Autorenlesungen2018

 

Autorenlesungen

 

 

 

 

Deutsche Literatur der Gegenwart

2018

 

  Gedanken -

                                beim Zuhören geboren

 

Georg Klein - Monika Maron - Hans Platzgumer - Kirsten Fuchs - Norbert Scheuer - Bernd Wagner - 

Mirko Bonné - Michael Roes

 

 

 

 

 

 

Georg Klein

liest aus Miakro - 15.10.2018

 

Geboren 1953 in Augsburg 

Studierte Germanistik, Geschichte und Sozialkunde.


Werk unter anderem :

Miakro. Roman   2018

 

Auszeichnungen unter anderem:

  • 1999: Brüder-Grimm-Preis der Stadt Hanau
  • 2000: Ingeborg-Bachmann-Preis
  • 2010: Preis der Leipziger Buchmesse

 

 

 

Miakro
 Die Männer, die im Mittleren Büro ihren Dienst versehen, arbeiten, Pult neben Pult, am weichen Glas. Am Ende des Tages marschieren sie geschlossen zum aktuellen Nährflur, wo die bleiche Wand eine Speise für alle bereitstellt. Danach schlüpft jeder in seine Ruhekoje. Dort aber liegt Büroleiter Nettler seit einigen Nächten wach. Ein rätselhafter Binnenwind zieht ihm das Gestern, Heute, Morgen ungezählter Arbeitsjahre neu herbei.

 

Notizen

Der Titel setzt sich aus den Wörtern Mikro und Makro zusammen.

Am Anfang behauptet der Autor: „In meinen Erzählungen regiert der Aberwitz“.Es sind Erfahrungsräume jenseits der realen Erfahrungen. Georg Klein will nicht abbilden, keine Realität abbilden. Den Leser nennt er Fluchtpunkt seiner Gedanken.

„Miakro“ erinnert mich sofort ein bißchen an „Die unheimliche Bibliothek“ von Haruki Murakami. Allerdings nicht auf sprachlicher Ebene.Das "Mittlere Büro" und die Bibliothek unter der Bibliothek. Beide stellen einen eigenen Kosmos dar, wobei das Büro, ein lebendiges Büro, sich alles einverleibt, aber auch für die Versorung zuständig ist. Fast wie eine Gebärmutter. Die Gebärmutter als Sozialstaat ?

Die Angestellten in dem Büro verwachsen mit ihren Arbeitstischen und verlassen diesen Raum auch nie. Ihre Arbeiten sind „Glasarbeiten“, deren Inhalt sich aber nicht wirklich erschließt. Das Arbeiten ist das Leben der Menschen. Man kann keine eigenen Erfahrungen erkennen. Alles spielt in einer Art „Unschärfe“.Gegensätze wie Natur und Kultur jedoch wachsen aufeinander zu (Klein), was in dieser Welt zur Folge hat, daß die Menschen mit ihrer Arbeit, ja sogar mit ihren Bürotischen im wörtlichen Sinne zusammenwachsen.

Beim Lesen ergeben sich immer Parallelwelten, die einem jedoch genauso schnell wieder entzogen werden. Etwas beeinflußt sei er, so Klein, auch von den Science-Fiction seiner Jugend.

Dem Roman vorausgestellt hat er ein Zitat, das von Clemens Brentano stammt: "Aber der Mensch ist so enge in sich selbst gefangen, dass er sich meistens selbst verzehrt, wo er die Welt verzehren sollte." In Brentanos "Godwi-Roman" geht dem Zitat eine Passage voraus, die der Ermahnung eine idealistische Vorstellung entgegenhält: " Jeder Mensch" sagt Godwi, "der in sich selbst groß werden will, sollte in sich den Stoff und den Geist auffinden (...) in ihm läge ein Universum, und er könnte sich lieben und anbeten."

Erwähnenswert ist auch noch ein Diskussionspunkt, in dem es um die Wortwahl ging. Hier sollte, so der Autor, beim Leser eine Zeitmischung erscheinen, um eine Festlegung zu vermeiden. "Wenn dieser Roman Zeitgeschichte ist, was ist dann Zeit?" So verweisen zum Beispiel bestimmte technische Begriffe auf eine bestimmte Zeit. Doch Begriffe vergehen auch und sind vielleicht irgendwann nicht mehr verständlich, womit dann auch der Roman unverständlich werden könnte.

Da war ich kurz in Kassel bei den Texten der "Fantastischen Vier". Zum Mitsingen auch heute noch und sicherlich auch in Zukunft geeignet, aber der Hintergrund für die heutige Jugend schon schwerer, für ein paar Generationen weiter nicht mehr nachvollziehbar. Genau wie wir ab und zu Begriffe aus der älteren Literatur nachschlagen müssen. Georg Klein nennt es daher gefährlich in Romanen spezielle zeitliche Begriffe zu verwenden, egal ob aus der Technik oder aus dem allgemeinen Sprachgebrauch. Und so bilden hier bei ihm eigene Begriffe die Roman-Realität ab: "Weichglas", "Schockstock" oder "Zeitspeckschwinden". 

