Autorenlesungen2019

 

Autorenlesungen

 

 

 

Deutsche Literatur der Gegenwart

2019

 

  Gedanken -

                                beim Zuhören geboren

 

Doron Rabinovici - Judith Kuckart - Andreas Maier - David Wagner - Julia Schoch - Lea Streisand - 

Ulrich Woelk - Michael Kumpfmüller - Eugen Ruge

 

 

 

 

Doron Rabinovici 

liest aus „Die Außerirdischen“ - 14.10.2019

 

Geboren 2. Dezember 1961 in Tel Aviv

Österreichischer Schriftsteller und Historiker, der seit 1964 in Wien lebt. Studierte Geschichte, Ethnologie, Medizin und Psychologie in Wien.

In den 1980er Jahren Gründung des „Wiener Freundeskreises der israelischen Friedensbewegung Friede Jetzt“.


Werke unter anderem:

2004 Der neue Antisemitismus. Eine globale Debatte

2017 Die Außerirdischen

2019 Neuer Antisemitismus ? Fortsetzung einer globalen Debatte

Außerdem: Texte, in denen er zu Entwicklungen in Österreich und zur Politik Stellung bezieht. Er gibt darin auch Auskunft zur jüdischen Identität, doch ebenso zu poetologischen Überlegungen, etwa zu seiner Schreibintention oder zur Rolle der Literatur. 

 


Auszeichnungen unter anderem:

·  2015: Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln

    2018: Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur

 

 

 

Die Außerirdischen

Erschreckend die Nachricht, die eines Morgens von sämtlichen Sendern gemeldet wird: Eine extraterrestrische Macht hat über Nacht die Erde erobert. Sol, Mitbegründer eines Online-Magazins, ist sofort von der Wahrheit der Meldung überzeugt, seine Frau Astrid ist skeptisch. Nach der ersten allgemeinen Panik sickern Neuigkeiten durch: Die Außerirdischen sind sanftmütig; sie meiden scheu jeden Kontakt; sie bringen Aufschwung und Frieden. Da ist nur ein kleiner Haken - sie bitten um Menschenopfer auf freiwilliger Basis. Überall werden Spiele ausgerichtet, um die Auserwählten zu bestimmen. Wer mitmacht, dem winken enorme finanzielle Vorteile. Sols Online-Magazin ist mit einer rasch etablierten Talkshow dicht dran an den Ereignissen. Als sich aber Sols junger Nachbar Elliot als Kandidat für die Spiele meldet, stellt das Sol und Astrid auf die Probe.

 

Notizen

Doron Rabinovici engagiert sich schon seit den 80er Jahren gegen Antisemitismus und Rassismus.

Aber zunächst hatte er in der Öffentlichkeit ein ganz anderes Problem: Wie wird sein Name ausgesprochen ? Er erzählt von den ständigen Fragen nach der Aussprache fast ein wenig anekdotenhaft, um schließlich aber festzustellen: Das „i“ am Schluß ist stumm. Es steht für das Unausgesprochene, über das ich schreibe.

Als Kind sei er verstummt und hatte zuviel Phantasie, habe sie noch immer. Seine Herkunft sei die Erinnerung. „Erst später ergriff ich die Stimme. Ich mußte zur Sprache bringen, was sie mir verschlug.“ Gemeint ist das Judenthema. Es berühre alle Minderheitsgruppen.

Rabinovici sagt, er habe sich gegen seinen, gegen diesen Roman gesperrt, aber er habe ihn geschrieben, weil er das alles loswerden mußte.

„Was geschieht, wenn wir am Morgen hören, die Außerirdischen sind gelandet ?“ Angst verbreitet sich und alles Handeln wird mit Angst erklärt, wie man überhaupt mit Angst scheint alles entschuldigen zu können.

Die Idee der Außerirdischen, so der Autor, sei erst seit der Aufklärung möglich, seit der neuen Weltsicht.

Und dann nur wenige, aber sehr überlegte Sätze wie man beim Sprechen, beim Antworten merkt, über seinen Roman. „ Ich kann über meine eigenen Texte nicht schlau reden, ich kann sie nur schreiben.“

In diesem fast Science Fiction Roman will er von außen auf uns schauen. Aber das Unheil kommt nicht von außen, sondern von innen. So wie der Terrorismus. Ihn nennt er eine Sinngebungsexistenz

Er, der Terrorismus, benutzt die Gesellschaft, die er bekämpft. Durch einen Anschlag gegen das Judentum, gegen den Islam, gegen wen auch immer, erhöht er diesen gleichzeitig, weil alle auf ihn blicken. Wir alle schauen zu, nicht weil wir ihn richtig oder falsch, gut oder schlecht finden, sondern weil wir es unglaublich finden, daß so etwas stattfindet. Wir nehmen auch Partei ein für das Judentum, für den Islam usw., egal wie wir vorher darüber gedacht haben. Wir schauen eben nicht mehr von oben, von außen auf die Probleme.

Der Roman hat mir auf der einen Seite an manchen Stellen zu viel Science Fiction, auf der anderen Seite war es für mich fast erschreckend, wie viel Science Fiction Realität ist.

Die Frage entsteht: Was unterscheidet den Menschen von sich selbst ?

Der verzweifelte Ausruf eines irritierten Zeitgenossen im Roman:

„Wo sind die Außerirdischen ? Ich sehe nur Menschen.“

 

 

 

 

Judith Kuckart

liest aus  "Kein Sturm, nur Wetter"  - 21.10.20

Geboren 17. Juni 1959 in Schwelm

                Deutsche Tänzerin, Choreografin,Regisseurin und Schriftstellerin.                             

2006/2007 Paderborner Gastdozentin für Schriftstellerinnen und Schriftsteller                         

Seit 1998 als freie Regisseurin tätig, lebt in Zürich und Berlin.

 

Werke unter anderem:

2013 Wünsche

2015 Dass man durch Belgien muß auf dem Weg zum Glück

 

Auszeichnungen unter anderem:

2012: Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis

2018: London Stipendium des deutschen Literaturfonds 2018 in Kooperation mit dem Queen Mary College der University of London

                                                                                                   

 

 

Kein Sturm, nur Wetter

Judith Kuckart erzählt in ihrem Roman "Kein Sturm, nur Wetter" von einer Frau, die älter wird, über Verpaßtes sinniert und vergangene Beziehungen reflektiert.

Eine Frau wartet. Am Wochenende sitzt sie in der Abflughalle des Berliner Flughafens Tegel. 54 Jahre alt ist die namenlos bleibende Frau, die sich an einem Sonntag mit dem Ingenieur Robert Sturm unterhält. Die 36 als magische Zahl durchzieht den Roman. Sieben Tage umspannt folglich die erzählte Zeit in diesem Buch. Sieben Tage, in denen die Frau ihr Leben Revue passieren lässt und sich vor allem an die beiden ihre Vergangenheit prägenden Liebesbeziehungen erinnert. 36 Jahre alt ist Robert Sturm, 36 Jahre alt war ihr erster Partner Viktor, den sie 1981 als 18-Jährige am Bahnhof Zoo kennenlernte, und 36 Jahre alt war auch der Dramaturg Johann, den sie in der Silvesternacht 1999 ihrer Freundin Nina ausspannte.

 

Notizen

Bei Judith Kuckart treten immer wieder Menschen in ihren Romanen auf, die auf der Suche sind. Wandermenschen werden sie von ihr genannt. Und ihr neuer Roman „Wandermenschenroman“.

