im Gegensatz zu heute, konnte ich da aber nach einem langen Marsch kaum noch auf den Füßen stehen und betitelte das ganze Unterfangen für mich als ein unsinniges, kindisches Spiel. Eine Einschätzung, die meine ganze Zeit bei diesem Verein geprägt hat und mich bis zur Beendigung der Wehrpflicht zu einem Verfechter für die Abschaffung der Bundeswehr hat werden lassen,  Diese Momente im Wald, im Dreck, im Wasser, waren es zumindest zum Teil, die dafür gesorgt haben, daß ich heute so penibel mit meinem Äußeren umgehe. Eine andere Ursache liegt dann doch eher in meiner Kindheit. Aufgewachsen in den fünfziger Jahren, in denen es noch nicht wieder sehr viel gab, waren meine Eltern, die damals auch noch immer sehr knapp bei Kasse waren, sehr darauf bedacht, daß dies nicht nach außen sichtbar wurde. Das wiederum bedeutete, daß sowohl sie als auch und vor allem die Kinder sauber und nach ihren Vorstellungen ordentlich aussahen. Da mußte eben alles zueinander passen und gerade sitzen und natürlich die Haare immer schön gekämmt sein. 

 

Und so bewegte Sosias sich also mit kurzen, aber schnellen Schritten immer dicht an der Häuserwand entlang, weil er meinte, so dem Regen etwas zu entkommen, was aber vollkommen widersinnig war, da erstens die Häuser nicht überdacht waren und er zum anderen dauernd um die Auslagen der Geschäfte herumlaufen mußte,  in Richtung Goethe-Platz. Nach etwa einer viertel Stunde und fast auf die Minute pünktlich, wie ihm die Uhr auf seinem Handy zeigte, denn eine andere trug er nicht, beziehungsweise, trug er nie, war er sicher, mitten auf dem ominösem Rund um das Denkmal, welches er allerdings bisher genausowenig erblickt hatte, wie Charis, angekommen zu sein. Jetzt galt es nur noch einen Ort zu finden, von wo aus er alles überblicken  und selbst auch von Charis erblickt werden konnte und wo er gleichzeitig nicht im Regen stand.

Irgendwie nahm ich in dieser Situation gar nichts mehr wahr, weder die Tatsache, daß ich mich mitten in Frankfurt befand, noch das Denkmal, welches fast unmittelbar vor meiner Nase in den grauen Himmel ragte, noch die Nässe. Ich öffnete wieder den Reißverschluß der Jacke und bemühte mich mit den Augen jeden Zentimeter des Platzes einzufangen, um irgendwo Charis zu erblicken. Und dann durchzuckte es mich plötzlich. Da war sie. Etwa zwanzig Meter vor mir tauchte sie auf und kam, nein, lief mit einem Lächeln, welches mich bis heute immer wieder fasziniert, auf mich zu. Und da machte ich auch schon meinen ersten Fehler, an den sie sich wahrscheinlich nicht mehr erinnern kann, der mir aber immer noch bewußt ist und ab und zu spiele ich die Situation in Gedanken von Mal zu Mal erneut durch und versuche sie dann zu ändern, was die Sache aber von Wiederholung zu Wiederholung nur noch stärker negativ erscheinen läßt. Während Charis mich bei der Begrüßung umarmen wollte, streckte ich ihr, warum eigentlich ? – wohl, um Distanz und nicht den Eindruck von Begierde aufkommen zu lassen – die Hand entgegen. Na ja, irgendwie hat sie es überspielt, aber bei jeder neuen Begegnung taucht dieses Bild, wie sie fast zusammenzuckt, stets erneut vor meinem geistigen Auge auf.

 

Lassen wir die beiden erst mal alleine. Ihr erstes Zusammentreffen, und in Frankfurt hatten sie verschiedene Situationen zu bestehen, also diese ersten gemeinsamen Stunden bestimmten maßgeblich auch den weiteren Verlauf ihrer Freundschaft. Eng und doch auch stets mit ein wenig Distanz. Vielleicht ist das auch ein entscheidender Punkt, warum sie bis heute andauert, sich eher verstärkt hat, fast selbstverständlich geworden ist. Wobei es für mich eigentlich immer wichtig war, einen gewissen Abstand zu halten, Nähe nur bis zu einem gewissen Grad zuzulassen. Auch ein Grund, warum Beziehungen  immer wieder an ihre Grenzen stießen.

 

Das begann schon in der Pubertät, Sosias muß ungefähr fünfzehn gewesen sein, als ein erstes, wirkliches Interesse für ein Mädchen deutlich wurde. Deutlich allerdings nur im Bewußtsein von Sosias. Er hatte damals eine Lehre auf einer Bank begonnen und wohnte natürlich noch bei seinen Eltern. Anfang der sechziger Jahre noch ein angesehener Beruf, besondern in dem kleinen Ort in Ostwestfalen. Da war es auch selbstverständlich, daß ein Bankkaufmann, Bankangestellter und natürlich auch der Lehrling täglich im Anzug mit Krawatte erschien, was ihn schon aus der Masse der allgemeinen Einwohner heraushob. Natürlich war damit auch ein Einfluß auf sein Selbstbewußtsein und seine Einstellung verbunden. Das reichte dann, wie wir ja gesehen haben, bis nach Frankfurt.