Nun, es läßt sich unendlich vieles in diesen Roman hineinlesen. Der Autor sorgt aber mit aller Macht dafür, daß sich solche Spekulationen am Ende nicht auflösen. 

 

 

 

 

Monika Maron

liest aus: „Munin oder Chaos im Kopf“ – 22.10.2018

 

Geboren 1941 in Berlin als Monika Eva Iglarz 

lebte von 1951 bis 1988 in der DDR (Ost-Berlin)

 

Monika Maron war keine dem DDR-Regime nahe Schriftstellerin, sie wurde dort noch nicht einmal publiziert. 


Werke unter anderem :


Stille Zeile Sechs   1991

Animal triste  1996

Endmoränen  2002

Munin oder Chaos im Kopf   2018

 

Auszeichnungen unter anderem:


  • 1991 Brüder-Grimm-Preis der Stadt Hanau
  • 1992 Kleist-Preis
  • 2017 Ida-Dehmel-Literaturpreis für das Lebenswerk

 

 

 

Munin oder Chaos im Kopf
Mina Wolf, Journalistin und Gelegenheitstexterin, opfert den Sommer, um einen Aufsatz über den Dreißigjährigen Krieg für die Festschrift einer Kleinstadt zu schreiben. Eine irre Nachbarin, die Tag für Tag von morgens bis abends auf ihrem Balkon lauthals singt, zwingt sie, nur noch nachts zu arbeiten. Die kleine, enge Straße gerät in Aufruhr und in Minas Kopf vermischen sich der Dreißigjährige Krieg, die täglichen Nachrichten über Krieg und Terror mit der anschwellenden Aggression in der Nachbarschaft. Als auch noch eine Krähe in ihre nächtliche Einsamkeit gerät, die sie Munin nennt und mit der sie ein Gespräch über Gott und die Welt beginnt, ist das Chaos in Minas Kopf komplett.

Chaos im Kopf – so der zweite Teil des Romantitels. Munin hat es verstanden. Die Autorin Munin leider bis heute nicht. 

Notizen

Munin ist eine der beiden Krähen des Gottes Odin, die ihn stets über das Weltgeschehen berichtete. 

Eigentlich, so Maron, wollte sie in dem Roman ein Gespräch mit ihrem Hund führen, doch daraus wurde dann, warum auch immer, die Krähe. Doch die spricht, wie sich ganz am Ende des Romans herausstellt, nicht selber. Es ist die Krähe in der Erzählerin selber, durch die sie berichtet, was der Mensch sonst nicht zu sagen wagt.

Auf die Frage, warum die Krähe behindert ist – sie hat nur ein Bein – gibt Monika Maron an, sie habe eine Erklärung gebraucht, warum das Tier in ihre Wohnung gekommen sei. Genau wie diese, so beruhen auch alle ihre anderen Erläuterungen auf Zufällen, Zufälle, die ihr in ihrem Leben widerfahren sind. 

Mir bleibt der Eindruck von einem sehr einfachen Denken, welches auch ihrem Erzählen, ihrem Schreiben entspricht. Sprachlich und erzählerisch an manchen Stellen ziemlich flach.

Die Vergleiche von vor dem Dreißigjährigen Krieg zu den Zeiten vor dem Zweiten Weltkrieg und der heutigen Zeit – sie bezeichnet alle drei Zeiten als Vorkriegszeiten, wobei sie die Gefahr heute hauptsächlich im Islamismus sieht – hören sich an wie Zeitungsmeldungen. Es sind Meinungen außerhalb einer Erzählung. 

Wenn ich Monika Maron erzählen, antworten höre, wird bei mir der Eindruck erweckt, daß sie in diesem Roman nichts sagen, sondern nur irgendetwas schreiben wollte, wozu sie verschiedene Zufälle zu einem Ganzen zusammengefügt hat. 

Persönlich kam mir bei den Gesprächen mit der Krähe das Gedicht von Annette von Droste-Hülshoff „Die Krähen“ in den Sinn. Ihr nach eigenem Bekunden auch, aber nur durch....man weiß schon. 

Und trotzdem sind für mich viele Dinge in dem Roman – soweit ich ihn aus dem Gelesenen kenne – zumindest Anstoß zu weiterem Denken.

Bisher kannte ich die Autorin nur von ihrem Werk „Stille Zeile 6“, welches ich nach wie vor sehr schätze, hoffe nur, daß es nicht genauso zustandegekommen ist, wie Munin. Aber eigentlich will ich es nach dieser Lesung auch gar nicht wissen. Oder, so frage ich mich, tritt der Zufall im Alter – sie ist 77 Jahre – häufiger auf ? 