Sie verbindet in ihrem Roman Dinge aus ihren Träumen, Erinnerungen mit dem Jetzt. Ein Einwurf im Roman mit Blick in die Zukunft lautet: „Ich weiß das, ich bin hier die Erzählerin.“ Für Kuckart taucht hier eine andere Frage auf: Wo sind die Erinnerungen, wenn sie nicht da sind ? Sie erzählt von Erlebnissen, die sie erfahren hat, als sie eine Bekannte , die Neurobiologin ist, eine kurze Zeit bei der Arbeit begleitet hat. Wie sagte diese: Auch Neurobiologen glauben nicht, daß alles im Gehirn nach bestimmten Gesetzen geschieht.

Der Text des Romans, so Judith Kuckart, wird von einer Erzählerin bestimmt, nicht von der Autorin. Erzählen sei dann spannend, wenn es zersplittert. Durch das Zusammenfügen der Splitter entstehen die Geschichten. Entscheident sind die Klebestellen. Alltagsbeobachtungen wollen plötzlich in einen fiktiven Text hinein. Manche schönen Momente kann man nicht konstruieren, sie entstehen plötzlich. Doch was man schreibt, liest, droht unbändig zu werden und es besteht die Gefahr, daß es aus dem Ruder läuft.

Menschen die schreiben, forschen nach den Worten der Autorin auch an Erinnerungen. Doch wenn man etwas erlebt, weiß man noch nicht, daß man eine Geschichte erlebt.

Auch Zahlen erzählen für Kuckart eine Geschichte. So wie in diesem Roman die 36. Aber auch Orte sind ihr wichtig, denn sie sind das Bühnenbild. Aber sie muß die Orte kennen. Ganz genau kennen, sie vor Augen haben.

Und manchmal beginne das Schreiben bei einem einzigen Bild, aus dem sich die Geschichte entwickelt. Vielleicht, wie hier, Liebesgeschichten, die aber auch Geschichte einer Zeit und deren Mentalität sind. Die über das Denken und Fühlen einer Zeit berichten.

Die Erzählerin lernt einen Mann namens Sturm kennen und verliebt sich in ihn. Heiratet ihn aber nicht. Außerdem gibt es noch Verbindungen mit zwei anderen Männern. Aber die sind eben nicht „Sturm“, sondern allenfalls „Wetter“.

 

Siehe auch

Auitorenlesung 2013

Autorenlesung 2015

Autoren: Kuckart, Judith

 

 

 

 

Andreas Maier 

liest aus  "Die Familie" – 28.10.2019

 

Geboren 1.September 1967 in Bad Nauheim / Hessen

Deutscher Schriftsteller, lebt in Hamburg

Studierte Altphilologie, Germanistik und Philosophie

 

Werke unter anderem:


Kirillow 2005

Seine auf elf Teile angelegte autobiografische Romanserie „ Ortsumgehung“, von der bisher sieben erschienen sind: Das Zimmer -2010, Das Haus -2011, Die Straße -2013, Der Ort -2015, Der Kreis -2016, Die Universität -2018, Die Familie -2019, Die Städte -2021.

 

Auszeichnungen unter anderem:

2001 Wetterauer Kulturpreis

2003 Clemens-Brentano-Preis der Stadt Heidelberg

2006 Villa Massimo-Stipendium

2015 Autoren-Stipendium der Arno Schmidt Stiftung

 

 

 

 

Die Familie

Andreas Maier schreibt im neuen Teil seiner autofiktionalen „Ortsumgehung“ über Friedberg, die Wetterau, seine Kindheit und eben: „Die Familie“. Genauer gesagt: Über Geschichte und Besitz der Familie. Nachdem der Großvater gestorben ist, übernimmt die Mutter die Steinwerkefirma und damit das Grundstück im Mühlweg am Usa-Ufer in Friedberg. Die namensgebende Mühle auf dem Grundstück soll abgerissen werden. Das Problem: Sie ist denkmalgeschützt. Eines Nachmittags, die gesamte Familie Maier ist daheim, kommt dennoch schweres Geschütz die Straße entlang.

Die Geschichte einer Familie, die dem Autor eigentlich so bekannt ist, muss nochmal geschrieben, und vor allem: erforscht werden.

 

Notizen

Andreas Maier macht den Mikrokosmos in seinem Romanzyklus mit der Überschrift „Ortsumgehung“ zum Makrokosmos und betont, daß der Mikrokosmos nicht wie es oft scheint, eine Idylle ist. (Bei Philip Roth, an den ich hier denken muß, ist dies allerdings in „Amerikanisches Idyll“ wesentlich eindrucksvoller beschrieben)

Und er – der Erzähler – stellt fest, daß er und sein Bruder zu den „Schweigekindern“ gehörten. Es wurde eben früher über alles geschwiegen, besonders gegenüber den Kindern.

Aber die einzelnen Situationen die er aus der Nachkriegszeit schildert, sind mir viel zu ausführlich, schon in zahlreichen Romanen beschrieben  und Szenen, die jede Generation auf ihre Art erlebt hat. In manchen Augenblicken fühle ich mich sogar an die Fernsehserie „Ekel Alfred“ erinnert.

Im letzten Teil des Romans, der im Jahre 2009 spielt,  dann eine Wende. Andreas Maier erfährt durch Zufall während des Schreibens, die Wahrheit über seine Heimat, die Wetterau. Also, so der Autor, ist alles in den bisherigen Teilen Erzählte auf Lügen aufgebaut. Wie es nun in den nächsten Bänden weitergehen soll, ist ihm noch nicht bewußt. Die Titel stehen allerdings schon fest – der letzte: Der liebe Gott – nur vom Inhalt noch keine Idee. Jedoch hat er keine Angst vor dem Schreiben, weil er ja keine tausenden von Seiten verfassen müsse. Er schreibe ja keine Fortsetzungsgeschichten, obwohl viele Personen und Dinge immer wieder auftauchen. Er müsse sich eben immer wieder selber überraschen.

Auf die Frage, wie dies Buch entstanden sei, antwortet er, zumindest ehrlich: „Ich wußte mal wieder nicht, was ich schreiben sollte.“ Erst beim Schreiben und Beschreiben entstehe jeweils das Ganze. Sein Fehler sei, daß er sich immer sehr stark stilistisch von anderen Autoren beeinflussen lasse und alles dann korrigieren müsse. Aber ein Text wird bei ihm erst erstellt und dann komponiert.

Andreas Maier sagt von sich, daß er eben kein Mensch sei, der eine Geschichte im Kopf habe, die er erzählen wolle, sondern nur ein Thema. Diesen berühmten roten Faden gibt es bei ihm nicht.

Und so war für mich sein Erzählen übers Schreiben mal wieder viel aufschlußreicher als die Geschichte, der Roman selber.

Da schließe ich mich gerne der Meinung seines Bruders an, der ihm gegenüber geäußert hat: „Deine Bücher sind so lau wie halbstilles Mineralwasser.“

 

 

 

 

David Wagner

liest aus  "Der vergessliche Riese" – 04.11.2019

 

Geboren 17.April 1971 in Andernach / Rheinland Pfalz

Freier Schriftsteller, lebt in Berlin

Studierte allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte

 

Werke unter anderem: 

2000 Meine nachtblaue Hose, Roman 

 2009 Vier Äpfel, 

 

 

Auszeichnungen unter anderem:

1998 Alfred-Doblin-Stipendium 

2013 Preis der Leipziger Buchmesse 

2019 Bayerischer Buchpreis

 

 

Der vergessliche Riese

Eine Familie erlebt einen Rollentausch: Der Vater, zweifach verwitwet, ist wieder Kind geworden. Er braucht Betreuung und wird sein Haus verlassen müssen, denn er vergisst, was gerade eben noch gewesen ist. Immer wieder erzählt er seine Liebesgeschichten, und manchmal phantasiert er. David Wagner zeigt einen Menschen, der - obwohl er nur noch in der Gegenwart lebt und allmählich verschwindet - unverwechselbar bleibt mit all seinen liebenswerten Eigenheiten und den Erinnerungen, die er noch hat.


