Safran Foer Jonathan

 

Jonathan Safran Foer

*21.02.1977  in Washington D.C.


Werke unter anderem :

Extrem laut und unglaublich nah   2005

Tiere essen   2009

 

Auszeichnung

2003 Rolf-Heyne-Buchpreis

 

Extrem laut und unglaublich nah

Oskar Schell ist altklug und naseweis, hochbegabt und phantasievoll.

Eine kleine Nervensäge, die schon mit neun Jahren eine Visitenkarte vorweist,

auf der er sich als Erfinder, Schmuckdesigner und Tamburinspieler ausweist.

Vor allem aber ist Oskar todtraurig und tief verstört.

Nachdem sein Vater beim Angriff auf das World Trade Center ums Leben kam,

will er herausfinden, warum Thomas Schell sich ausgerechnet an diesem Tag dort aufhielt.

Mit seinem Tamburin zieht Oskar durch New York

und gerät in aberwitzige Abenteuer.

 

 

 

Mein Einwurf

Und da läuft uns schon wieder Oskar über den Weg, der wir doch alle manchmal gerne sein würden, oftmals auch ohne es zu wollen sind. Nein, ich mag das Buch nicht, ich genieße es. Jedes Wort, jeden Satz, jede Begebenheit. Nicht zu vergessen, die Bilder dazwischen. Da halte ich jedesmal inne und dann sehe ich die Geschehnisse vor mir, besser, bin plötzlich mitten drin, nehme den Schlüssel in die Hand, sehe ihn vor mir hängen und "spüre" beim Umblättern den Einschlag ins Bürogebäude. Erinnere mich gleichzeitig daran, wie oft ich früher in einem Geschäft einen Kugelschreiber oder einen Federhalter ausprobiert und auch die Farbe oder meinen Namen geschrieben habe. Hast Du mal versucht, blau mit roter Farbe zu schreiben und dann blau zu lesen? Da gibt es wirklich eine Sperre, weil der Entwurf des Seins zunächst durch das Sehen bestimmt wird, welches das Wollen verdrängt. Das ist ja auch das Phänomen der Begegnung. Der Grund, warum wir uns auf den ersten Blick mögen oder auch nicht. Verstehen oder nicht. Die erste Begegnung entscheidet über so viele Dinge. Was ist die erste Begegnung ? Der erste Blick, das erste Wort, das Auftauchen des anderen überhaupt, egal in welcher Form und in welcher Situation ? Wir erleben es jeden Tag unzählige Mal, jedoch meistens unbewußt, am Rande, jenseits dessen, was unser Sein verarbeitet.

Was gibt es schöneres, als einem Kind einen Augenblick Freude zu bereiten. Wieviel Negatives müssen sie in ihrem späteren Leben noch erfahren, ohne daß wir es wirklich vermeiden können. Und so sollten wir jede Situation, jede Chance nutzen, um ihnen ein bißchen Glück zu bereiten.
Irgendwann könnte es zu spät sein, aber dann haben wir nicht mehr die Möglichkeit es zu revidieren. Dann vergleichen wir irgendwann die Uhren und müssen feststellen, daß die Zeiten nicht übereinstimmen. Nur, welche Zeit die richtige ist, vermag uns keiner zu sagen und schon gar nicht, ob unsere Zeit noch ausreicht, die richtige Straße zum Ziel zu finden. Die Straße, auf die wir auch unsere Kinder mitnehmen können, damit sie nicht umherirren und keine Antwort bekommen und in die endgültige Hilflosigkeit geschickt werden.
 Der kleine Oscar von Jonathan Safran Foer ist in solch einer Situation. Als ich auf ansonsten weißen Seiten mindestens fünf Mal den Satz: "Können Sie mir bitte sagen, wie spät es ist ? " gelesen hatte, mußte ich innehalten und einige Zeit überlegen, woran mich dieser Satz, der doch hier bewußt immer wieder herausgehoben wird, erinnerte. Und dann wußte ich es plötzlich wieder. Es war Kafka und sein parabelartiges kleines Prosastück - ich nenne es mal so, obwohl er es in einer handschriftlichen Notiz einfach als Kommentar bezeichnet - : "Gibs auf".