Aber was ist schon Zufall ? Ganz allgemein definiert, ein Ereignis, welches nicht vorhersagbar ist. Albert Einstein hat einmal gesagt:"Das, wobei unsere Berechnungen versagen, nennen wir Zufall." 

Bleibt die entscheidende Frage:Warum? Weil wir die Gründe für ein Ereignis nicht alle oder nicht genau kennen oder überhaupt keine Gründe kennen oder es gibt gar keine Gründe.Und doch wissen wir, daß es für alles einen Grund gibt, auch wenn wir ihn uns nicht vorstellen können. Also wäre jedes Ereignis vorhersagbar, wenn wir alle Gründe kennen würden, wozu wir aber bei gewissen Ereignissen nicht in der Lage sind.

Wenn man jetzt noch weiß, was ich meine, dann ist das bei meinem Chaos wahrscheinlich auch Zufall. Vielleicht hätte Munin darauf eine Antwort. Marion hatte sie nicht. 

 

 

 

 

 

Hans Platzgumer

liest aus: „Drei Sekunden Jetzt“ – 29.10.2018

Geboren 1969 in Innsbruck

Studierte Gitarre und Elektroakustik. 1989 war er in New York ein bekannter Rockmusiker. Seit 2000 widmet er sich der literarischen Arbeit und lebt heute in Bregenz und Wien. Für Aufführungen von Tschechows "Der Kirschgarten" schrieb er 2014 die Musik.



Werk unter anderem :

Drei Sekunden Jetzt   2018


Auszeichnung

2007: Emil-Berlanda-Preis für zeitgenössische Musik. Platzgumer erhielt mehrere Auszeichnungen für Hörspielarbeiten, darunter einen New York City Radio Award, und Literaturstipendien in Rom, Berlin, Montreal und Sri Lanka. Für die Arbeit mit André Heller erhielt er 2004 eine Goldene Schallplatte.

 


Drei Sekunden Jetzt
Kaum erwachsen flieht das Findelkind Francois vor seinen Pflegeeltern und landet in einem zwielichtigen Hotel an der Küste von Marseille, wo er von "Le Boche" dem Deutschen, in obskure Geschäfte verwickelt wird. Er fühlt sich wohl in diesem Hotel, das nur selten Gäste beherbergt - bis dort ein Mann tot aufgefunden wird. Francois zieht in die Ungewissheit New Yorks, und bald - blind vor Liebe - nach Montreal in Kanada, wo ihn seine Gutgläubigkeit und der kalte Winter nahe an den Abgrund bringen.

 

 

 

Notizen

Es geht in dem Roman um das Leben eines Findelkindes aus dem Untergrund, das ständige Suchen und eine dadurch entstehende Narrenfreiheit. Aber es ist immer ein Suchen nach dem Sein in der Vergangenheit, nicht nach vorne, nicht zur Freiheit. Eine im Grunde langweilige Schilderung, wie man sie von vielen Findelkindgeschichten kennt. Die Erzählung löst, jedenfalls bei mir, keine Gedanken aus.

Bis auf vielleicht ein Frage, die den Roman durchzieht: Kann man leben, ohne zu wissen, wer man wirklich ist ? In diesem Sinne setzt Platzgumer ein Zitat von Anton Tschechow aus „Der Kirschgarten“ vor den Roman:

„Ich hab`gar keinen richtigen Paß – ich weiß nicht, wie alt ich bin; mir ist immer, als wär` ich noch ganz jung.“

Diese Zitate, wir hatten es schon bei Georg Klein (Brentano), sollen, so wirken sie jedenfalls oft bei mir,  ein literarisches Auskennen, ein intellektuelles Niveau bekunden. Anspruch und Wirklichkeit klaffen aber hier oft auseinander.

Platzgumer bezeichnet das Buch als ein Spiel mit dem Leser, irgendwie auch ein philosophischer Roman, ja, nach seinen Worten, ein existenzialistischer Roman. Ich suche Sartre vergeblich, denn so hat er das „in die Welt geworfen werden“ sicher nicht gemeint.

Nein, es bleibt eine einfache Erzählung in einer einfachen Sprache, genauso einfach „runterzulesen“, ohne daß einem etwas aufhält, ohne daß man sich selber begegnet. Nebenbei ein Erzählstil mit viel wörtlicher Rede.

Sein Thema hier – und angeblich auch in seinen anderen Romanen -  „Ausgestoßen werden, sich entwickeln“. Und ich stimme ihm durchaus in einem Punkt zu, wenn er behauptet: „Jeder Autor schreibt nur ein Buch“.

Wie als Musiker habe er beim Schreiben eine Stimmung im Kopf, auf die er sich einläßt, ausgehend von einem Ort, von dem er alles entwickeln kann.  