Notizen

Es soll laut Wagner ein autofiktiver Roman sein, wie er immer wieder betont. Für mich jedoch ein autobiographischer. Auch nach seinen Erklärungen, die manchmal auch bei der Fragenbeantwortung kaum nachvollziehbar sind, weil er nur in nicht flüssigen, in abgehackten, schlecht formulierten Sätzen spricht. Es ist oftmals mehr ein „Insichhineinstottern“.

Es geht um die Demenz seines Vaters, des ihm übergroß erscheinenden Vaters, des Riesen, für den er sich aber eigentlich erst jetzt in Anbetracht der Krankheit interessiert. Verbunden ist bei ihm damit auch immer die Angst, selber einmal davon befallen zu werden.

Viele Situationen aus dem Roman kommen mir persönlich sehr bekannt vor aus dem Jahr mit meinem Vater, obwohl die Demenz bei ihm noch nicht so weit fortgeschritten war.

Der Roman besteht im Gegensatz zu seinen früheren Werken ganz überwiegend aus wörtlicher Rede zwischen Vater und Sohn, um dem Leser zu ermöglichen, beiden näher zu kommen. Diese Gespräche sind Rückblicke auf das Leben des Vaters, der viele Dinge vergessen hat oder inzwischen durcheinader bringt. Die Komik, die bei den Gesprächen, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, natürlich auch entsteht, sei ihm beim Schreiben kaum bewußt geworden, sondern erst später bei den Lesungen aufgefallen. Mir war sie immer gegenwärtig und ich habe mich nie gegen sie gesperrt, was meiner Meinung nach auch nicht sinnvoll ist.

In seinen ersten Büchern hat Wagner seine Erinnerungen aus der eigenen Kindheit beschrieben, hier ist es die Beschreibung der Gegenwart, um dem Vater dessen eigene Lebensgeschichte zu erzählen, allerdings mit den Erfahrungen und dem Denken des erwachsenen Sohnes.

„Ich habe das Buch nur geschrieben, bin nicht der Erzähler, ich weiß nicht, wie es funktioniert“, so der Autor, der auch in dem ganzen Roman keine großen Gefühle zeigt, was aber nach seiner Ansicht literarisch auch nicht sein sollte. Außerdem weiß er angeblich vorher nie genau was er schreiben will, was daraus wird. Er hofft, „daß der Text klüger ist, als ich.“ Er wußte am Anfang auch nicht, wie das Buch enden sollte, weiß es eigentlich heute noch immer nicht, denn sein Vater lebt ja noch. Eventuell soll es ein zweiter Teil werden.

Dieser Roman ist für mich keiner über die Demenz, denn diese Krankheit ist mehr als nur vergessen, Dinge wiederholen. Das ist nur Oberfläche, das Äußerliche. Im Inneren spielen sich bei diesem Syndrom ganz andere Dinge ab, die aber von Wagner wohl noch gar nicht erkannt worden sind. Aber das kann meiner Meinung nach auch überhaupt noch nicht sein, weil der Prozeß ja noch nicht abgeschlossen ist, der Vater ja noch lebt. Einen dementen Menschen irgendwie verstehen kann man wohl erst im Nachhinein.

Was David Wagner hier vorlegt, ist mehr ein Roman, besser  eine Erzählung über seine Familie. Aber auch das nur ziemlich oberflächlich. Eigentlich ist es weder die Geschichte einer Demenz noch die der Familie. Das Ganze plätschert nur so von Gespräch zu Gespräch dahin. Was ihm fehlt, ist auch die Sprache dafür, wie überhaupt das Sprechen nicht zu seinen Stärken gehört.

Zum Schluß erzählt er noch, daß er in Kürze eine Freundin in der Türkei besuchen will, die sehr viel in ihrem Leben erlebt habe, was dann Thema seines nächsten Romans werden soll. Es scheint also so, daß er immer nur aufschreibt, was er erlebt hat, gerade erlebt oder andere 

erleben. Auch hier benutzt er wieder sein Lieblingswort: Autofiktion. Die Fiktion sucht man allerdings überall vergebens.

An Arno Geiger mußte ich denken: „Der alte König in seinem Exil“. Es trifft die Thematik wesentlich besser.

 

 

 

 

Julia Schoch

liest aus  "Schöne Seelen und Komplizen" – 11.11.2019

 

Geboren 17.Mai 1974 in Bad Saarow / Brandenburg

Deutsche Schriftstellerin,

studierte Romanistik und Germanistik, lebt heute als freie Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam.

 

Werke unter anderem:

Mit der Geschwindigkeit des Sommers  Roman 2009

Selbstporträt mit Bonaparte  2012

Schöne Seelen und Komplizen   2018

 

Auszeichnungen unter anderem:

2005 Preis der Jury beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb

2008 Kunst-Förderpreis der Stadt Brandenburg

                      

 

Schöne Seelen und Komplizen

         Lydia, Alexander, Ruppert, Kati. Sie alle sind Schüler eines Elitegymnasiums der DDR. Während die einen mit glühendem Blick im "Reimanns" subversive Gedanken diskutieren, sehen die anderen unschuldig einer sozialistischen Zukunft entgegen. Der Mauerfall trennt sie schlagartig von ihrer Vergangenheit. Schwankend zwischen Hass, Verweigerung und Euphorie hören sie die Beteuerungen ihrer Eltern, dass alles ganz normal sei. Dabei sieht jeder die Explosion 1989 mit anderen Augen. Dreißig Jahre später zieht jeder der Helden Bilanz. Und sieht sich vor große Fragen gestell.         

Notizen 

16 Erzähler erhalten in dem Roman von Julia Schoch das Wort. Mitglieder einer Schulklasse, die kurz nach der Wende in der ehemaligen DDR ihr Abitur absolvieren. Mitschüler der Autorin. Jeder Erzähler darf „Ich“ sagen, weil, so Julia Schoch, jeder recht hat. Und es handelt sich hier glücklicherweise nicht um einen der üblichen DDR-Romane. Es geht um das Erwachsenwerden.

Der Roman besteht aus zwei Teilen. Im ersten, der in den Jahren 1989 bis 1992 spielt, erzählen jeweils die Schüler, wobei jedes Kapitel mit dem Namen des/der etwa 16jährigen überschrieben ist. Dies wiederholt sich im zweiten Teil, in dem die Personen ungefähr 25 Jahre älter sind.

Der Titel des Romans wird für den Leser schon auf den ersten Seiten erklärt. Es handelt sich um einen Satz aus dem Stück „Die Fliegen“ von Jean-Paul Sartre, welches eine der Schülerinnen gerne zur Aufführung bringen möchte. Elektra: „Geh, schöne Seele. Mit schönen Seelen habe ich nichts zu schaffen, einen Komplizen brauche ich“. Aber kann Literatur eine Gesellschaft verändern ?

Die Frage an die Autorin, warum sie die Form gewählt habe, 16 Personen sprechen zu lassen, beantwortet sie damit, daß der Stoff so reichhaltig gewesen sei, daß sie ihn nicht in einem Erzähler unterbringen konnte. Außerdem hatte jeder seine eigene Version und jeder hatte recht. Allerdings hat Julia Schoch auch jedem Erzähler die Freiheit gelassen, in seiner Rolle zu bleiben, zu sein. Schüler suchen jeweils ihr Lager. Das war damals in der DDR genauso wie heute in der Schule. Außerdem wurden die Dramen auf der großen politischen Bühne in der DDR auch im Kleinen gespielt. Und dies natürlich auch in der Schule.