 

Jedenfalls gab es in meinem Wohnort nur zwei Schreibwarengeschäfte. Ein alteingesessenes, in welchem meine Eltern Kunde waren und ein, sagen wir mal, moderner anmutendes, in das es mich immer öfter hinzog. Nicht, weil es moderner war, sondern ganz einfach wegen des weiblichen Lehrlings. Keine Ahnung, warum mir dieses Mädchen sofort symphatisch war. Vielleicht durch ihr Lächeln, wenn ich den Laden betrat, was allerdings zu ihrer Aufgabe gehörte, ich jedoch sofort auf mich persönlich bezog. So kann ich mich noch ziemlich genau an einen Augenblick erinnern, als ich gerade die Hauptstraße Richtung Bank überquerte und sie auf der anderen Straßenseite erblickte. Aber mehr als einen schüchternen, scheuen Blick gab es nicht, obwohl ja die Straße zwischen uns war. Also genügend Abstand. In Gedanken habe ich zwar immer wieder durchgespielt, was wäre, wenn ich sie angesprochen hätte, es womöglich sogar zu einer Unterhaltung gekommen wäre, aber das durfte damals in der Öffentlichkeit noch nicht sein. Und so sind wir über einen Augenflirt und den wenigen belanglosen Worten im Geschäft auch nie hinausgekommen, zumal ich ja auch nichts falsch machen wollte, um meine kleine Chance nicht zu verspielen. Nun wäre es falsch zu behaupten, daß dieses Verhalten nie von mir gewichen wäre, aber es tauchte immer mal wieder auf.

 

Da war Sosias erster Besuch bei Charis dann doch wesentlich einfacher, zumal er mit ihr nicht alleine in ihrer Wohnung war. Ihre beiden kleinen Töchter gesellten sich sofort dazu, bewirkten aber gleich wieder einen notwendigen Abstand. So traf man sich eine Woche lang jeden Tag, unternahm irgendeine kleine Rundfaht ins Umland, ging Kaffee trinken oder verabredete sich zu einem Essen, ja am Ende der Woche sogar bei ihr zu Hause mit der ganzen Familie.


Aber ist das alles ehrlich ? Nicht so ganz, deshalb sollte ich mich wenigstens etwas berichtigen. Natürlich hätte ich immer gerne ein bißchen mehr gehabt, wie meine eingegangene Ehe ja zeigt. Und natürlich wäre mir eine engere Beziehung zu Charis lieber gewesen, wäre sie mir noch heute, aber dafür müßte ich zum Beispiel über ihre Ehe hinwegsehen, dafür müßte es mir gleichgültig sein, alleine meinetwegen gleichgültig sein, was dadurch zerstört würde. Ein Unding für mich. Lieber zerstöre ich mein Wollen.

 

Charis wußte und weiß dies alles und spielt dieses Spiel nach meinen Regeln mit. Warum ? Da muß man sie schon selber fragen.

 

Es war Sosias erster Sommeraufenthalt in dem kleinen Ort im Schwarzwald. Mitten in den dortigen Sommerferien. Ein wundeschönes Freibad. Charis hatte ihn schon darauf vorbereitet, daß ein Besuch dort mit ihrer jüngsten Tochter nicht zu vermeiden war, obwohl sie wußte, daß es für Sosias fast ein Greul war. Und auch sie war durchaus keine Freundin von Bädern, konnte ihre Abneigung aber ab und zu durchaus überwinden, wenn es darum ging ihren Kindern eine Freude zu bereiten.

Nun, es wurde nicht wirklich ein erfolgreicher Nachmittag, aber Sosias versuchte wirklich, sich leicht, beschwinglich und fröhlich zu geben. Mit nackten Füßen bewegte er sich über das noppenartige Pflaster am Rande des Beckens, ging Eis und Getränke kaufen, versuchte mit dem kleinen Mädchen Fußball zu spielen, obwohl dieses die Spielregeln nicht verstand. Am Ende bescheinigte man sich, einen herrlichen Sommertag verbracht zu haben und hält diese Version bis heute aufrecht. Ja, es gab auf der Wiese zwischendurch wirklich ein paar fast familiär wirkende Augenblicke. Allerdings auch hier mit dem gebührenden Abstand. Selbst das Anschauen in der Badebekleidung geschah irgendwie nicht direkt, sondern aus einem bestimmten Augenwinkel. Aber jener Nachmittag fließt auch bei den heutigen Besuchen manchmal noch in die Gespräche mit ein. Wenn auch zaghaft.

 

Um einer Wiederholung auszuweichen, habe ich meine späteren Besuche dann immer so gelegt, daß sie außerhalb der Sommerferien stattfanden. Und zwar mit der Begründung, den familiären Ferienplanungen der Familie nicht im Wege zu stehen. Und manchmal war auch die inzwischen feste Unterkunft für mich nicht frei. So hat es sich eingebürgert, daß ungefähr die letzte Septemberwoche meine Bühlwoche wurde, wie Charis sie mal getauft hat.

 

Überhaupt gehörte das Element Wasser eigentlich nie zu Sosias bevorzugten Zielen, auch wenn seine ersten Urlaubserlebnisse, selbständigen Urlaubserlebnisse ihn ans Meer trieben.Doch das war mehr der Zeit, den Umständen und der Erwartung geschuldet. So führte mich mein erster alleiniger Urlaub nach Italien. Riccione, Rimmini. Man wollte ja in dem Alter noch etwas erleben, natürlich Mädchen kennenlernen, nicht kontrolliert werden, einfach das Erwachsensein proben. Für Sosias machten die Wochen bei Charis manchmal fast so ein bißchen den Eindruck, wie das Nachholen der Jugend. Nicht, daß sie ihm irgendwie verweigert worden wäre, es gab sie zu seiner Zeit und dort wo er aufwuchs eigentlich fast gar nicht. Nach der Volksschule – so hieß die nach dem Krieg – ging es direkt in den Beruf, also in die Welt der Erwachsenen. Und den Feierabend verbrachte man zu Hause mit den Eltern, also wieder in der Welt der Kindheit. Jugend fand so wirklich nur in den ersten alleinigen Urlaubstagen statt. Und doch war es viel mehr. Eine späte Wirklichkeit hatte sich seiner bemächtigt.

 

So gab es in den folgenden Jahren also jeweils im September ein Treffen im Badischen. Bald eine Selbstverständlichkeit. Und dazwischen hielt man den E-Mail-Kontakt aufrecht, ab und zu auch durch eine SMS abgelöst. Auf diese Art begleitete man auch Fußballspiele, obwohl dieser Sport von Charis nicht gerade übermäßig geschätzt wurde. Aber es war immer ein Grund, einen Abend ein bißchen gemeinsam zu verbringen. Anders ausgedrückt: Man zeigte sich gegenseitig, daß man aneinander dachte. Die neuen Medien machten es eben möglich.