Hervorragend, seine Art vorzulesen, fast schon vorzuspielen. Hier spürt man, daß er von der Bühne kommt. Er macht aus der Lesung eine kleine Show, bis hin zum Schlußablaus mit Verbeugung.

Für Leser, die leichte Unterhaltung suchen, ist es ein gelungenes Werk. Wer etwas tiefer in die Problematik eintauchen möchte, der wird hier kaum zufriedengestellt werden. Gilt auch für den sprachlichen Aspekt. Laßt es mich mal so formulieren: In der Musik – von der er ja kommt – würde man es als „Schlager“, bestenfalls als „Popmusik“  bezeichnen. 

Drei Sekunden Jetzt – aber ohne Nachwirkung.

Ja, manchmal entscheidet so ein kurzer Augenblick über ein ganzes Schicksal.

Drei Sekunden sind nicht viel, können in bedrohlichen Situationen jedoch auch ganz schön lang sein. Und sie können ausreichen, um eine falsche Möglichkeit zu wählen oder sich gewissenhaft zu entscheiden.
 Hier hätte Platzgumer ansetzen sollen.

 

 

 

 

 

Kirsten Fuchs

liest aus: „Signalstörung“ – 05.11.2018

Geboren am 27.10.1977 in Karl-Marx-Stadt. (jetzt Chemnitz)

Fuchs ist eine der bekanntesten Autorinnen der Berliner Lesebühnenszene. Bei der "Schreibwerk-statt Berlin" für Kinder und Jugendliche arbeitet sie seit 1993 mit. 



Werk unter anderem : 


Signalstörung   2018



Deutscher Jugendliteraturpreis 2016

Als Kolumnistin ist Kirsten Fuchs unter anderem für "Das Magazin" tätig.
 Sie lebt heute in Berlin.

 

 

 

Signalstörung

erzählt von Helikoptereltern und Rechtsradikalen, clean gewordenen E-Trinkern und Jugendlichen auf "Stoff" - Suche. Fuchs `Protagonisten stellen Notfallpläne für Flüchtlingssonderzüge auf, plagen sich mit der Bürokratie im "Keinjobcenter" herum oder tragen einen Schrank, dessen Schlüssel verloren gegangen ist, eulenspiegelmäßig zum Schuster, um ihn dort öffnen zu lassen.

Notizen

Dieser Titel hat keine direkte Beziehung zu den 19 Geschichten ihres Erzählbandes gesteht Kirsten Fuchs ein. Das Wort - aus einem ganz anderen Stück - paßte einfach und gefiel dem Verlag. So einfach ist das manchmal. Ganz nebenbei erfuhr man auch noch, daß der jeweilige Verlag die Geschichten alleine aussucht und zusammenstellt. Da erübrigt es sich also, einen zusammenhängenden Gedankengang der Autorin über die ganzen Geschichten hinweg zu suchen. Doch davon abgesehen gibt es, so Kirsten Fuchs, Signalstörungen überall, bei den verschiedenen Kommunikationen ganz besonders.

 Die Autorin schreibt neben Theaterstücken und Romanen diese Erzählungen für die Lesebühne in Berlin. Solche kleinen Geschichten liegen ihr besonders, weil sie nach eigener Aussage weiß, daß sie es selber Menschen präsentiert - vorliest. Etwas anderes, als wenn die Menschen die Texte selber lesen. Und so sind sie leicht und direkt hingeschrieben, wobei jede Geschichte aus einer anderen Perspektive erzählt. Ein Großteil ist autobiographisch. Sie schreibt auch nicht nach irgendwelchen vorherigen Planungen, sondern "tippt einfach drauflos" , verwirft aber auch vieles wieder.

Ihre Erzählungen gehen immer wieder über die Satire, weil, so sagt sie, das Leben einfach satirisch ist. Kirsten Fuchs schreibt nicht nur satirisch, lustig, nein, sie erzählt und spricht auch so,auch während des Lesens in freien Zwischentexten als so eine Art Moderation. Selbst bei der versuchten Diskussion ist ihr nur schwer eine gänzlich ernste Antwort zu entlocken. Sie spielt mit dem Moderator und dem Publikum.

 Aber diese Satire durch das Spiel mit Worten und Sätzen und Begriffen ist durchaus gekonnt und wirkt nie als einfacher, flacher Witz. Man gewinnt den Eindruck, daß sie selber das Leben auch so sieht und lebt, wie sie es in ihren Geschichten darstellt. Wobei aber hinter diesen lustigen - wie es scheint, aber nur scheint - einfach dahingeworfenen Äußerungen immer auch ein realer, ja oft auch ernster Hintergrund steht, der jedoch erst durch diese Satire deutlich zum Vorschein kommt, dem Leser/Hörer erst bewußt wird. Ja, ihm wird sein groteskes Denken und Handeln so erst vor Augen geführt.