Gleichsam war das Denken und Handeln und auch das Lieben der Jugendlichen – natürlich auch vom Politischen geprägt – in der DDR nicht anders als überall.

Sartre hat einmal sinngemäß gesagt: Die wahre Freiheit ist Wahrheit von der Herkunft. Julia Schoch drückt es so aus: „Man hat eine Vergangenheit und macht sie zu seinem Museum.“

Der zweite Teil ist der Autorin so wichtig, weil er versucht, die Frage zu beantworten: Wie wird man das, was man ist ?

Geschrieben hat sie den Roman chronologisch. In jeder Stimmer der Erzählenden ist aber auch sie vorhanden, steckt etwas von ihr. Sie läßt ihre Vergangenheit, ihre Erinnerungen teilweise in den einzelnen Personen auftauchen. Damit es jedoch kein Wenderoman wird, stellt sie das Private in den Vordergrund, ordnet es dem Politischen unter.Vieles ist zufällig geschehen, sagt sie, wie Geschichte überhaupt, im Privaten und in der Geschichte Zufall sei.

So gewährt dieser Roman mal einen ganz anderen Blick auf die Menschen aus der ehemaligen DDR, zumal er ja erst beim Fall der Mauer einsetzt. Erinnerung, autobiographisch im ersten Teil. Im zweiten dann reine Fiktion, da es keine Verbindung der Autorin mit ihren damaligen Mitschülern mehr gibt, die inzwischen in der Welt verstreut sind.

Einer der Erzähler spricht am Ende, nach seinem Tod, noch einmal von oben über alle und alles.

„Der Unterschied zwischen jetzt und der Zukunft ist, daß es in der Zukunft mehr Vergangenheit gibt.“

 

 

 

 

Lea Streisand

liest aus  "Hufeland, Ecke Bötzow" – 18.11.2019

                                                  

Geboren 1979 in Berlin (Hauptstadt der DDR)

studierte Neuere deutsche Literatur und Skandinavistik an der Humboldt-Universität Berlin.

Seit 2003 liest sie Geschichten auf Berliner Lesebühnen und gründete 2008 mit anderen Rakete 2000.

Seit 2005 schreibt sie Artikel und Kolumnen für die Tageszeitung (taz). Seit 2014 spricht sie die wöchentliche Kolumne War schön jewesen bei Radio Eins in der Sendung Der schöne Morgen

Streisand lebt in Berlin.

                            

Werke unter anderem :

 

Im Sommer wieder Fahrrad   2016

Hufeland, Ecke Bötzow          2019

Hätt’ ich ein Kind                   2022


Auszeichnung

 

2022/2023  Poetikvorlesungen im Rahmen der Gastdozentur für Schriftstellerrinnen und Schriftsteller an der Universität Paderborn

                         

 


Hufeland, Ecke Bötzow

In dem Roman "Hufeland, Ecke Bötzow" von Lea Streisand bricht die kleine Welt des Berliner Bezirkes Prenzlauer Berg in die große Geschichte ein. Die Autorin erzählt darin von dem Aufwachsen im Ostberlin der Wendejahre.

 

Notizen

Lea Streisand, die, wie sie nebenbei erwähnt, auch eine Krebserkrankung überwunden hat, beginnt ihre Erzählung ca. 1980 aus kindlicher Sicht. „Die Wende war für ein Kind wie die Pubertät, denn plötzlich war alles anders, es gab einen Bruch im Leben.“

Die Autorin ist eine typische Berlinerin, in ihrer Art, in ihrem Vortrag. Genauso auch die Figuren in ihrem Roman. Alles immer wieder etwas humorvoll in einer leichten Sprache. Berliner Sprache – nicht berlinerisch. Sie liest mit viel Zwischentext, Erzähltext, indem sie nebenbei die ein oder andere Anekdote aus ihrem Leben, aus dem damaligen Berlin der DDR erzählt. Der Roman beschreibt das DDR-Milieu mit allen hier bekannten Vorurteilen und Klischees.

Auf eine Frage nach dem Unterschied zwischen männlichem und weiblichem Schreiben erklärt sie: Die meisten veröffentlichten DDR-Romane seien Männergeschichten, in denen sie sich nicht aufgehoben fühle, sich nicht wiederfinde. Und da die Gesellschaft in der Schule gespiegelt würde, wolle sie die Kinder- speziell die Mädchenperspektive  in ihrer Zeit in der DDR schildern. Ansonsten liege der Unterschied zwischen männlichem und weiblichem Schreiben einfach in den Erfahrungen.

Für sie, so die Autorin, ist es wichtig, beim Schreiben auf den Punkt zu kommen und nicht drumherum zu reden, zu schreiben. Sie habe für diesen Roman viel gelesen und sich mit anderen unterhalten, weil man ja so viele Dinge vergißt. So ist die ganze Erzählung auch sehr nahe an der Autorin.

Lea Streisand empfindet beim Schreiben eine ziemlich große Einsamkeit und das Anfertigen eines Romans als schwierig. Wörtlich: „Da hat man 10 Jahre Literaturwissenschaft studiert und dann ist beim Schreiben alles anders.“

Eine schöne Geschichte, so die Autorin selber, möchte sie eigentlich nur schreiben und erzählt es dementsprechend wie der Leser, der westliche Leser, es gerne hören, lesen möchte, wie er sich das Geschehen in der DDR vorstellt. Sie zieht alles immer ein bißchen ins Lächerliche, weil es für den Westen oft lächerlich klingt, für die Menschen dort damals aber meistens gar nicht war. Und damit es nicht überheblich wirkt, so mein Eindruck, benutzt sie die kindliche Sicht. Der Roman ist – und ich meine es wirklich nicht negativ- leichte Unterhaltungsliteratur zum Thema Berliner Menschen in der DDR.

Nachsatz:

Und wenn man in Berlin damals von "Mäusen" sprach, dann meinte man Geld. Das war im Osten genauso knapp, wie bei mir im Westen, obwohl man hier das Paradies vermutete. Fehleinschätzungen gab es eben auf beiden Seiten. Daran hat sich, wie es aussieht, bis heute nichts geändert. Glücklicherweise allerdings bei mir und meiner Sicht der Dinge. Na ja, im Alter hüpft man auch nicht mehr so auf dem Bildschirm des Lebens herum. Man ist eben aus der Mauser.

 

 Siehe auch Autorenlesung 2022 

 




 

ULrich Woelk

liest aus  "Der Sommer meiner Mutter" – 25.11.2019

                                 

Geboren 1960 in Köln

Studierte Physik. 1987 Diplomarbeit  und Übersiedlung nach Berlin als Astrophysiker. 1991 promoviert, seit 1995 freier Schriftsteller (Prosa und Drama) in Berlin.                                

Werke unter anderem:

Romane: Freigang  1990 

 Liebespaar  2001 

 Schrödingers Schlafzimmer  2007 

Was Liebe ist  2013

Der Sommer meiner Mutter   2019

 

Auszeichnungen unter anderem:

2005 Thomas Valentin Literaturpreis der Stadt Lippstadt 

                          2019 Alfred- Döblin-Preis                          

 

 

Der Sommer meiner Mutter

Sommer 1969. Während auf den Straßen gegen den Vietnamkrieg protestiert wird, fiebert der elfjährige Tobias am Stadtrand von Köln der ersten Mondlandung entgegen. Zugleich trübt sich die harmonische Ehe seiner Eltern ein. Seine Mutter fühlt sich eingeengt, und als im Nachbarhaus ein linkes, engagiertes Ehepaar einzieht, beschleunigen sich die Dinge. Tobias' eher konservative Eltern freunden sich mit den neuen Nachbarn an, und deren dreizehnjährige Tochter, Rosa, eigenwillig und klug, bringt ihm nicht nur Popmusik und Literatur bei, sondern auch Berührungen und Gefühle, die fast so spannend sind wie die Raumfahrt...