 

Bevor es allerdings zu einem Mißverständnis kommt, muß ich an dieser Stelle erklären, daß es durch Charis nicht nur zu Veränderungen in meinem Leben, sondern auch in meinem Bewußtsein gekommen ist. Zu positiven Veränderungen, für die ich ihr immer dankbar sein werde. Ihre Bemühungen waren natürlich darauf gerichtet, mir jeweils einen unvergeßlichen Aufenthalt zu verschaffen, vergaßen aber auch nie mein Denken, mein Bewußtsein. Für mich eine ganz neue Erfahrung. Ich kannte es weder aus meiner Ehe, geschweige denn aus anderen vergangenen Bekanntschaften. Oder habe ich es früher einfach nie wahrgenommen ?

 

Wirklich wichtig war Sosias vorher lediglich die Freundschaft, die auf einem Campingplatz in Südfrankreich entstanden war. Sein Bruder, schon verheiratet, hatte ihn zu diesem Urlaub, welcher sich in den folgenden drei Jahren wiederholen sollte, mitgenommen. Nun war zelten schon damals nicht nach seinem Geschmack. Doch dieser Umstand verflüchtigte sich schnell als er, auf welche Weise ist heute nicht mehr nachzuvollziehen, ein Mädchen aus Köln kennenlernte, welches mit ihren Eltern auf einem anderen Teil des Platzes in einem Campingwagen die Ferien verbrachte.Für Sosias Verhältnisse kam man sich erstaunlich schnell näher und verbrachte dort bald die gesamten Tage miteinander.Übrigens auch in den Urlaubswochen der folgenden Jahre. Sogar zu einem Besuch in Köln reichte es irgendwann. Aber erlaubt mir, die unmöglich Fahrt dorthin und das nicht gerade erfolgreiche Wochenende einfach zu umschiffen. Jedenfalls hatte es tatsächlich einige Gemeinsamkeiten mit meinen Fahrten zu Charis. Was man von den beiden Damen jedoch nicht behaupten kann.

 

Was aus der Kölner Freundschaft geworden ist ? Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört. Auch nicht von anderen Jugendbekanntschaften aus meiner Zeit als Discjockey. Und selbst eine Dame im Rollstuhl, welche ich im gesetzten Alter ähnlich wie Charis kennegelernt hatte, ist nie wieder in Erscheinung getreten.

 

Und wenn Sosias jetzt abends in dem kleinen nur mäßig ausgeleuchtetem Raum sitzt und liest, dann legt er immer wieder das Buch zur Seite und träumt sich in die Wohnung einer Freundin, die seine erste und wahrscheinlich letzte wirkliche Freundschaft ist. Dann hebe ich den Kopf und lasse ganz langsam meinen Atem durch die Lippen gleiten, der mir so manche Geschichte zu erzählen hat.


Morgen fahre ich wieder für eine Woche in die Gegend, die ich mein zweites Zuhause nenne, nicht nur wegen der Gegend. Und es wird nicht meine letzte Reise dorthin sein, aber keine wird sein wie eine Gewesene. Es gibt immer wieder Veränderungen, die aber zwischen Sosias und Charis nichts ändern.

 

Doch wie sagt sie immer : Alles hat seine Zeit.


Meine Bank

Eigentlich jeden Tag, manchmal auch zweimal besuchte ich sie. Von dem kleinen Städtchen war es nur ein kleiner Fußmarsch hinauf durch die Weinberge. An der ersten Biegung steht übrigens die Bank, der ich im ersten Jahr dort diesen Namen gegeben hatte. Im Hintergrund, an einer kleinen Schräge eine eingezäunte Wiese, auf der damals Hühner zu Hause waren. In den späteren Jahren tauschte man sie gegen Rehe.

 

Nach einem wunderschönen Abend bei Charis und ihrer Familie erklärte man mir den Weg abseits der Hauptstraße und da ich ja durch meine sonstige damalige Tätigkeit zu Hause an nächtliche Spaziergänge gewöhnt war, schlenderte ich vergnügt durch die Ruhe jenseits des Verkehrs durch die Natur. Und dort stand sie, eine kleine helle Holzbank, von der man einen herrlichen Ausblick auf das Umland hatte. Mein Entschluß stand gleich fest: Hier werde ich mich in den nächsten Tagen öfter einfinden und lesen. Ab und zu gab es eine kleine Unterbrechung durch ein paar Spaziergänger oder das Gackern der Hühner welches Gelegenheit bot, den Blick auf den bewaldeten Hügel rechts oder die Dächer der Häuser, sowie des Kirchturms des Ortes ruhen zu lassen.

 

Von dem Ort, in dem er aufgewachsen war, kannte Sosias so etwas überhaupt nicht. Man setzte sich dort nicht einfach auf eine Bank und überließ sich der Umgebung, der Natur. Es gab ja auch keine Natur um die Bank. Und die Bank auch nicht.

Die Hühner, die sich bis an den Zaun dicht hinter der Bank gewagt hatten, holten ihn aus seinen Träumereien zurück. 

 

An einem der nächsten Tage machte ich nur noch kurz einen Abstecher an diesen Ort, um dann weiter zu wandern. Rechts ab, einen kleinen Weinberg hinauf, um einige Kurven. Und dort, wo der Blick ins Land mir gar keine andere Wahl ließ, als stehenzubleiben, Luft zu holen und den Anblick zu genießen, stand eine, nein, standen zwei Bänke. Genau dazwischen ein schmaler Stein mit der Inschrift: Ora et labora

Dieser verkürzte Spruch stammt allerdings aus dem Spätmittelalter und lautet vollständig: Ora et labora (et lege), Deus adest sine mora

„Bete und arbeite (und lies), Gott ist da (oder: Gott hilft) ohne Verzug“

Da sieht man, wo unser heutiges Verkürzen hinführt, wichtige Aussagen werden einfach unterschlagen. Also zog ich aus meinem kleinen Täschchen, welches Charis mir mal vermacht hatte, ein Buch, setzte mich auf die Bank und las ! Und von diesem Augenblick an war dies mein Lieblingsplatz, meine Bank. Ein Ausdruck, der ja nichts weiter bedeutete, als „Lieblingsplatz“.  Etwas, das sich ja durchaus verändern kann, wenn man einen anderen Ort entdeckt hat. Irgendetwas ist immer nur das Schönste von dem, was man kennt, erfahren hat. Da die Möglichkeiten aber unendlich sind, gilt so eine Aussage lediglich für den Augenblick.