Insgesamt eine sehr unterhaltsame Lesung einer sympathischen Autorin. Jenseits großer Literatur ein entspannendes Leseerlebnis mit Erzählungen direkt aus unserem Alltag heraus. Manchmal erinnert es ein bißchen an Poetry-Slam.

Unser Alltag, unser tägliches Leben liefert also immer noch die spannendsten Themen. Wir müssen nur die Augen aufmachen und eventuell manchmal auch ein Buch.

 

 

 

 

 

Norbert Scheuer

liest aus: „Am Grund des Universums“ – 12.11.2018

Geboren 1951 in Prüm/Eifel

Studierte und diplomierte nach einer Lehre als Elektriker  physikalische Technik und Philosophie. Seit den 1980er Jahren verfaßt der Autor Prosa und Lyrik und ist heute als Schriftsteller und Systemprogrammierer tätig.


Werk unter anderem :

Am Grund des Universums   2017

 

Auszeichnungen unter anderem:

  • 2003: Martha-Saalfeld-Förderpreis
  • 2006: 3sat-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb
  • 2019: Shortlist Deutscher Buchpreis mit Winterbienen 

 

 

 

Am Grund des Universums


Ein Stausee soll vergrößert und ein Ferienpark errichtet werden: Vor diesem Hintergrund wird ein fantastischer Reigen abenteuerlicher Geschichten erzählt, deren Kristallisationspunkt die Cafeteria eines Supermarktes in Kall, einem imaginären, aber doch realen Städtchen ist. Die Grauköpfe, eine Gruppe alter Männer, versuchen von ihrem Stammplatz in der Cafeteria aus hinter all die Geheimnisse des Alltags in "Urftland" zu kommen und die verborgenen Mechanismen diese Universums zu begreifen.

 

Notizen

Irgendwie, ohne daß ich es begründen könnte, war mir dieser Autor von Anfang an sympathisch. Nein, ganz sicher nicht vom Aussehen. Lange, ungepflegte Haare, etwas Jackenähnliches, was ich früher nicht einmal nachts angezogen hätte, eine Hose, die vor langer Zeit wohl mal eine Jeans war und ein Gang, der beim Betreten des Hörsaals eher den Eindruck machte, als wolle er sagen: Ich habe gar keine Lust und gehe auch gleich wieder. Doch dieser erste Eindruck täuschte gewaltig. Norbert Scheuer ist eben, wie sehr schnell deutlich wurde, auf allen Gebieten ein Grenzgänger.
 

Beim Beginn des Schreibens, so der Autor, steht für ihn nicht eine Konstruktion, sondern eine Geschichte. Oder besser: Viele kleine Geschichten von Personen, die ineinander greifen und eine Gesamtgeschichte ergeben.

 "Unser Leben ist nur eine Häufung vieler vergessener Geschichten."

Die Geschichten dieses Romans spielen in einem Dorf mit einem Staudamm auf verschiedenen Ebenen. Einer realistischen - einer phantastischen. Letztere versucht Probleme, die nicht lösbar sind aufzugreifen. Man trifft Personen, die in ihrer Phantasie ihr Wollen leben, außerhalb der Realität, aber in der Realität.

 Scheuer macht hier die Provinz zum Welttheater. Ein kleines erfundenes, reales Dorf in der Eifel und seine Bewohner, unter die er sich unbemerkt mischt, bilden die Bevölkerung, das Universum ab. Schnell findet man sich in Situationen wieder, die einem bekannt vorkommen, aus dem eigenen oder einem Ort, in dem man schon mal gewesen ist, gewesen zu sein glaubt.

Die Frage, wer Erzähler ist, läßt er allerdings ziemlich offen, tendiert nur zu einer Person. Gleichzeitig tauchen aber auch Personen aus seinen früheren Romanen auf, wobei es jedoch unerheblich ist, ob man diese Werke gelesen hat.

 Die Cafeteria in einem Einkaufszentrum und eine Gruppe alter Männer - die Grauköpfe -, welche sich regelmäßig dort treffen und denen nichts entgeht, die alles wissen, bilden sozusagen die Bühne, auf der die Geschichten erzählt werden.

Ein Makrokosmos (das Universum) wird in einem Mikrokosmos (der Ort Kall) widergespiegelt, entsteht vielleicht dort.

So werden viele Geschichten aus dem Grund des Stausees hervorgerufen, der in dem Dorf gebaut werden soll. Beim Auspumpen kommen hunderte von Gegenständen ans Tageslicht, die auf eben diese Geschichten hinweisen. Manchmal gewinnt man den Eindruck, daß es noch eine dritte, eine mystische Ebene gibt, auf die der Autor aber nicht eingeht, sich nicht einlassen will, weil er solches als gefährlich empfindet.
Bei Fragen dieser Art kommt immer wieder sein Philosophiestudium durch.
 Andererseits interessieren solche Geschichten aus Kall auch allgemein, so seine Auffassung, weil jeder von uns in einem begrenzten Kosmos lebt. Und so schreibt er auch ab und zu über Dinge - hier den Staudammbau - die er nicht wirklich kennt, die ihn aber interessieren und in die er sich dann einarbeitet.