 

Notizen

Ulrich Woelk ist kein Autor, der über die Literatur kommt. Seinen ersten Roman schrieb er neben seinem Physikstudium. Und so sind auch die Hauptpersonen in seinen Werken fast immer Naturwissenschaftler.

Woelk behauptet, durch sein Schreiben erfahre er mehr über sich selber.  Eine Einteilung in U-und E-Literatur – also Unterhaltungs-und Ernsthafte Literatur – lehnt er ab.

Der Roman spielt hauptsächlich im Sommer 1969, also zur Zeit der ersten Mondlandung und endet mit dem Selbstmord der Mutter, der schon im ersten Satz deutlich wird. Insgesamt soll es der Versuch sein, einen Blick in die Kindheit zu werfen.

Der geschilderte Zeitraum ist eine Zeit des Umbruchs vor einem historischen Hintergrund. Woelk: „Durch meine Mutter erlebte ich die Dinge, mein Vater erklärte sie mir.“

Hervorzuheben ist, daß der Autor sehr genau beobachtet und immer wieder versucht, einen Einstieg in die Gedanken des Kindes zu finden. Und doch ist es keine reine Erzählperspektive vom Kindlichen, sondern mehr von einem älteren Erzähler, der zurückblickt. Nebenbei macht Woelk klar, daß seine Mutter sich nicht wie im Roman umgebracht habe, aber früh gestorben sei. Den Selbstmord habe er benutzt, weil man eine Zeit besser in einer Katastrophe darstellen könne. Aber beim Schreiben beute er ansonsten immer das eigene Leben aus.

Gleichzeitig solle dieser Roman auch ein bißchen die Emanzipationsgeschichte der Frau sein, deren Umbruch nach seinen Worten Ende der 60er begann.             

Im Moment scheinen Erzählungen aus der Kindheit, beziehungsweise Familienromane wohl so eine Art Mode zu sein. Zumindest bei den Autoren, die sich auf der Ebene der  - und jetzt gebrauche ich den Begriff – leichten Unterhaltungsliteratur bewegen. Mich erinnert der Erzählstil stark an Ralf Rothmanns Milch und Kohle. Wenn ich die bisher in diesem Jahr gehörten Autoren zurückverfolge, so fällt mir, warum auch immer, mit Ausnahme der ersten beiden (Rabinovici und Kuckart) ein Satz von Karl Kraus ein. Nein, nicht der bekannte, obwohl der auch nicht unpassend wäre, ich denke an eine andere Aussage von ihm: „Es reicht nicht, keine Gedanken zu haben, man muß sie auch nicht formulieren können.“

Ulrich Woelk las dann noch eine Passage, in der der Elfjährige  seine ersten sexuellen Erfahrungen mit einer Dreizehnjährigen in einem Karussell macht, die ziemlich ausführlich, aber auch genauso primitiv, platt geschildert wird und weder unter den Studenten noch im sonstigen Publikum die Reaktion erzeugte, die er wohl erhofft hatte, wenn ich seine Blicke, die beim Lesen immer mal wieder zu den Zuhörern gingen, richtig gedeutet habe. Nicht die Mutter, aber der Roman war an dieser Stelle wohl bei der Mehrzahl endgültig gestorben.

 

 

 

 

Michael Kumpfmüller

 

Geboren 1961 in München

Studierte Germanistik und Geschichte in Tübingen,Wien und Berlin. 

Seit 2000 freiberuflicher Schriftsteller in Berlin    

                           

Werke unter anderem:

 Durst   2003

 Die Herrlichkeit des Lebens   2011

 Tage mit Ora, 2018 

 

Auszeichnungen unter anderem:

2007 Alfred-Döblin-Preis

2017 Landgang-Stipendium

 


38. Paderborner Gastdozentur

für Schriftstellerinnen und Schriftsteller 

 

Unsere paralympischen Spiele

Vom Umgang mit Tieren, Menschen und Göttern

 

 02.12.2019

Vorlesung Teil 1

Der Blick zur Erde

 

Notizen

Michael Kumpfmüller möchte aus verschiedenen Richtungen auf die Welt blicken. Ein Mensch ist nach seiner Meinung nur, wer auch ein horizontales und ein vertikales Blickfeld hat. Dazu stellt er drei Fragen, weil alleine die Beschreibung der Situation nichts ändert.

Was können wir eigentlich sehen ?

Welche Kontaktaufnahmen gibt es ?

Welche Antworten gibt es ?

Ausgangspunkt ist eine Szene aus Goethes „Wilhelm Meisters Wanderjahre“

Wilhelm ist ein Reisender, ein Beobachter. In einem Handlungsmoment blicken einige mit vor der Brust gekreuzten Armen gen Himmel, einige gen Erde, andere zur Seite nach rechts und links. Goethe bezeichnet es als Ehrfurcht.

Ehrfurcht vor dem was über uns ist, vor dem was unter uns ist und sich nach dem anderen, neben uns richten.

Für Kumpfmüller bedeutet Ehrfurcht eine Mahnung, etwas dialektisches. Wer nach oben, unten , zur Seite schaut, bekommt am Ende sich selbst.

Der Blick nach unten beschreibt zunächst den Boden. Ohne festen Boden ist vieles gar nicht möglich – Bodenhaftung. Aber zum Boden gehört auch alles andere wie Wände, Decken, das ganze Haus, wir Menschen, die Tiere und Pflanzen. Wir wissen also, daß es am Boden Leben gibt, ohne daß wir Kontakt aufnehmen, denn wir können uns in Gedanken auch jederzeit auf anderen Böden bewegen.

Alles Leben ist jederzeit gefährdet, aber es ist vorhanden. Die Aufenthaltszeit auf unserem Planeten ist befristet. Laut wissenschaftlichen Berechnungen bleiben uns noch ungefähr 3 Mrd. Jahre.

Wie halten wir Menschen es mit den Zeiten ? Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft ?

Der Mensch, so Kumpfmüller, ist ein Spurenwesen, der Spuren hinterläßt. Aber auch ein Schädenwesen, der Schäden hinterläßt.

Stichworte Passive Plünderung – Aktive Plünderung

Im Schöpfungsbericht heißt es: Machet euch die Erde untertan.

Seiner Meinung nach läßt sich daraus keine Plünderung ableiten.

Aber. Einige wenige, nämlich Wir, beanspruchen alles für uns.

 

Kumpfmüller geht in Nebensätzen immer wieder auf aktuelle Themen ein: Obdachlosigkeit, Wohnungsnot, Flüchtlinge, Klima, Ausbeutung der Erde.

Er versucht, Antworten zu finden, zum Beispiel in der Toleranz, die auch eine Form der Ehrfucht sei und durch Beispiele aus verschiedenen Romanen.

In Romanen sei alles gespeichert, was wir brauchen, wir müssen nur lesen.

Er selber schreibt seine Bücher immer mit der Voraussetzung, daß er sich davor ängstigt. Wenn das nicht ist, beginnt er nicht zu schreiben, weil er dann keine Erfahrung machen kann.

An manchen Stellen wurde er mir in seinem Vortrag ein bißchen zu biblisch, denn da mußte immer wieder die Schöpfungsgeschichte herhalten.