 

Mit diesen Gedanken schritt Sosias auf dem Rückweg lächelnd bis zu seiner altern Bank und nahm auch dort noch einen Augenblick Platz.

Vergiß nie, was dich zu dem geführt hat, was du im Jetzt bewunderst


Poststation 

Das ist nur ein Ortsteil, eine sogenannte Reblandgemeinde oder ganz einfach ein kleines Weindorf.

 

Inzwischen gehört der Spaziergang durchs „Städtl“  schon zum Programm der Woche und ist gar nicht mehr wegzudenken. Mehr noch, es ist mein Lieblingsrundgang geworden. Na ja, Rundgang stimmt nicht ganz, denn für den Weg von dem Ort seiner Herberge nach dieser Station benutzt Sosias immer den Bus, um sich dort dann erst mal bei einer Tasse Kaffee und einem Stückchen Kuchen von der Anstrengung zu erholen.

 

Draußen vor dem Cafe, genauer, einem Bäckerladen mit Bestuhlung zu sitzen, in der örtlichen Zeitung zu blättern und dabei die Menschen, meist Einheimische, zu beobachten, läßt mich augenblicklich Teil dieser Gesellschaft, ja, fast des Ortes werden. Das ist in der größeren Stadt, in der ich wohne unmöglich und vielleicht setzt es mich auch unbewußt immer in den kleinen Ort zurück, in dem ich geboren bin. Klar, da existieren nur wenige Erinnerungen, denn meine Eltern sind mit mir schon umgezogen, als ich gerade fünf Jahre war. Später besuchte ich den Ort ein paar Mal für einige Stunden. Und was ich gefunden und mitgenommen habe, war jedesmal die Ruhe die einen umgibt, wenn man meistens alleine durch die Straßen spaziert. In meiner Jugend zog es mich immer in die Großstädte, weil ich dort das Leben vermutete. Heute finde ich es genau in diesen kleinen Orten.

 

Die Bushaltestelle trägt den Namen „Poststraße“, obwohl mir hier noch nie eine Post aufgefallen ist, vielleicht habe ich sie bisher auch nur übersehen oder es gab sie früher mal an dieser Stelle. Eine Postkutsche würde gut ins Bild passen, jedenfalls besser als der Bus. Wenn Sosias diesen verläßt, sieht er gegenüber ein altes, etwas aufgemöbeltes Haus, in welchem ein Restaurant untergebracht ist. „Zum Ochsen“. Charis und Sosias haben dort vor Jahren übrigens schon einmal gespeist. Anschließend hat sie ihm etwas von der Umgebung gezeigt. Sie kennt diesen Ort nämlich aus der Zeit ihres Studiums. Wo sie damals gewohnt hat, weiß er allerdings nicht, aber er mußte an seine „Bude“, seine erste Wohnung während seines Studiums denken. Er wollte immer in die Stadt, die Großstand. Nun gut, es war eine Großstadt, aber nur im Vergleich zu dem Ort, in dem er aufgewachsen war. Sein erstes eigenes Zuhause bestand aus einem einzelnen Zimmer bei einer alten Dame. Ohne Dusche und die Toilette eine Treppe höher. Zudem hatte die Vermieterin die Angewohnheit ständig unter irgendeinem Vorwand bei ihm zu erscheinen. Allerdings verbrachte er nur wenige Stunden am Tag dort. Vormittags mußte er zur Uni und am Abend arbeitete er in einer kleinen Diskothek. Auch so ein Traum von Sosias : Einmal auf einer „Bühne stehen“, Beifall, Publikum. Etwas davon erlebte er als Discjockey.

Ansonsten ließ sich nach Feierabend höchstens die ein oder andere Dame bei ihm sehen und an den freien Abenden schon mal eine Freundin. Allerdings war das Verhältnis zu ihr ähnlich wie zu Charis, wie zu fast allen seinen Freundschaften.

 

Windbeutel mit Erdbeeren und Rhabarber habe ich verzehrt, bevor ich mich auf den Weg heimwärts mache. Durch eine kleine, enge Gasse zwischen Ortsmittelpunkt und Kirche, hinaus in die Natur. Nach wenigen Minuten überquert man einen kleinen Weinbeg. Genau das war es, was mir in der Stadt, in der ich das restliche Jahr verbringen mußte, fehlte. Man kam dort nie wirklich aus der Stadt heraus. Jedenfalls nicht zu Fuß. Und ein Park oder eine kleine Wiese sind eben kein Ersatz. Doch das sind Dinge, die einem in der Jugend auch nicht fehlen, weil man ständig einem Erlebnis nachjagt. Genau dies habe ich hier auch, aber in anderer, in natürlicher Form. Das ich allerdings auch auf dem kleinen Weg zwischen den Reben vor der modernen Technik nicht sicher war, erfuhr ich an der nächsten Biegung.

„Wo bist du ? Magst du heute abend zum Essen kommen ?“

Natürlich mochte ich, auch wenn mich das Piepsen des Handys, nicht die Nachricht, im Augenblick eher störte. Vor allen Dingen die Notwendigkeit antworten zu müssen. Denn das Tippen auf diesem kleinen Gerät nahm bei mir eine lange Zeit in Anspruch. Und die Sicht auf das Geschriebene war auch schlecht, weil die Sonne, über die ich mich soeben noch gefreut hatte, fürchterlich blendete. Technik war eben doch nicht in allem perfekt. Jedenfalls nicht so wie die Natur. Die Trauben hatten diese Schwierigkeit nicht.

