Nadj Abonji Melinda

Melinda Nadj Abonji

* 22. Juni 1968 in Becej, SFR Jugoslawien,

heute: Serbien

Ungarisch-schweizerische Schriftstellerin,

Musikerin und Kunstdarbieterin

 

Auszeichnungen unter anderem:


2010 Deutscher Buchpreis für "Tauben fliegen auf"

2010 Schweizer Buchpreis für "Tauben fliegen auf"

2018 Schillerpreis der Zürcher Kantonalbank für "Schildkrötensoldat" 

2022 Erich-Fried-Preis

 

 

 

Tauben fliegen auf

(2010)

Eine ungarische Familie aus Serbien in der Schweiz. Ein schwungvoll und gewitzt erzählter Roman aus der Mitte Europas.Zuhause ist die Familie Kocsis also in der Schweiz, aber es ist ein schwieriges Zuhause, von Heimat gar nicht zu reden, obwohl sie doch die Cafeteria betreiben und obwohl die Kinder dort aufgewachsen sind. Die Eltern haben es immerhin geschafft, aber die Schweiz schafft manchmal die Töchter, Ildiko vor allem, sie sind zwar dort angekommen, aber nicht immer angenommen. Es genügt schon, den Streitigkeiten ihrer Angestellten aus den verschiedenen ehemals jugoslawischen Republiken zuzuhören, um sich nicht mehr zu wundern über ein seltsames Europa, das einander nicht wahrnehmen will. Bleiben da wirklich nur die Liebe und der Rückzug ins angeblich private Leben?

 

 

Mein Einwurf

Ein ganz neuer Stil im Vergleich zu anderen Autoren, auf der einen Seite gewöhnungsbedürftig - wie sollte es auch anders sein - aber auch - und das ist schon mal positiv - eine ganz andere, neue Spannung erzeugend, weil diese verschachtelten Sätze einem keine Pause erlauben, sondern zwingen, immer aufmerksam zu sein, "mitzubeobachten", dabeizusein. Und dann wieder genau das Gegenteil: Die wörtliche Rede nicht als solche, sondern einfach als Erzählung. Distanz. Die sich unterhaltenden Personen stehen nicht direkt vor einem. Man bleibt bei der Erzählerin, sieht das Ganze mehr als Film und nicht als Realität auf einer Bühne vor sich. Genau das, was ich unter Erzählung verstehe, weil es mich nicht zwingt, mit auf die Bühne zu gehen. Nicht, daß ich mich manchmal auch dazu gerne hinreißen lasse, aber es gibt auch Augenblicke, in denen ich einfach nur betrachten möchte, mich von den Lippen des Autors, der Autorin nicht lösen will.

Wenn die Autorin da ihre Kindheitserinnerungen beschreibt, erinnert es mich oft an die Augenblicke, an denen ich nach langer Zeit wieder meinen Geburtsort besucht hatte. Alles anders und doch vieles gleich.
 Werden die heutigen Kinder eigentlich später auch noch so schöne Erinnerungen haben ? Man behält ja meistens nur das Schöne oder das ganz Negative. Und manche Situationen bleiben haften, von denen man sich fragt, warum eigentlich gerade diese.

Nein, diese Juli entspricht bisher in keiner Weise einem mir bekannten kleinen Mädchen in einer ähnlichen Situation, aber das Problem ist deshalb kein anderes. Das Vorurteil der anderen ist genau dieses. Aus der Sicht eines Kindes, wie es hier beschrieben wird, ist es durchaus in Ordnung, weil Kinder es nicht nachvollziehen können und darum auch nicht müssen. Es ist nicht ihre Schuld, daß sie es nicht verstehen, es ist unsere Schuld, die Schuld der Erwachsenen, weil wir es ihnen nicht deutlich genug machen, es meistens nicht einmal versuchen deutlich zu machen. Da sind wir fast wieder bei Oskar aus „Extrem laut und unglaublich nah“.
Nicht nur, daß beide Erzählungen die Vergangenheit bemühen, sie werden auch beide von Kindern erzählt. Aus der Sicht von Kindern. Und damit werden sie glaubwürdiger und realer, weil die Phantasiewelt der Kinder eigentlich die reale Welt ist. Juli und ihre fast verwelkte Blume für die sie gleichzeitig um Nahrung bittet, zeigen doch, daß sie mehr verstanden hat als ihre Umwelt, die sie zumindest in Gedanken nur verspottet und nicht für dazugehörig hält - was auch die Worte und das Streicheln der Mutter nicht ändern können, weil es im Grunde nicht ernst gemeint ist, nur Mitleid zeigt.
Aber genau dieses, nämlich Mitleid, brauchen "Juli`s" nicht. Sie brauchen Anerkennung und Verständnis und, was das Wichtigste ist, ein Hineinversetzen in ihre Betrachtungsweise, in ihre Entwürfe, in ihr Denken. Wir müssen uns nur auf eine andere Ebene einlassen, uns mal wegbewegen von unseren immer gleichen Schemata. Das Denken der Tochter meiner Bekannten – sie hat Down Syndrom -  ist kein anderes, es bewegt sich nur in einer anderen Logik, in einer, die aber gleichzeitig realer ist, als das unsere, weil sie den Augenblick erfaßt, während wir uns bei jedem Gedanken schon wieder in der Zukunft bewegen, weil sie - und dies ist etwas was ich bewundere, weil sie es kann und ich nicht..ich behaupte mal, wir nicht .. - den Augenblick, die Gegenwart, die sie im Gegensatz zu uns noch wahrnimmt, viel intensiver erlebt. Sie genießt die Gegenwart, den Moment, lebt das Jetzt, ohne die Zukunft, während wir genau von dieser Zukunft getrieben werden, uns treiben lassen (müssen). Genau diese Zukunft gibt es für die Kinder, die ihre Heimat im ehemaligen Jugoslawien besuchen auch nicht. Sie leben nur in der Gegenwart und in der Vergangenheit, die die Gegenwart ist, sein muß, weil eigentlich selbst die Vergangenheit nicht existent ist. Sie graben sie nicht aus, sie ist einfach Gegenwart.