Ansonsten sagt Kumpfmüller sehr wenig, eigentlich nichts über seine Arbeit, sondern übt anhand  von Literatur, hauptsächlich Dostojewski, eine Gesellschaftskritik in Bezug auf die Ausbeutung der Erde – der Blick nach unten -.

Während ich bei den bisherigen Autoren bemängelte, daß sie nichts oder nur sehr wenig zu sagen hatten, hatte er sehr viel zu sagen – soviel, daß er seine Redezeit sehr weit überzog, was die Studenten erstaunlicherweise sehr diszipliniert hinnahmen, was aber wohl am Thema lag – aber es war lediglich das Zusammentragen von bekannten und überall nachzulesenden Argumenten, jedoch kaum eigene Gedanken, Argumente, Vorstellungen, Vorschläge. Er hangelte sich von Zitat zu Zitat, um dieses „nicht Neue“ mit ihnen zu bekräftigen.

 

 

 

 09.12.2019

Vorlesung Teil 2

Der Blick zum Anderen

 

Notizen

Michael Kumpfmüller geht es in seiner zweiten Vorlesung um den "Blick zum Anderen", um den sozialen Blick. Der Mensch als ein soziales Wesen, ist in Gesellschaft, auch wenn er alleine ist. Der Blick auf einen selber, auf das eigene Ich. Eine nie endende Arbeit des Ichs besteht darin herauszufinden, wer ich bin. Man ist nicht immer Herr im eigenen Haus. Wir spielen unsere verschiedenen Rollen nicht, wir sind sie jeweils. Ich bin als Ich nur eine Summe.

Kumpfmüller unterscheidet zwei Gruppen: 

Das Paar in jeder erdenklichen Form. Er nennt es jeweils ein intimes Verhältnis. Im Gegensatz dazu: Die Passanten in einem nicht intimen Verhältnis. 

Das Paar: Der Autor diskutiert diesen Punkt anhand des Toleranzmodells basierend auf dem Erziehungsmodell in Goethes Wilhelm Meister. Zunächst ist der Andere immer eine Zumutung, weil wir Mut brauchen. Jeder bleibt für den anderen, der andere. Wünsche / Ängste delegieren wir jeweils an den anderen. Zwischen den beiden anderen besteht etwas wie der Notstand, weil es um Grenzüberschreitungen geht, wobei es zu Gewalt kommt, kommen kann. Das Handeln bei Gewalt ist zwischen den anderen nicht lesbar. 

Beziehungen brauchen einen Grund. Es werden Verhandlungen geführt, ohne daß sich beide darüber im klaren sind, es wissen. In den Verhandlungen geht es fast nur um die Freiheitsfrage, wobei beide eventuell zu einer Toleranz gelangen. 

Kumpfmüller sieht das Toleranzmodell wie auch die gesamte Thematik viel aus theologischer Sicht. (So ist zum Beispiel für ihn die Seele alles von uns Getane und alles uns Angetane. Hier beruft er sich auf Harold Brodkey und auf Paulus.)

Was mir wie auch schon in der ersten Vorlesung fehlt, ist der Bezug zur literarischen Bewältigung dieser Betrachtungsweise- und zwar allgemein und besonders auch auf sich bezogen. Er macht aus den Vorlesungen zur Literatur der Gegenwart soziologische, philosophische Vorlesungen. Als man versucht, ihn durch Fragen in die literarische Richtung zu bringen, erzählt er nur, daß er alle hier diskutierten Möglichkeiten schon in seinen Werken beschrieben habe. Er hat eben hier eine andere Blickrichtung.

Und wie ist das nun mit dem Buch? Entdeckt der Autor sich selber, indem er vom Leser erblickt wird ? Und der Leser, entdeckt er sich selber durch den Blick, die Gedanken des Autors ? Da fehlt sie, die Antwort, die Kumpfmüller verweigert oder wie ich inzwischen glaube, selber nicht kennt, vielleicht noch sucht. 

 

 

 

 16.12.2019

Vorlesung Teil 3

Der Blick zum Himmel

 

Notizen

Mit dem "Blick zum Himmel" beginnt Kumpfmüller seine dritte und letzte Vorlesung.

Wenn wir nach oben und unten schauen, sind wir eine riesige Unbegreiflichkeit, denn wir leben eigentlich in einem unmöglich lebensmöglichen Raum. Unter uns der heiße Erdkern, über uns eine unendliche Kälte im All.

Leben im unendlichen All haben wir noch nicht gesehen- auch keine „Engel“ oder „Götter“.

Aber jeder von uns hat verschiedene Himmel in sich: Kindheitshimmel, Wetterhimmel, Sternenhimmel usw.

Genauso haben wir viele Götter in uns: Von denen wir gelesen oder anderweitig gehört haben. Die ersten Götter waren mit der Natur verbunden. Gott des Mondes, der Sonne, des Windes, uvm. Und sie hatten Kontakt mit den Menschen. Im Laufe der Geschichte wurden die Götter dann weniger, bis zu einem einzigen. Monopolismus. Aber damit verschwindet auch der direkte Kontakt. 

Aber kann man mit den Göttern, mit oben überhaupt Kontakt aufnehmen ? Durch beten. Kumpfmüller nennt es eine Beziehungsarbeit und verweist auf „Hiob“ und auf Goethes drei Erfurchten. Ihnen entspringt die höchste, die Erfurcht vor sich selber, was Kumpfmüller allerdings nicht unterschreibt. „Wir sind nicht das Höchste in unserem paralympischen Handeln. Wir sind mit Fehlern behaftet, sind Versehrte, Paralympics. Wir können als Einzelne wenig tun, aber tun wir es doch.“ Unsere Existenz  sei eine Versehrte auf dem Weg zur Freiheit. 

Da kommen wir zu den Konflikten zwischen den einzelnen Religionen, die der Autor darauf zurückführt, daß Texte der Interpretation bedürfen, weil sie Lücken haben. Vielleicht sei Gott auch ein Romanschriftsteller, dessen Roman man interpretieren muß. Gleichzeitig ist der Roman für ihn, Kumpfmüller, etwas Musikalisches, welches, auch wenn die Gedanken woanders weilen, beim Lesen mitschwingt. Am Ende eines jeden Satzes liege eine Wahrheit. Und nicht das Denken, sondern die Sprache des Autors sei bestimmend.

Er, Kumpfmüller, habe keine religiöse Botschaft, sondern wolle Goethes Botschaft näher bringen. Eigentlich sollte seine Vorlesung von der Freude am Lesen handeln, am Lesen über die Funktionsweise des menschlichen Zusammenlebens, um durch das Lesen zu verschiedenen Blickwinkeln zu gelangen. Zwei Fragen interessieren ihn in diesem Zusammenhang: Was passiert in mir als Schreibender und was als Lesender ? 

Michael Kumpfmüller: „ Ich bin ein Zwangsneurotiker, weil ich immer einen Plan brauche. Ich warte immer auf das, was aus mir kommt. Mich interessiert alles, wovon ich keinen Begriff habe. Ich warte.

Eigentlich wollte ich immer schreiben, wurde dann aber Germanist. Was für ein Widerspruch."

Wenn ich Kumpfmüller heute nach seiner dritten Vorlesung betrachte, dann bekomme ich ein anderes Bild von ihm, weil die Zusammenfassung aus all dem, was er vorher gesagt hat, zu einem anderen Ziel führt.

Laß mich ganz ehrfuchtvoll – wobei Ehrfurcht nicht im Sinne Goethes gemeint ist, sondern  Ehrfurcht als das Denken, Weiterdenken von etwas Gefundenem, etwas Erkanntem – bekennen, daß ich da bei meinen Geschichten bin, die sich beim Lesen einer Geschichte ergeben sollten....Kumpfmüller „Warten“ . Das ist, so finde ich, vielleicht nur ein ganz kleines Stück Freiheit, aber für mich eine ganze Menge.Eben ein Stück der unendlichen Möglichkeiten.