Die Zeit als ein Ordnungsbegriff. Der Mann bei Kafka irrt genauso durch die Straßen - als Bild für die Entscheidungen - wie Oscar bei Foer. Auf der Suche nach dem Bahnhof, dem Schloß für den Schlüssel, dem Ziel. Wir sollten nicht die Turmuhr sein, die die Zeit vorgibt, wobei die Kinder nicht wissen, ob sie richtig oder falsch ist und in welchem Verhältnis ihre eigene Uhr dazu steht. Denn so bekommen sie nie die Chance, ihren eigenen Weg zu finden und niemand, nicht mal eine Ordnungsmacht, wird ihnen später helfen. Entmutigung und Depression wären das Ergebnis. Oscars Gedanken bei der Hamletaufführung machen es deutlich.
 Also muß es unsere Aufgabe sein den Kindern stets die richtige Uhrzeit und die genaue Wegbeschreibung zu liefern, damit sie den Bahnhof ohne fragen zu müssen rechtzeitig erreichen, um den Zug zu ihrem eigenen Lebensziel nicht zu verpassen, damit es ihnen nicht wie Kafka geht  

Kafka : " Gibs auf"

Hinweis von mir: Der Titel stammt nicht von Kafka, sondern wurde später von einem Freund von ihm, dessen Namen ich vergessen habe, hinzugefügt. Bei Kafka findet sich der Text ohne Titel.

 „Es war sehr früh am Morgen, die Straßen rein und leer, ich ging zum Bahnhof. Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich, dass es schon viel später war, als ich geglaubt hatte, ich musste mich sehr beeilen, der Schrecken über diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher werden, ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos nach dem Weg. Er lächelte und sagte: ‚Von mir willst du den Weg erfahren?‘ ‚Ja‘, sagte ich, ‚da ich ihn selbst nicht finden kann‘. ‚Gibs auf, gibs auf‘, sagte er und wandte sich mit einem großen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.“

Und dann habe ich in " Extrem laut und unglaublich nah" die Beschreibung von der Bombadierung Dresdens gelesen und gleich anschließend die unglaublich schöne Geschichte von dem Verschwinden des "Sechstens Bezirks" in New York. Beides gehört ja zusammen, beides ist eine Geschichte, nur erzählt in zwei verschiedenen Versionen. Und dann mußte ich darüber nachdenken, ob dies nicht tagtäglich und immer wieder geschieht, nur, daß wir es heute gar nicht mehr wahrnehmen. Wie oft wird in unserer Welt Dresden bombadiert und wie oft verschwindet der sechste Bezirk? Und viel wichtiger: Wieviel Dresden und wieviel sechste Bezirke gibt es eigentlich und wird es noch geben? Extrem laut sind Bombadierung und Verschwinden und unglaublich nah Dresden und New York. Nur, wir merken es gar nicht mehr.

Keine Ahnung, in welchem Augenblick gerade jemand diese Zeilen ließt. Nein, ich möchte niemanden in eine traurige Situation versetzen, im Gegenteil. Kraft schöpfen müssen wir aus all diesen Dingen, um das Schloß für unseren Schlüssel zu finden, damit sich die Tür zu unserer Freiheit öffnet. Der schlimmste aller Tage ist nicht das Ende, sondern der Anfang, denn irgendwo findet sich das richtige Schloß, wir dürfen nur nicht aufhören zu suchen. Wir überleben nur als Oscar. Mal als der mit der Blechtrommel, mal als der mit dem Tamburin. Entscheident ist nicht das Instrument, sondern der Wille den Takt vorzugeben und ihm zu folgen.