Dunkle und helle, an beiden Seiten des Weges leuchteten sie mir entgegen. Eigentlich esse ich keine, wegen des mit ziemlicher Sicherheit anschließend einsetzenden Sotbrennens. In diesen Augenblicken erging es mir jedoch wie Eva im Paradies, die Versuchung war zu groß.

Eine von jeder Sorte und langsam weiter wandern, bevor mich womöglich irgendein Weinbauer vertreiben würde.

 

Sosias mußte, warum auch immer, an die Flüchtlinge, die Vertriebenen denken, die für solche kleinen Freuden sicherlich keine Zeit hatten und haben. Seine Eltern gehörten nach dem Zweiten Weltkrieg auch zu diesen Menschen – aus Pommern und Schlesien kamen sie - . Und er hatte selber noch einen Flüchtlingsausweis zu Hause, obwohl im heutigen Westdeutschland geboren. Damals Besatzungszone und deshalb bekamen auch die Kinder von Flüchtlingen noch drei Jahre nach Kriegsende einen solchen Ausweis. Und wenn man heute über die Flüchtlinge und die nächste Generation von ihnen schimpft, dann müßte ich mich eigentlich auch angesprochen fühlen.

 

Ja, die Menschheit war und ist immer unterwegs, spaziert durch die Natur, wandert durchs Leben und manchmal flüchtet sie sogar vor sich selber. Und der Ort, an dem wir uns gerade aufhalten, ist nur ein Ortsteil, eine Poststation zum Ausruhen.


Literarischer Spaziergang

Weißt Du noch, als wir zum ersten Mal gemeinsam in Baden Baden waren ? Erst hast Du mir die Innenstadt gezeigt und dann landeten wir plötzlich auf der Lichtentaler Allee.Damals haben wir sie nur überquert, was mich allerdings später dazu verleitet hat, sie in ihrer ganzen Länge zu erkunden. Also vom Theater bis zum Kloster. Verlaufen konnte man sich dort nicht. Und überhaupt, Sosias verlief sich nie in einer Stadt, in einer Gegend. Er war es ja gewohnt sich zurechtzufinden durch seine damalige nächtliche Tätigkeit.Und was er einmal gesehen hatte, erkannte er wieder, nachts noch besser als am Tag, er merkte sich Anhaltspunkte, unbewußt.

 

Zu einigen dieser Punkte gab es dann an einem warmen Frühjahrsnachmittag sehr aufklärende, aber auch humorvolle Erläuterungen von zwei Schauspielern des Baden Badener Theaters. Wer da nicht schon alles vor mir seine Fußabdrücke hinterlassen hatte: Clara Schumann, Johannes Brahms, Mark Twain und  Hector Berlioz. Sosias war in Gedanken ganz in diese Zeit – Ende des 19. Jahrhunderts – vertieft und manchmal war es ihm, als hörte er ganz in der Ferne die Musik von Brahms und Berlioz, ja, sah all diese Damen und Herren in einer Kutsche winkend vorbeifahren.

 

Alles um mich herum vergessend, lief ich wie die übrigen zwanzig Teilnehmer hinter den beiden Schauspielern her und vergaß dabei vollkommen den Lärm der Busse die über die Allee fuhren, das Gerede hinter mir, sowie die vielen Menschen die geschäftig telephonierend den Weg entlang schlenderten. Zwei Stunden verbrachte ich so zwischen Stadtmuseum und Theater, den Vorträgen lauschend.

 

Eine ganz andere Art von Spaziergang. Einer der jetzt in der Vergangenheit stattfand. An verschiedenen Orten ging plötzlich der Vorhang hoch und ließ mich eintreten in eine ganz andere, vergangene Welt. Obwohl, war sie wirklich so anders ? Ihre Probleme schienen mir manchmal gar nicht so fern, nur der Hintergrund hatte sich verändert.

 

Von 1863 – 1873 lebte Clara Schumann in Lichtental, einem Ortsteil von Baden Baden und traf sich dort auch mit Johannes Brahms, mit dem sie eine intensive Freundschaft verband. Warum mußte Sosias in diesem Moment an Charis denken ? Am Abend würde er sie treffen und mit ihr essen gehen.So würde diesem schönen Nachmittag also auch noch ein wunderbarer Abend folgen. Sonstige Gemeinsamkeiten zwische Schumann/Brahms konnte er nicht entdecken. Oder wollte es nicht.

 

Ein paar Schritte weiter traf man dann auf einem kleinen Hügel zwischen zwei Bäumen auf Mark Twain.

1878 war er während einer seiner Reisen mit seiner Familie und einem Freund in Baden-Baden zu Gast. In seinem 1880 veröffentlichten Buch "A tramp abroad" hat er im 21. Kapitel für Baden-Baden und sein Thermalwasser in einzigartiger Form geworben und seine Eindrücke auf humorvolle Art wie folgt festgehalten:

Die Ausstattung des Ortes ist so luxuriös, die Wohltat so ausgezeichnet, der Preis so mäßig, und die Schmähungen sind so sicher, dass man sich sehr bald dabei ertappt, das Friedrichsbad anzubeten und heimzusuchen. ... Es ist eine geistlose Stadt, voll von Schein und Schwindel und mickerigem Betrug und Aufgeblasenheit, aber die Bäder sind gut.

 

Ein Schmunzeln ging durch die Reihen, man muß auch über sich selber lachen können. Und an einem so sonnigen Tag, auf einer so wunderbaren Allee kann man diesem Menschen natürlich nicht gram sein. Im Gegenteil, heute ist man stolz, daß er diese Stadt besucht hat. Gleichsam wäre er es wahrscheinlich auch, daß man seiner nach so langer Zeit noch auf einem Spaziergang gedenkt.