Gleichzeitig ist das auch Nora Gomringer, sie schreibe Fährtenbücher, erklärt sie, gebe Spuren auf. Ich sage es mal so: Schreiben ist das Suchen und Finden von Spuren, Lesen das Verfolgen von Spuren. Kumpfmüller spricht ja auch vom Spurenmensch.

 

 

 

 13.01.2020

Lesung aus dem Roman

Durst

 

Veranstaltungszusatz: Vom Bösen

In der Hitze des Hochsommers, als selbst die Grünflächen in ihrer Wohnsiedlung versteppen, versucht eine junge Frau, aus ihrem Leben zu fliehen. Sie packt einen Rucksack und macht sich davon. Zurück bleiben ihre beiden kleinen Kinder und ein paar Päckchen Saft. Die Frau will nicht lange fortbleiben, und obwohl sie nicht weit kommt, findet sie nicht mehr zurück, während in ihrer Wohnung das Entsetzliche geschieht: 

Die Kinder verdursten.

 

Notizen

Einer der anwesenden Professoren stellt den Roman mit dem Satz vor: „Eines der besten, fast unerträglichen Prosastücke.“ Dem zweiten Teil des Satzes stimme ich zu, beim ersten habe ich einige Bedenken.

Der Roman gründet auf einem tatsächlichen Fall. Die Frau wurde  zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Es bleibt unklar, was in der Geschichte Realität ist und was Roman. Jedenfalls sagt der Autor, das er die Frau nie getroffen habe. Die größte Schwierigkeit bestand für ihn zunächst in der Suche nach der richtigen Sprache für das Geschehen. Geschrieben habe er den Roman im Jahre 2003 weil er zu jener Zeit zwei Kinder im selben Alter hatte und weil er versuchen wollte, die Frau zu verstehen, eine Frau, die eigentlich nur geht, weil sie die Freiheit sucht. Doch im Grunde ist alles eine Entscheidung für eine Freiheit. Aber, so seine Frage, wie kann die Frau nach der Tat weiter leben ? Nur, so Kumpfmüller, wenn man die Tat für sich erkennt, nicht aber darauf besteht, Opfer zu sein. Und so steht er vor dem Problem, bis wohin er der Frau folgen kann und wo für ihn die Grenze sei.

Es ist ein Roman über das Böse. Und da das Böse eine Grenzüberschreitung ist, läßt er die Frau über das Böse  nachdenken. Menschen treffen eine Entscheidung für das Böse und tragen dann dafür die Verantwortung. Und nur, wenn sie diese Verantwortung annehmen, können sie die Schuld los werden. Es gibt keine Ent-schuldigung durch einen anderen, höchstens ein Verzeihen.

Und hier benutzt er die Frau für Überlegungen, die meiner Meinung nach die Frau nicht leisten kann. Zumindest nicht in der Form, auf der Ebene, wie er sie ihr als Denken unterstellt.

Schließlich läuft es auf die Frage hinaus, wo Schuldfähigkeit beginnt. Eine wirkliche Antwort findet sich hier nicht. Kumpfmüller: „ Der Leser muß diesen Roman weiter schreiben.“

An dieser Stelle fällt mir Goethe ein: „ Ich kann mir kein Verbrechen vorstellen, das nicht auch ich hätte begehen können!“ Aber warum begeht man es nicht ?

Und hier sind wir auch wieder beim Thema der vergangenen Vorlesungen, bei der Frage nach dem richtigen Blickwinkel. Hierauf sucht er immer wieder eine Antwort anhand von verschiedenen gesellschaftlichen Problemen, wobei hauptsächlich das Böse und die Schuld im Vordergrund stehen.

Noch ein Wort zum Titel, der für mich hier zwei Deutungen zuläßt: Einmal ganz praktisch im Sinn der umgekommenen Kinder, die verdurstet sind. Dann aber auch in der Bedeutung von „Durst nach Freiheit.“

 

 

 

 20.01.2020

Lesung aus dem Roman

Die Herrlichkeit des Lebens

 

Veranstaltungszusatz: Von der Rettung in letzter Minute

Franz Kafka war mehrmals verlobt, aber die Beziehungen scheiterten allesamt, nicht zuletzt, weil er vor engen Bindungen zurückschreckte. Ein einziges Mal lebte er mit einer Frau zusammen, mit Dora Diamant im Winter 1923/24 in Berlin. Michael Kumpfmüller erzählt in seinem Roman „Die Herrlichkeit des Lebens“ von dieser Liebesbeziehung und den letzten Monaten im Leben Franz Kafkas. Er porträtiert den Schriftsteller nicht, wie üblich, als schwierigen, innerlich zerrissenen Außenseiter, sondern als einen trotz schwerer Krankheit und Geldsorgen glücklichen Menschen.

 

Notizen

Ist es nicht so, daß man sich manchmal fragt, warum nun dieses oder jenes schon wieder vorfallen mußte und man sich einfach nur ärgert oder wütend ist ? Doch dann, wenn das Problem beseitigt, muß man feststellen, es war gut, daß es so geschah. Das vermeintliche Unglück entpuppt sich fast schon als ein Glücksfall. Obwohl, gerade wollte man doch noch alles einfach hinwerfen. Wie sagte doch der Schutzmann bei Kafka: Gibs auf ! Allerdings mit einem Lächeln. Vielleicht meinte er nur, hör auf, immer gleich daran zu denken, daß es nicht mehr weiter geht, daß alles vorbei sei. Auch ein Problem kann manchmal zu etwas Erfreulichem führen. 

Der Roman zeigt das Lebensende Kafkas, wobei sein Name nie genannt wird. Kumpfmüller spricht immer nur von Franz oder dem Professor. Außerdem ist es kein dokumentarischer Roman, sondern – ich nenne es mal so - eine authentische Fixion, keine Ich-Erzählung, sondern eine personale Erzählhaltung. Der Autor teilt den Roman in drei Teile ein: Kommen – bleiben - gehen.

Gefragt nach seinem Verhältnis zu Kafka erklärt Kumpfmüller: Ein Deutschlehrer habe mal zu ihm und der Klasse gesagt: Ich rede erst wieder mit euch, wenn ihr den Prozeß von Kafka gelesen habt. Da begann er Kafka zu lesen und etwas später auch das Schreiben. Nachdem aber seine ersten Versuche mehr oder weniger gescheitert waren, schwor er sich, „nie wieder Kafka“, was auch zwanzig Jahre, bis zu diesem Roman gehalten hat. Zum Schreiben inspiriert habe ihn die Leerstelle zwischen Dora Diamant und Kafkas Vater und die, die durch die verlorengegangenen Briefe jeweils entstanden ist. Mit der Kafkaforschung habe er sich aber so wenig wie möglich beschäftigt. Und so sei der Roman für ihn quasi eine Danksagung an Kafka, seinen älteren Bruder, wie er ihn für sich nennt. 

Beim Schreiben waren für ihn zwei Dinge wichtig: Der Name durfte nie fallen und der Roman mußte im Präsens erscheinen. 