Während die Sonne gerade wieder hinter der nächsten Wolke verschwindet, der Wind, der heute etwas kräftiger ist, einzelne Blüten von ihren Stengeln trennt und sie auf meinem grünen Rasenteppich verstreut, laß ich mir, nachdem ich das Buch, mit einem Lesezeichen versehen, zugeschlagen habe, noch einmal den Konflikt auf dem Balkan durch den Kopf gehen. Serben, Kroaten, Bosnier, jahrelang waren sie Jugoslawen, aber wohl mehr auf dem Papier als in ihrem Bewußtsein. Wie war das nach dem Krieg bei uns, als die Flüchtlinge aus Pommern, Schlesien, aus den Ostgebieten in den Westen kamen? Wie war das nach dem Fall der Mauer ? Jeder ist in eine Nationalität, in eine Kultur hineingeboren worden und hält sie gegenüber anderen wohl auch immer für ein bißchen herausgehoben, auf einer irgendwie höheren Ebene. Bewußt oder unbewußt, stärker oder schwächer, aber es ist wohl nicht ganz zu nichten, auch, wenn wir uns die größte Mühe geben.

"…und es war, als würden wir auf eine Geschichte zugehen, von der wir fälschlicherweise angenommen hatten, daß sie uns nichts, aber auch gar nichts angeht, das Leben unseres Vaters vor der Zeit unserer Mutter. "
 Hast Du schon mal darüber nachgedacht, was  Dein Vater, Deine Mutter vor Dir für ein Leben geführt haben? Wie ihr Alltag ausgesehen hat, als sie sich noch gar nicht kannten? Waren sie damals dieselben Menschen oder haben sie sich anschließend total verändert ? Was wissen wir eigentlich von unseren Eltern? Bei mir ist es noch gar nicht so lange her, daß ich überhaupt erfahren habe, wie sie sich kennengelernt haben. Man sprach ja früher nicht darüber und vor den Kindern schon überhaupt nicht. Haben sie damals genauso gedacht wie heute und welche Vorstellungen hatten sie in jener Zeit vom Heute? Gab es überhaupt Vorstellungen? Schließlich war Krieg oder Nachkriegszeit. Da übrigens schließt sich wieder der Kreis zu der Geschichte von den Tauben.

"…ich höre das sumpfige Geräusch, das schmatzende, gierige Geräusch von nassem Dreck,…."
 Welch eine schöne Beschreibung, weil man es wirklich beim Lesen hört. Man schließt nach diesem Satz das Buch und wird das Geräusch im Ohr nicht los. Es schmatzt gierig vor sich hin. Man muß sich geradezu zusammennehmen, um nicht die Füße zu heben, damit man wieder auf festen Boden kommt, denn man will ihm ja entkommen, all dem Sumpfigem, dem Schmatzendem, dem Gierigem, all dem Dreck des Alltags. Kennst Du das Geräusch, wenn Du nach dem Regen über eine aufgeweichte Wiese oder einen durchtränkten Waldweg läufst ? Fluchtgedanken? Der Wunsch, sich nicht in diesen Dreck hineinziehen zu lassen, ihm zu entkommen, einen trockenen begehbaren Pfad zu erlangen.

Nein, politisch gesehen bin ich nicht grün, aber zumindest gab es dort einen Menschen, dem ich sehr viel Sympathie entgegengebracht habe. Mit Joschka würde ich mich gerne mal unterhalten. Warum ich jetzt gerade auf ihn komme? Ganz einfach, er ist der Einzige, der die Situation auf dem Balkan damals wirklich verstanden hat. Würde Ildi ihn auch verstehen? Ich glaube schon, denn sie braucht nur ein Fenster, um auf die Welt zu schauen und Joschka hat durch dieses Fenster geschaut, zugesehen und erkannt.
  Nur, wir schauen alle viel zu wenig durch unser Fenster. Lieber lenken wir unsere Blicke in den Fernseher, wo wir keine Realität erblicken können. Das Leben existiert genau vor unserem Fenster, aber wir schauen nicht hindurch. Wir bemerken zwar, daß die Gardine vergilbt ist, aber nicht, was mit den Menschen dahinter geschieht. Das Fenster in unserer Wohnung ist das wichtigste Inventar, weil es uns die Möglichkeit gibt, in die Freiheit zu schauen. 