 

Und dann war da noch dieser Hector Berlioz, der unzählige Briefe an seine Schwester schrieb und sie stets mit Ihr Hector Berlioz unterschrieb. 1862 dirigierte er dann die Oper Beatrice und Benedict in Baden Baden. Irgendwie konnte man die Musik in dieser Anlage hören. Hätte man gekonnt, wenn nicht gerade eine Touristengesellschaft über die Allee gezogen wäre. Dann war der offizielle Literaturspaziergang vorbei. Mit einem „schade“ verließ ich die beiden Schauspieler und schlenderte langsam zurück Richtung Stadtmitte. 

Bis irgendwann, Ihr Hector Berlioz.

Alles hat seine Zeit.


Spaziergang mit Charis

Es war mal wieder der letzte Tag einer Woche bei Charis. Die letzten Stunden vor der Abfahrt, die wir so oft für einen Spaziergang nutzten.Natürlich zeigte mir Charis dabei auch immer etwas von der Gegend, von ihrer täglichen Umgebung. Oft waren es die Wege, auf denen sie ihr Lauftraining absolvierte, aber auch welche, die sie wohl schon oft mit ihrer Familie beschritten hatte. Man spürte es an den Hinweisen auf zunächst unscheinbare Dinge, die jedoch bei genauer Betrachtung zu wunderbaren Erscheinungen wurden. Manchmal ging es durch einen kleinen Wald, in dem sie mit viel Freude Kastanien sammelte, einmal am Rhein entlang oder durch Wiesen und Felder bis zu einem kleinen Fluß.

Ob sie sich noch an den Reiher erinnert, dem ich hintergelaufen bin ? Er war schneller als Sosias. Wo mag er sich in diesem Moment aufhalten ? Wieder an der Brücke, von der Charis die beiden beobachtet hatte ? In seinem Hoheitsgebiet, daß Sosias ihm doch gar nicht streitig machen wollte. Nur ein Photo begehrte er, um etwas von dem Abglanz, der Schönheit mit nach Hause zu nehmen.

 

Und so bunt, vielfältig und spannend wie die Natur um die beiden herum, war auch ihre Unterhaltung. Meistens hörte Sosias ihr – ganz im Gegenteil zu den Gesprächen beim Essen oder zu Hause, wo er selber die meiste Zeit redete – begeistert zu und gab nur ab und an einen Kommentar ab.

An Themen fehlte es ihnen übrigens nie. Man konnte ja über alles reden: Egal ob über die Arbeit, die Familie, vielleicht auch nur über das Essen, oft über die Literatur. Genau betrachtet, war es wie in den E-Mails die sie sich wöchentlich zuschickten. Und doch wieder ganz anders, weil der Hintergrund , die Umgebung, das sich Ansehen beim Reden viel mehr Freiheit zuließ.

 

Wie viel anders waren dagegen meine Spaziergänge daheim. Ja, auch da unterhielt ich mich oft mit Charis, aber natürlich immer nur in mir selber. Es waren Gespräche mit mir und mit ihr, doch stets durch mich alleine. Innere Selbstgespräche, die seit jeher zu mir gehörten. Unzählige Menschen nahm ich in meinem Leben so schon mit auf meinen Spaziergängen. Und keiner weiß mehr, was sie mir sagten, was ich ihnen antwortete. Manches bedauer ich, über vieles bin ich froh. Und sehr vieles ist für immer vergessen. Manches allerdings kommt bei einer Unterhaltung dann unbewußt doch noch zum Vorschein.

 

An einem Nachmittag, Charis hatte Sosias mal wieder zu einer Fahrt eingeladen, landeten beide auf einer Anhöhe, einem kleinen Parkplatz, und sie erzählte ihm etwas über das Hotel gegenüber. Sosias hörte nur halbherzig zu, weil ihn irgendwelche Hotels nicht sonderlich interessierten. Etwas, das er später einmal sehr bereute. Doch zunächst ging es über einen ziemlich nassen Waldweg über Steine und Gehölz zu einer kleinen Hütte, über deren Eingang ein Namensschild hing: Herta –Hütte. Eine Begründung für den Namen wurde nicht mitgeliefert und Charis kannte die Geschichte dahinter wohl auch nicht. Also ruhte man kurz aus, betrachtete das weite Land davor, trank einen von ihr mitgebrachten Kaffee und machte sich wieder auf den Rückweg, auf dem man sich fast noch verirrt hätte.

 

Erst einige Jahre später erinnerte ich mich wieder an diesen schönen Ausflug und erlebte ihn auf eine andere Art noch einmal. Beim Lesen eines Buches mit dem Titel „Bühlerhöhe“. Das war nämlich der Name des berühmten Hotels. Und auch die Herta Hütte hatte hier ihren Auftritt. Erinnerungen wurden wach und ich hätte jetzt diese Wanderung gerne noch einmal vollzogen.

So können Spaziergänge auch zu Erinnerungen werden. Zu Reisen in die Vergangenheit.

 

Alles hat seine Zeit.


Briefgespräche

 

Samstag, nein Sonntag ist es inzwischen, und ich lese immer wieder die Mail von Charis und entdecke immer wieder Neuigkeiten. Nein, nicht Neuigkeiten in der Mail und eigentlich auch keine Neuigkeiten von Charis. Ich glaube, ich muß es anders formulieren. Natürlich erzählt sie mir unheimlich interessante Sachen, die ich noch nicht weiß, aber es sind eigentlich keine Neuigkeiten,weil ich sie, um es vorsichtig auszudrücken, zumindest geahnt habe. Und genau an dieser Stelle wirft sich mir die Frage auf: ist die Verbindung zweier Bewußtseine möglich, auch wenn die Entwürfe der Seins in der Realität unterschiedlich sind, weil die Realität unterschiedlich ist?