Und dann war da noch das Verhältnis Kafkas zu den Frauen. Hier hat Kumpfmüller seine eigene, sagen wir, eigenwillige Erklärung. Warum es mit Dora Diamant und nicht mit den anderen Frauen funktioniert habe, nun, sie hat sofort ja gesagt, wobei, eigentlich waren sich beide von Anfang an einig. Kumpfmüller: „ Hat es jemals etwas gebracht, wenn man zwanzig Monate darüber verhandelt hat, ob man sich liebt oder nicht ?“ „Und ganz nebenbei“, so der Autor, " hatte Dora Diamant null Interesse an Literatur." Bei seiner ersten Verlobten, Felice Bauer, sei es schon an der Möbelfrage gescheitert. Seine etwas schelmische Begründung: "Sie war mehr der wilhelminische Typ, er mehr der Ikea Typ.“ Dagegen sei Dora Diamant überhaupt eine im heutigen Sinn moderne Frau gewesen. 

Und so beschließt Kumpfmüller also seine Gastdozentur, seine Vorlesungen, mit dem Blick zum anderen, mit dem Blick zu den Funktionsweisen des menschlichen Zusammenlebens. Wie sagt Dora in dem Roman an einer Stelle: „ Am größten ist das Glück, wenn es ganz klein ist.“ 

Man muß eben die Herrlichkeit des Lebens nicht nur sehen, sondern sie auch ergreifen.

„Es ist sehr gut denkbar, dass die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereit liegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feind-selig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie beim richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie. Das ist das Wesen der Zauberei, die nicht schafft, sondern ruft.“

Diese Tagebuchnotiz Kafkas stammt aus dem Oktober 1921.

 

 

 

 

Eugen Ruge

liest aus  "Metropol" – 27.01.2020

 

Geboren1954 in Soswa, Oblast Swerdlowsk, Sowjetunion

 

Schriftsteller, Regisseur und Übersetzer aus dem Russischen

Eugen Ruge ist der Sohn des DDR-Historikers Wolfgang Ruge, der von den sowjetischen Machthabern in das sibirische Lager 239 deportiert worden war; seine Mutter ist Russin. Er kam im Alter von zwei Jahren nach Ost-Berlin. Nach einem Mathematikstudium und erfolgreichem Diplom an der Humboldt-Universität zu Berlin wurde Eugen Ruge wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Physik der Erde der Akademie der Wissenschaften der DDR. 1986 begann er mit seiner Tätigkeit als Schriftsteller, Dokumentarfilmer und Drehbuchautor. 1988 siedelte er in die Bundesrepublik über. Übersetzung mehrerer Tschechow-Stücke. 2011 debütierte er als Romanautor mit dem Titel In Zeiten des abnehmenden Lichts, für den er den Deutschen Buchpreis erhielt. Er lebt heute in Berlin und auf Rügen.

 

 

Werke unter anderem:


2011  In Zeiten des abnehmenden Lichts

2016  Vierzehn Sätze über einen fiktiven Engel

2019  Metropol

 

Auszeichnungen unter anderem:


2009 Alfred-Döblin-Preis

2011 Deutscher Buchpreis für „In Zeiten des abnehmenden Lichts“

 

 

Metropol

"Metropol" folgt drei Menschen auf dem schmalen Grat zwischen Überzeugung und Wissen, Loyalität und Gehorsam, Verdächtigung und Verrat. Ungeheuerlich ist der politische Terror der 1930er Jahre, aber mehr noch: was Menschen zu glauben imstande sind. "Die wahrscheinlichen Details sind erfunden", schreibt Eugen Ruge, "die unwahrscheinlichsten aber sind wahr." Und die Frau mit dem Decknamen Lotte Germaine, die am Ende jenes Sommers im berühmten Hotel Metropol einem ungewissen Schicksal entgegensieht, war seine Großmutter.

 

Notizen

Ruge setzt hier seine im Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ begonnene Familiengeschichte fort und beschäftigt sich mit dem Zeitraum der stalinistischen Säuberungsaktionen. 

Im Vordergrund stehen seine Großmutter, die, als Kommunistin vor den Nazis geflüchtet, zum kommunistischen Geheimdienst OMS gelangt, verhaftet, angeklagt und ins berüchtigte Hotel Metropol „verfrachtet“ wird.

Der Autor konnte heute in verschiedene damalige „Personalakten“ einsehen. Die Lücken, die sich da ergaben habe er mit seiner Phantasie gefüllt.

Leider füllt er sie manchmal auch einfach mit Klischees, wobei er auch vor einer sehr genau beschriebenen Sex-Szene nicht zurückscheut. Aber ich habe den Eindruck, daß die in der augenblicklichen Literatur in keinem Roman fehlen darf. Wahrscheinlich erhofft man sich so eine Verkaufssteigerung der Bücher. Wenn sie einen Sinn erfüllt und,wie in diesem Roman, auch etwas zu einem bestimmten Verstehen beiträgt, ist ja nichts dagegen einzuwenden. Was mich dabei nur stört, ist die jeweils „platte“ Beschreibung, die auch in einem pornographischen Roman so auftauchen könnte.

Eugen Ruge erzählt abwechselnd aus drei Perspektiven. Der Großmutter – einem Richter – einer Denunziantin namens Hilde Tal, die von dem Richter ebenfalls so ganz nebenbei zum Tode verurteilt wird.

Er beschreibt, wie die drei Personen versuchen ihren „Glauben“ zu retten, einen „Glauben“ zu erfinden oder sich selber zu retten. Wobei "Glaube" hier nicht religiös gemeint ist.

Den Roman, so der Autor, habe er nicht geschrieben, um den Stalinismus zu erklären, sondern der Frage nachzugehen: Wie funktioniert das mit dem Verbiegen der Wahrheit. Und genau hier sehe auch ich den eigentlichen Kern des Romans.

Wird mein Denken aus der Vergangenheit den Fragen von heute standhalten ? Kann ich der Wahrheit standhalten ? Was ist die Wahrheit ? Wer bestimmt darüber, was Wahrheit ist ? 

In der anschließenden Diskussion wehrt sich Eugen Ruge dagegen, alles immer, wie er es ausdrückt, „mit einem Begriff zu erschlagen“. Er unterscheidet zum Beispiel die Zeit der Sowjetunion, die des Stalinismus, die Gorbatschow-Zeit, usw. Nicht alles sei Stalinismus, nicht alles heute gleich Nazismus.

Und er geht noch einen Schritt weiter: Unter Putin sei es nicht verboten über den Stalinismus zu schreiben – der Roman wird gerade ins Russische übersetzt und ab Februar von ihm auf einer Lesetour in Rußland vorgestellt -, dies sei heute höchstens noch in Vietnam oder Kuba der Fall. Aber die Mehrheit der Bevölkerung interessiere sich einfach nicht dafür. Ähnlich sei auch früher das Schreiben nicht verboten gewesen, man habe einfach nicht darüber geschrieben.

Gleichzeitig betont Ruge, er sei ja kein Historiker, sondern ein Geschichtenerzähler.

Den letzten Begriff aufgreifend, belaß ich es bei meinem Eindruck, daß der ansonsten interessante Erzähler doch von seiner Vergangenheit stark geprägt ist. Dies soll nun kein Vorwurf sein, denn irgendwie sind wir wohl alle von unserer Zeit und auch von dem Regime in dem wir leben, geprägt. Und so beurteilen wir auch die Vergangenheit und das Heute. Man muß, wie ich schon öfter gesagt habe, alles immer aus der Zeit, aus der jeweiligen Gegebenheit und aus dem dazugehörigen Denken heraus zu verstehen versuchen. Mit der Logik des eigenen, geprägten Denkens ist es nicht möglich, das jeweils andere zu ergründen. Wobei verstehen - um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen - nicht billigen oder gleicher Meinung sein bedeutet, sondern lediglich: Das Denken des anderen nachvollziehen können, ohne daß daraus etwas gefolgert werden soll.

 


 

 

 

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