Mich erinnert dieser Roman ein bißchen an meine "Kneipenzeit", wo sich diese Grauköpfe jeden Abend an der Theke versammelten und versuchten, unbewußt, die Probleme der Welt zu lösen, indem sie ihre eigenen lösen wollten und oft dabei auch auf der Phantasieebene landeten. Da saßen sie an der Theke  - vom Bundestrainer über den Bundeskanzler bis zu irgendeinem Präsidenten - und hatten für alle Weltprobleme eine Lösung, nur nicht für ihre eigenen.

Auf der anderen Seite versuchen auch Autoren sicherlich oft ihre Probleme beim Schreiben zu lösen, indem sie sie auf erfundene Personen übertragen. Man spricht dann immer gerne von einem autobiographischen Roman. Aber ist es das wirklich, wenn der Schreibende lediglich ein Problem zur Diskussion stellt, daß auch sein eigenes ist ? Wenn der Erzähler oder eine Person in der Geschichte Gemeinsamkeiten mit ihm hat ? Kann man diese nicht irgendwie immer ausmachen, weil der Verfasser eines Textes doch zumindest sein eigenes Denken immer in die Erzählung mit einbringt ? Dann wäre ein Text fast grundsätzlich autobiographisch, natürlich keine Autobiographie, die den Memoiren näher steht. 

 

 

 

 

Bernd Wagner

liest aus: „Die Sintflut in Sachsen“ – 19.11.2018

Geboren 1948 in Wurzen

Maurerlehre, Studium in Deutsch und Kunsterziehung in Erfurt, dann Lehrer.1977 Ausstieg aus dem Beruf und Umzug nach Berlin-Ost, was man so nicht sagen durfte. Erlaubt war nur, wie man mir mal bei einem Besuch dort beigebracht hatte, Berlin, Hauptstadt der DDR.
 Wagner war dort freier Autor und gleichzeitig Helfer bei achäologischen Ausgrabungen. Mitbegründer der Samisdat-Zeitschrift "Mikado". Heute Schriftsteller und Publizist.


Werk unter anderem :

Die Sintflut in Sachsen   2018

 


 

Die Sintflut in Sachsen


Wir sind in Wurzen, einer kleinen Stadt bei Leipzig.Die Familie Wagner, deren Weg wir bis heute verfolgen, betreibt eine Schmiede, den Mittelpunkt eines Familienlebens, das Bernd Wagner zum Thema eines Romans unserer Jahre macht.

 

 

Notizen

Nach ungefähr vierhundert von vierhundertzweiunddreißig Seiten erfährt man endlich etwas von der Flut. Mit Sintflut hat es nichts gemein, aber so ein biblischer Begriff verkauft sich eben besser.
Wie viele gute Erzähler gibt es in der Literatur ? Bernd Wagner, das sei gleich gesagt, gehört für mich nicht dazu. Er erzählt Geschichten ohne wirkliche Höhepunkte, Geschichten, die er schon als Kind von seinem Vater aufgenommen und später zu diesem "Roman" zusammengefügt hat. Dazu kommen dann Erzählungen aus seinem eigenen Leben, welches sich hauptsächlich in der DDR abgespielt hat.

 Immer wieder versucht er zu erklären, warum man dort damals vieles einfach mitgemacht hat, nein, ich muß sagen, er versucht, es zu rechtfertigen. Es gab einfach nichts anderes, so seine blasse Antwort.

Es sind einfache Nacherzählungen seines Lebens, Kindheitserinnerungen und die aus dem Erwachsenenleben. Sprachlich ebenfalls sehr einfach. Doch vielleicht ist diese Sprache auch die des einfachen Lebens in der DDR.

 Aber da tritt noch ein anderes Problem auf. Wagner erzählt von Dingen und Handlungsweisen, die heute gar nicht mehr vorstellbar sind, ohne sie zu erläutern. Gleichzeitig kommt eine Denkweise zum Vorschein, die ebenfalls von den Jüngeren nicht mehr nachvollziehbar ist. Und so konnten die Studenten oft wenig damit anfangen, weil ihnen der Hintergrund fehlt und in den Erzählungen auch nicht geliefert wird. Im Gegensatz zu den älteren Zuhörern und somit auch zu mir, dem das alles selbstverständlich erscheint, weil noch selbst erlebt. (Wagner ist mein Jahrgang).