 

Bevor Sosias seine Mail abschickte, ging er sie immer noch einmal durch und stellte sich dabei Charis vor, wie sie die Nachricht las, wie dabei ihre Gesichtszüge sich bewegten, was sie wohl dabei dachte, wie sie es verstand und aufnahm. Saß sie jetzt in ihrem Wohnzimmer, an ihrem Laptop, an ihrem Handy, bei einer Tasse Kaffee oder in ihrem Büro und überflog die Zeilen einfach. Kam das, was er sich beim Schreiben dachte, auch wirklich so an ? Hatte er sich vielleich falsch ausgedrückt und sie schüttelte jetzt einfach den Kopf ? Es gab ja unzählige Möglichkeiten, aber er konnte das Geschehen jetzt nicht mehr beeinflussen.Genau deshalb war die Zeit bis zur Antwort so quälend.

 

Diese E-Mails schrieben sich beide seit ihrem Kennenlernen. Am Anfang mindestens zweimal in der Woche, jetzt nur noch jedes Wochenende. Wobei eigentlich nur Sosias schrieb. Insofern waren es auch keine Gespräche, mehr Selbstgespräche. Und doch hielten diese Briefe die Verbindung zwischen beiden aufrecht.

 

Und um ehrlich zu sein, wußte ich, glaubte ich zumindest zu wissen, was sie beim Lesen dachte, wie ihre Antowort wäre. Eigentlich hatte ich dieses Gefühl bei jedem Brief, egal an wen. Meistens auch bei Gesprächen, weil ich mein Gegenüber beim Sprechen beobachte, um mir dann die Gedanken vorzustellen.

 

Das Schreiben von Briefen hat mir schon immer eine besondere Freude bereitet. Bereits während der Bundeswehrzeit habe ich an meine weiblichen Bekannten – und es waren wirklich nur Bekannte – regelmäßig Briefe verschickt und auch stets Antworten in selbiger Form erhalten. Wenn morgens beim Appell die Post verteilt wurde, war Sosias fast immer mit dabei. Ein Schmunzeln ging dann durch die Reihen, denn es wurde natürlich etwas vermutet. Doch davon abgesehen, sind handgeschriebene Briefe oder Karten auch heute noch etwas Besonderes für mich. Und manchmal tausche ich darum solche inzwischen seltenen Schriftstücke gerne mit Charis aus. Es ist dann immer ein außergewöhnlicher Augenblick, denn handschriftliche Zeilen sagen oft mehr aus als nur ihren Inhalt. Sie sind gleichsam ein persönliches Gespräch.

 

Ach ja, an meinem letzten Geburtstag habe ich von Charis ein ganz besonderes Geschenk bekommen: Einen Bleistift. Klar, daß ich meinen nächsten handgeschriebenen Brief damit an sie verfassen werde.

 

Vielleicht ist diese Art der Mitteilung nicht mehr zeitgemäß, doch man sollte sie, wie so manch andere Dinge, nicht vergessen – auch wenn alles seine Zeit hat.


Reisen

Schopenhauer äußerte sich einmal wie folgt zum Reisen: Aber an den schönsten Stellen möchte man ja gar nicht nur sehen, sondern bleiben, gar nicht reisen, weiterreisen, sondern wohnen.

Das stimmt irgendwie mit dem Denken von Sosias überein, wenn er mal wieder bei Charis zu Besuch ist. Inzwischen übrigens zweimal im Jahr. Jeweils im Frühjahr und zu Beginn des Herbstes. Ja, bleiben möchte Sosias, vielleicht auch wohnen, doch zu Hause hat er immer noch eine Aufgabe, eine, die er nicht einfach beenden kann und auch nicht will.

 

Vor ungefähr acht Jahren hatte ich angefangen, meine Eltern zu pflegen und nun, wo meine hundertjährige Mutter alleine in einem Altenheim wohnt, kann ich nicht einfach davonlaufen. Nur diese paar Wochen im Jahr nehme ich mir Urlaub. Ein Wort, welches übrigens früher nie bei mir im Vordergrund stand. Obwohl meine Eltern jedes Jahr zweimal in den Urlaub fuhren, aber erst in den späteren Jahren. Als Kind habe ich so etwas nie erlebt, konnten wir uns nach dem Krieg einfach nicht leisten. Etwas ganz Besonders war da schon ein zweiwöchiger Aufenthalt in einem sogenannten Schullandheim. Vom Gymnasium aus. Braunlage im Harz. Und besonders sollten diese Tage wirklich werden. 13. August 1961.Bau der Mauer. Da war ich dreizehn Jahre. Mein erster  "Urlaub" -alleine.

 

Später, als ich den Führerschein gemacht hatte und ein eigenes Auto besaß, gab es dann die ersten Reisen. Nach Österreich. Pünktlich zur ersten Mondlandung der Amerikaner waren wir dort in einem kleinen Dorf gelandet, welches für das große Ereignis schon aufgerüstet hatte. Wahrscheinlich das erste "Public Viewing". In der Turnhallte stand ein Schwarz/Weiß-Fernseher. Bei flackernden, fürchterlich unscharfen Bildern haben wir dann in der total überfüllten Halle (fast alles Touristen) die Sensation verfolgt. Außer diesen ebenfalls unscharfen Erinnerungen ist in meinem Gedächtnis davon allerdings nichts hängengeblieben. Hinterher wurde das Gesehene jedoch in Gesprächen immer wieder angezweifelt. Die gängigsten Behauptungen in den folgenden Tagen, Wochen, ja Monaten: Das war nur ein Film, den sie uns vorgespielt haben. Die sind nie auf dem Mond gewesen. Heute würde man es Lügenpresse nennen. Doch zu jener Zeit waren solche Manipulationen wohl noch gar nicht möglich. Aber den Zweifel am Wahrheitsgehalt der Medien gab es, wie man sieht, schon vor fünfzig Jahren.

