Loschütz Gert






Gert Loschütz

 

*9. Oktober 1946 in Genthin (Sachsen-Anhalt)


Werke unter anderem:

 

Ein schönes Paar -  Roman, 2018

Besichtigung eines Unglücks – Roman, 2021

 

Auszeichnungen unter anderem:

 

2018: Nominierung für den Deutschen Buchpreis (Longlist) mit Ein schönes Paar

2021: Longlist zum Deutschen Buchpreis mit Besichtigung eines Unglücks

2021: Wilhelm Raabe-Literaturpreis für Besichtigung eines Unglücks




 

Besichtigung eines Unglücks

 

Im Dezember 1939 kommt es vor dem Bahnhof von Genthin zum schwersten Zugunglück, das sich jemals auf deutschem Boden ereignet hat. Zwei Züge prallen aufeinander, zahlreiche Menschen sterben. In einem davon sitzt Carla, die schwer verletzt überlebt. Verlobt ist sie mit Richard, einem Juden aus Neuss, aber nicht er ist ihr Begleiter, sondern der Italiener Giuseppe Buonomo, der durch den Aufprall ums Leben kommt. Das Ladenmädchen Lisa vom Kaufhaus Magnus erhält den Auftrag, der Verletzten, die bei dem Unglück alles verloren hat, Kleidung zu bringen. Aber da gibt Carla sich bereits als Frau Buonomo aus. Was versucht sie zu verbergen?



Mein Einwurf


Schon gleich am Anfang kommt einem etwas entgegen, was einen nicht erwarten läßt, an einem friedlichen, lebensfrohem Ort gelandet zu sein. Wo man sich wohlfühlt. “ Ein ochsenblutrot angestrichener Hauswürfel". Und noch dazu am Ein-und Ausgang des Ortes. Der Bahnhof. Bis an das Gebäude scheint das Blut gespritzt zu sein. Dezember 1939 war es, als zwei Züge zusammenprallten. Wie sagte später der Heizer Stuck: “Die vielen Toten“. Und im September hatte es ja auch noch einen anderen Zusammenprall gegeben, nicht in Genthin, nicht von zwei Zügen. Zwei Länder, die ganze Welt.  “Die vielen Toten“. 

Der Autor spricht von einem Unglück, nicht von einem Unfall. Letzteres ist ein plötzliches, genau bestimmbares Ereignis, das Unglück ist die Folge dieses Ereignisses. Um dessen Besichtigung geht es dem Ich-Erzähler also in erster Linie. Besichtigen will er es, also genau betrachten, die Hintergründe erfahren, er ist ja Journalist.

Damals gab es auch eine Untersuchung, aber man hatte nicht das Gefühl, daß man die Ursache oder gar die Schuldigen ermitteln wollte. Es geht alles nach Vorschrift und keiner traute sich, eine wirkliche Aussage zu machen, die gegen die Kriegsvorschriften oder als Kritik an ihnen ausgelegt werden konnte. Gegebenheiten wurden dadurch zum Teil verfälscht, nicht berücksichtigt. Es gab also keine Aufklärung des Unfalls, er wurde „ausgeleuchtet“, besichtigt. Alle hatten Angst, man könne ihnen eine Schuld anhängen. Die Toten, die Verletzten, sie waren nur zweitrangig. Das System, die Regierung durfte nicht beschädigt werden. 

Vier Sekunden müssen wohl zu dem Unfall geführt haben. Reichen vier Sekunden für einen Angriffsbefehl ? Alle Beteiligten haben es in beiden Fällen kommen sehen, konnten oder durften es jedoch nicht verhindern. weil keiner die Warnsignale mitbekommen hatte, mitbekommen wollte. Die Flucht begann, vor dem, was der Unfall angerichtet hatte.

Und was ist mit den Folgen der Ereignisse ? Mit dem sich daraus ergebenem Unglück? Es ist spürbar bis in die Nachkriegszeit. Der Ich-Erzähler – und hier wird es wohl autobiographisch – erfährt es mehr zufällig. Der Lebenslauf seiner Mutter, seiner Familie spielt in diesen Unfall hinein. In den vom Dezember und den vom September 1939. 

Und sein eigenes Leben ? Seine vor dem Mann der verheirateten Yps verheimlichte Beziehung ? Nähert er sich jetzt auch einem Unfall mit einem anschließendem Unglück ? In einem ochsenblutrot angestrichenem Haus.


"...und als ich sie (die Augen) wieder öffnete, war es dunkel, die Lampen waren ausgeschaltet, so dass ich Yps sehen konnte, die ausstieg und auf das Haus zukam.“


Man kann eben alles zerstören, egal ob Sache oder Mensch. Vielleicht sitzen auch wir schon in so einem Zug, aber es ist nicht möglich, einen Unfall vorauszusagen. Und was ist, wenn es plötzlich geschieht ? Auch nach uns wird das Unglück nur zu einer traurigen Nachricht und einer Besichtigung reichen, weil es wie immer keine Aufklärung geben darf. Nichts sehen - nichts hören - nichts sagen.






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