Bernd Wagner, ein echtes Kind der DDR, behauptet aber, nie in Richtung der Arbeiterbewegung des Staates gedacht zu haben, nie Mitglied einer Bewegung gewesen zu sein, ausgenommen der Lyrikbewegung.
An dieser Stelle berichtet er allerdings sehr interessant, wie man als Autor in der DDR in die Öffentlichkeit kam. Dabei hatte ich jedoch den Eindruck,daß er sich durch die Diskussion dazu hat verleiten lassen und dies eigentlich gar nicht preisgeben wollte. Irgendwie spürte man noch immer die alte Angst vor dem Regime.

Der Titel des Werks, der sich ja auf das Hochwasser im Jahre 2002 bezieht, taucht erst ganz am Ende auf. Sintflut, ein biblischer Begriff, der ja auf eine Strafe hindeuten könnte, indem diese Flut alles hinweggespült hat, alles Unrecht der DDR, wird von Wagner nicht gedeutet. Das möchte er dem Leser überlassen. Auch hier wieder das Abducken.
Die gleiche Erklärung zu Fragen nach dem wirklich Erlebten und den Erfindungen.
 "Ich will so erzählen, daß der Leser nicht genau entscheiden kann, was Wahrheit und was Dichtung ist."

Von Kindheitserinnerungen bis zum Erwachsensein, Wagner hat viele Geschichten im Kopf, viele Erfahrungen, die er auch alle in diesem Roman über sein Leben unterbringen will.

Mich erinnert er stark an "Froburg" von Guntram Vesper - siehe Autorenlesungen 2016-. Es sind vollkommen überfrachtete Werke, in denen dann alle Erlebnisse blos noch aneinandergereiht werden, fast wie eine Chronik. So, wie alte Menschen eben die Erinnerungen ihres Lebens erzählen, mal ihren Kindern oder Enkeln, mal am Stammtisch.
Übrigens gleicht auch sein sich in die Nähe von Kempowski stellen, den Äußerungen von Vesper. Beide sind jedoch meilenweit von ihm entfernt.

 Warum, so frage ich mich, muß man hundert Jahre Geschichte in ein Werk pressen ?

 

 

 

Mirko Bonné

liest aus: „Lichter als der Tag“ – 26.11.2018

 

Geboren am 09.06.1965 in Tegernsee

 Seit 1975 in Hamburg, Abitur 1986,

anschließend Zivildienst,Buchhandelsgehilfe, Altenpflegehelfer,Taxifahrer.

Seit Beginn der 1990er Jahre Schriftsteller und Übersetzer.

 

Auszeichnungen unter anderem:

2010: Marie-Luise-Kaschnitz-Preis

2017: Nominierung zum Deutschen Buchpreis mit Lichter als der Tag 

 

 

Lichter als der Tag

Raimund Merz kennt Moritz und Floriane von Kindheit an. Ihr Lebensmittelpunkt ist ein wilder Garten am Dorfrand. Als Inger zu ihnen stößt, die Tochter eines dänischen Künstlers, bilden die vier eine verschworene Gemeinschaft, bis sich beide Jungen in das Mädchen verlieben. Inger entscheidet sich für Moritz, Raimund und die ehrgeizige Floriane werden ebenfalls ein Paar. Jahre später kreuzen sich die Wege der vier erneut - für Raimund die Chance, sich der Leere seines Lebens ohne Inger zu vergegenwärtigen. Verzweifelt sucht er nach einem Weg zurück zu sich selbst und zu einer Aussöhnung mit der Vergangenheit. In einem furiosen Finale bricht er auf nach Lyon zu einem Gemälde, das ihn in Bann zieht wie in der Kindheit der wilde Garten.

 

Notizen

Nun, unter der dunklen Jahreszeit leiden wir ja irgendwie alle und da hilft auch nicht die zahlreiche Beleuchtung in den Innenstädten, mag sie auch manchmal noch so schön wirken. Ganz egal was wir zu Licht erklären und wie wir es verklären oder künstlerisch verwenden, es kann uns das Sonnenlicht nicht ersetzen.

Mirko Bonné erklärt gleich zu Beginn der Lesung, daß die Handlung des Romans zweitrangig sei. Das Licht ist der Mittelpunkt.

Ihm geht es um den Versuch, das Licht durch die Sprache darzustellen.

Da ist es zunächst das in den Hamburger Hauptbahnhof einfallende Licht, welches ihn fasziniert. Aber viel wichtiger wird ein Bild. „Der Roman ist nur mit diesem Bild denkbar, mit keinem anderen.“ Die Idee kam ihm beim Betrachten dieses kleinen, unscheinbaren Bildes – so nennt er es – im Original: Das Bild von Jean-Baptiste Camille Corot : „Weizenfeld im Morvan“. Er möchte es Menschen, die es vielleicht nicht kennen, nicht sehen, eventuell gar nicht sehen wollen, mit Worten nachmalen. Eine Bildbeschreibung fortsetzen.

Das Bild, ein Lichtbild, für Bonné ein Schattenbild.