 

Sosias schaute aus dem Zugfenster. Noch eine knappe Stunde, dann war er am Ziel. Charis hatte gerade in einer SMS nachgefragt, wo er sich im Augenblick befinde. In Gedanken war er in der Vergangenheit. Italien, seine erste große Flugreise. Schweden als Tramper erkundet. Frankreich mit seinem Bruder und mehrmals im damaligen Jugoslawien. London hatte er auch gesehen. Aber dann war es irgendwann vorbei mit dem Urlaub, mit dem Reisen. Es hatte ihn auch nie wirklich begeistert. Jedenfalls das Reisen selbst nicht. Er wollte immer nur mal weg von der Eintönigkeit des Alltags, raus aus dieser kleinen Stadt. Der Satz von Goethe: „Man reist ja nicht um anzukommen, sondern um zu reisen“, traf auf ihn nicht zu. Mehr Kafka. Die Szene aus „Der Aufbruch“ fiel ihm ein: „Kennt der Herr sein Ziel ?  -  Ja, Weg-von-hier, das ist mein Ziel.“ Und dann war da ja auch noch Charis. Eine Woche gehörte er immer fast zur Familie. Dieses Treffen war natürlich das Entscheidende. Doch das alleine war es nicht. Obwohl es ohne Charis auch nichts war.

Sofern ich in diesem wunderschönen kleinen Ort aus dem Zug steige, bin ich ein anderer Mensch. Einer, den ich nicht beschreiben kann, aber mein Bewußtsein wechselt sich jedesmal aus. Kein Gedanke an zu Hause, keiner an all die Dinge, die ich dort hinter mir lasse.

 

Durch Reisen, so der Autor Michael Roes, lernen wir aber auch andere Seiten in uns selber kennen, wir sind auf Reisen jemand anderes als in anderen Situationen oder zu Hause. Oft habe ich mir schon die Frage gestellt, wie es ohne Charis wäre. Und wie, wenn ich eines Tages vielleicht meinen Wohnsitz nach dort verlegen würde. Sicher nicht das gleiche Gefühl und schon gar nicht so intensiv. Und doch, es bliebe in meinem Bewußtsein wohl stets eine Reise.

 

Jede Reise, auch die letzte, beginnt im Kopf, denn dort finden auch die Vorbereitungen und die wahren Abenteuer statt.
 Warum halten es Kinder nie lange an einem Ort aus ? Weil sie spüren, daß es noch so vieles zu entdecken gibt, aber das man dazu immer weiter muß, über den augenblicklichen Standpunkt hinausschauen, um mehr zu sehen, mehr zu verstehen. Nicht nur der große Schritt auf dem Mond, auch ein kleiner Schritt, ein Gedanke, vielleicht ein Traum kann schon eine Reise sein .Und auch lesen und schreiben ist doch eigentlich nichts weiter als reisen.Wenn man mich fragt, warum schreibst du, dann antworte ich manchmal, weil ich reisen möchte.

Ankommen.

 

 

Reisen heißt auch ankommen. Aber wie kommt man an ? Man kann auf diese oder jene Art ankommen. Man sieht das Vertraute oder man sieht das Fremde. Der Ort vereinnamt mich. Vielleicht auch ich den Ort. Die Zeit entschwindet hier.

 

 

Sind wir wirklich wir oder nur eine Person die wir gerne sein möchten.

 

„Aber alles hat seine Zeit. Wie das Kommen und Gehen der Gezeiten. Daran kann niemand etwas ändern.“

Haruki Murakami – „ Mister Aufziehvogel“



Und danach ?


Manchmal möchte ich die vielen nicht gefragten Fragen beantworten,

mit nicht gesprochenen Worten,

über nicht gedachte Gedanken,

die zu nicht getanen Taten führen.

 

In Anlehnung an Ruprecht Volz im Nachwort zu „Peer Gynt“ von Henrik Ibsen.

 

Und dann fahre ich immer wieder zu Charis ohne das irgendetwas davon geschieht. Sind die Besuche schon Gewohnheit geworden ? Sind es eigentlich noch Besuche ? Wen besuche ich? Den Ort oder die Person ? Oder fliehe ich nur vor mir zu mir an einen anderen Ort ?

 

Doch eines ist für mich sicher: Ohne die Verbindung zu Charis und ohne die Fahrten zu ihr, wäre alles andere nichts.

 

Aber wie wird die Zeit danach aussehen ? Sosias weiß, daß der Augenblick kommen wird, der ihm klarmacht, du kannst nicht mehr fahren. Das Alter wird ihn vor die Tatsache stellen. Vielleicht auch eine Krankheit. Und es ist ihm auch bewußt, daß Charis dann nicht die Reise zu ihm antreten kann. Man wird sich eventuell noch eine Zeit schreiben, auf irgendeinem Kanal, wie er es immer nennt, aber auch das wird bald versiegen.

 

Nun taucht diese Situation ja nicht zum ersten Mal vor seinen Augen auf, denn schließlich ist Charis eine ganze Generation jünger als er. Aber bisher lag der Zeitpunkt des Eintritts immer noch eine ganze Strecke in der Zukunft. Doch allmählich kam er näher.Und zwar mit erhöhter Geschwindigkeit. Jedenfalls hatte es in seinem Bewußtsein diesen Anschein.

Natürlich gab es keine Antwort auf diese Frage, denn niemand kann in die Zukunft schauen. Wir können uns nicht, wie ich an anderer Stelle mal gesagt habe, in die Zukunft erinnern. Nur eins ist bestimmt: Alles hat seine Zeit.



" Es sei wie es wolle,

Es war doch so schön ! "


Alfred Kerr




 

Anmerkungen:

 

Im Buch Kohelet heißt es in Kapitel 3: „Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit [ … ] eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen, eine Zeit für die Klage und eine Zeit für den Tanz.”

 

Kohelet (hebräisch קהלת, „Versammler“, „Gemeindeleiter“)(auch: Prediger; abgekürzt Koh oder Pred; hebräisch קֹהֶלֶת „Versammler“) ist ein Buch des Tanach, das dort zu den Ketuvim („Schriften“) gehört. Im christlichen Alten Testament (AT) wird es zu den Büchern der Weisheit gezählt.

 

 

Übrigens:

 

Sosias und Charis

Nur die Namen gleichen den Personen aus Kleists Amphitryon ?

 

 






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