Jemand hat mir die berechtigte Frage gestellt, was sich im Kopf dieses Autors abspielen muß, um eine solche Geschichte zu erzählen. Und er sagt noch genauer, im Kopf eines so jungen Autors. Aber damit gibt er eigentlich indirekt auch schon die Antwort auf die Frage. Dieser junge Mensch, dieser Oscar sucht nach der Antwort auf eine Frage, auf die Frage nach dem Wie und dem Warum. Einen Schlüssel hat er, aber kein Schloß. Die Antwort steht aber schon im Titel: Extrem laut und unglaublich nah.
Wie empfindet denn ein Kind heute unsere Welt? Ein Kind - und Oscar ist, wie es scheint, unheimlich intelligent, weiß mehr als Kinder sonst in seinem Alter. Aber es scheint nur so, denn Kinder sind intelligenter, als wir Erwachsene es meinen, weil jedes Kind im Alter von sechs Jahren eigentlich schon alles hat, um erwachsen zu sein, voll entwickelt ist und "geistig ausgewachsen". Es muß jetzt nur noch gefördert werden, seine voll entwickelten Anlagen müssen dazu gebracht werden, Wirkung zu erzeugen, erzeugen zu können, sein vorhandenes Wissen und Können anwenden zu können und wie ich immer sage und was ich damit meine, sich entsprechend seinen vorhandenen Fähigkeiten entwerfen zu können. Dies beinhaltet auch, es muß Antworten auf seine Fragen bekommen. Aber Oscar bekommt keine Antworten, weil die Menschen, die er fragt, viel zu sehr mit sich selber beschäftigt sind. Ihnen geht es nur um ihre eigenen Probleme. Oscar ist nur ein Blitzableiter, jemand,den sie benutzen, um sich mal auszusprechen oder um aus ihrem düsteren Sein für einen Augenblick herauszukommen. Oscars Wie und Warum interessiert sie eigentlich gar nicht. Und genau darum findet Oscar das Schloß nicht. Oma und Opa, egal von welcher Seite ihre Vergangenheit auch betrachtet wird, haben nur mit sich selber zu tun. Sie versuchen ihre Probleme zu lösen, indem sie ihr Sein zum Nicht-Sein erklären. Aber ich kann nur meine Entwürfe nichten, nicht mich selber und nicht meine Umgebung, meine Begegnung, meine existierende Situation.
Was in dem Kopf des Autors vorgeht ? Entweder der Versuch der Bewältigung der eigenen Konflikte oder der Not-Ruf an die Welt: Es ist alles extrem laut und unglaublich nah. Warum seid ihr dann nicht in der Lage, Antworten zu geben ? Erklärt Euren Kindern das Wie und Warum, damit sie keine Bleifüße bekommen. Und wir sind es, die die verdammte Pflicht dazu haben. - Ein Kind sucht ständig nach Antworten, weil es sich die Welt nicht erklären kann, aber es bekommt keine, weil wir Erwachsene sie uns auch nicht erklären können. Auch wir haben viele Schlüssel, die nirgendwo passen. Wir wissen viel, aber wenn es darauf ankommt, fehlt auch uns die Antwort. 9/11 und Japan sind nur zwei Beweise, auf den Rest verzichte ich an dieser Stelle.
 Ein Danke,dem Autor, der es in so beeindruckender Weise schafft, diese Botschaft in unser Bewußtsein einzuhämmern.

Jedenfalls in meins.

Und noch etwas wird deutlich,daß wir alles, was wir in der Vergangenheit falsch gemacht haben, in der Gegenwart nicht mehr wenden, weil wir nichts rückgängig machen können, weil wir uns nicht an irgendeinen Punkt in der Vergangenheit zurücksetzen können, um dort noch einmal neu beginnen zu können.Wir können immer nur vom Jetzt aus fortfahren. Die Vergangenheit können wir nicht ausgraben, um dann so zu tun, als habe es sie nicht gegeben. Wenn wir dies versuchen, werden wir nur Leere finden. Aber wir können die Vergangenheit auch nicht vergraben, um sie zu nichten. Oscar hat am Ende begriffen, daß der Konjunktiv keine Lösung ist, sondern nur aus Wünschen besteht. 

Traum eben, aber nicht Realität. Die ist extrem laut und unglaublich nah.


 

 

 

 

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