 

Beim Schreiben höre ich mir gerade die Vertonung eines Gedichts von Hölderlin an. Da ist er wieder, der Freiheitsgedanke. Und noch dazu in erhabenen Tönen. Ja, " verstehe die Freiheit, aufzubrechen wohin du willst." , genau das ist doch der Gedanke in den Tauben. Sie sind aufgebrochen, wohin sie wollten, aber die wirkliche Freiheit haben sie nicht gefunden. Egal, wohin wir uns wenden, wir sind in einer Umgebung, in einer Kultur groß geworden, aufgewachsen, von der wir uns in all unseren späteren Jahren nicht wirklich trennen können. Und, wohin wir auch gehen, wir bleiben Fremde, zumindest im eigenen Bewußtsein, weil wir alles was war, was wir erfahren haben, was Teil unseres Seins geworden ist, nicht einfach nichten können.
Wir haben die Situation auf dem Balkan aus den Nachrichten erfahren, sie in gemachten Bildern erlebt, ohne das Geschehen dort wirklich verstehen zu können. Gleiches gilt für alles außerhalb unserer engeren Umgebung. Dieses ist kein Vorwurf gegen uns, denn wir haben keine wirkliche Beziehung zu den Vorgängen. Aber wir müssen uns vorwerfen lassen, daß wir die Dinge beurteilen, ohne sie zu verstehen. Verstehen zu können. Ildi kann sie auch nicht mehr verstehen, denn sie hat die Situation als Kind verlassen, sie hat nur noch eine Beziehung zu bestimmten Personen, aber nicht mehr zu der Situation. Sie ist weder Jugoslawin, noch Ungarin, noch Schweizerin, sie ist Produkt einer Situation.
Wir haben über den Balkan geurteilt, wir urteilen über den Iran, den Irak, über Asien und Afrika. Und dies alles, ohne die Situationen dort auch nur ansatzweise zu kennen, ohne eine Beziehung in welcher Form auch immer nach dort zu haben. Wir glauben, hier eine Demokratie zu haben, glauben, hier eine Freiheit zu haben, die der einzige zu verteidigende Wert ist, aber übersehen dabei, daß Freiheit nicht allgemeingültig definiert werden kann. Freiheit in der Welt kann es nur geben, wenn wir unsere Freiheit dazu benutzen, allen übrigen Menschen ihre Freiheit zu gewährleisten. Gleiches gilt natürlich auch für die übrigen Menschen. Und um noch einmal Hölderlin zu Wort kommen zu lassen und ihn richtig zu verstehen: Jeder Mensch - und die Betonung liegt auf jeder - verstehe die Freiheit aufzubrechen wohin er will.
Nur wenn dies gewährleistet ist, fliegen die Tauben nicht in die Luft, wie alles in der heutigen Zeit, werden sie nicht zu Ratten, verkriecht sich der Frieden nicht in der Kanalisation und wird doch irgendwann gesprengt, sondern bleiben oder werden zumindest wieder Tauben des Friedens der Freiheit und fliegen auf, auch ganz ohne Sprengstoff, ganz ohne Haß und ohne Krieg.
Aber dazu müßten wir unseren Fernseher verlassen und mal wieder durchs Fenster blicken, damit wir die Realität sehen.
" damit ich die halbnackten, verdreckten Kinder nicht sehe, die ich sonst nur aus der Distanz kenne..." und "...die mit ihrem Blick am Fenster hängenbleibt, da, wo man sieht, was ein Fenster ist, nämlich ein Loch..." Nur, der Fenrseher ist kein Fenster und noch nicht einmal ein Loch. Er zeigt keine Realität. Mit ihm können wir nicht verstehen, was wirklich in der Welt geschieht. Schaffen wir uns also unser eigenes Fenster, fragen wir nicht die Experten, sondern die Hausmeisterin, damit wir verstehen, was da draußen geschieht.
Freiheit bedeutet nicht Anpassung, sondern auffliegen können ohne Gewalt. Und zwar als Kreatur, als Sein meiner selbst.

Und wenn wir durch das Fenster ins ehemalige Jugoslawien schauen, sehen wir noch immer keine Tauben auffliegen, sondern immer noch einen Friedhof von vielen Papuci und vielen Mamika. Und hier bei uns warten noch immer viele Ilkas auf ihr Fenster, egal woher sie stammen und welche Bäume sie dadurch zu sehen wünschen.


 

 

 

 

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