Aus dem Gryphius-Sonett von 1637:

„Es ist alles eitel“

Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind;

Als eine Wiesenblum’, die man nicht wieder find’t.
 
Noch will, was ewig ist, kein einzig Mensch betrachten!

 

Licht ist für den Autor eine „lebendige Brücke, die zurückführt zur Erinnerung“, wobei es für Bonné einen Unterschied zwischen Wirklichkeit und Realität gibt.

Sein Leben möchte er durch das Schreiben verändern, erweitern. Und dieses Buch habe ihn verändert. Das Nachdenken über seine Kinder, seine Familie sei eigentlich schwer, jedoch besser, leichter beim Schreiben. 

Die Personen in seinem Roman geben nur wenig von ihren Gefühlen preis. Aber diese Gefühle miteinader zu verbinden, sei das Spannende. Seine Figuren begehren gegen jede Resignation auf. Ein Konzept beim Schreiben existiert für ihn nicht, nein, er versucht sogar, jede Form von Konzept zu vermeiden. Zwei Beziehungen findet man dennoch in dem Roman: Auf der einen Seite zur Barockdichtung (hier Andreas Gryphius) und zu Goethes Wahlverwandschaften. Dieses Thema versucht er sehr frei in die heutige Zeit zu übertragen. Und so geht er in diesem Werk der Frage nach, wie aus Liebe wieder Freundschaft wird, werden kann.

Geschichte will er wieder aus der Zeit zurückholen (Barock) und fortführen, genauso Personen wieder entdecken (Goethe) , sie wiederbeleben. Seine Lesung beginnt er mit einem Zitat aus seinem Gedichtband „Wimpern und Asche“:

„Ich zähle alles, was da ist, zusammen / und komme auf nichts.“

Der Titel des Romans stammt übrigens aus einem Gedicht von Andreas Gryphius: 

Über die Geburt Jesu

Nacht/mehr denn lichte Nacht!Nacht/lichter als der Tag/

Nacht/heller als die Sonn`/in der das Licht geboren/

Das Gott/der Licht/in Licht wohnhafftig/ ihm erkohren:

O Nacht/die alle Nacht`und Tage trotzen mag!

 

Für mich ein faszinierender Roman - soweit ich ihn aus der Lesung kenne - und ein spannender Autor, dem ich gerne länger zugehört hätte.

Bonné schafft es sogar, die verworrenen Wege der Liebe mit einer Landschaftsmalerei in Verbindung zu bringen. Licht und Natur, in der Natur. Dieses Schauspiel, dieses Licht mit Sprache zu malen, ist sicherlich noch schwieriger als mit einem Pinsel und mit Farben.

Und was ist mit der Dunkelheit da draußen vor meinem Fenster ? Kann man Dunkelheit besser beschreiben als Licht ? Traurigkeit besser als Liebe ? Aus Freundschaft wird Liebe, aus Liebe wieder Freundschaft, aus Dunkelheit wieder Licht ?

An Sankt Martin muß ich denken. Früher zogen wir an diesem Tag mit einer Laterne durch die Dunkelheit. Vorsichtig wurde die wackelnde Kerze im Inneren angezündet. Und wir entfachten dieses natürliche Licht mitten im Schatten der Nacht. Heute glimmen diese "Kerzen" durch eine Batterie. Kein Flackern mehr, kein Spielen des Windes mit dem Licht.

 

 

 

Michael Roes

 37. Paderborner Gastdozentur

für Schriftstellerinnen und Schriftsteller 

mit einer Lesung aus seinen Werken. – 03.12.2018

 

Geboren 1960 in Rhede/Westf.

Studiert Philosophie, Psychologie und Germanistik in Berlin. Später Regie-und Dramaturgie-Assistent an der Schaubühne. Es folgten Reisen in den Nahen Osten, nach Afrika und Amerika. 1991 promoviert er mit einer Studie zum "Sohnesopfer". Außerdem ist Roes Regisseur von Spiel-und Dokumentarfilmen und Autor von zahlreichen Romanen, Gesprächs-und Gedichtbänden. Er lebt derzeit in Berlin.



Werke unter anderem :


Rub’ al-Khali –  Leeres Viertel. Roman   1996

Weg nach Timimoun. Roman   2006

Zeithain. Roman    2017

Herida Duro. Roman   2019 

 


 

Auszeichnungen unter anderem:


2018 / 2019 37. Poetikdozentur der Universität Paderborn

  • 2020 Margarete-Schrader-Preis für Literatur (Uni Paderborn)
  • 2020 Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis

 

 

 

Roes liest in der Auftaktlesung zur diesjährigen Gastdozentur aus seinen Werken: Rub`al-Khali - Leeres Viertel (1996) und Weg nach Timimoun.

 

Rub`al-Khali-Leeres Viertel


Ein junger Berliner Kulturanthropologe reist in den Jemen, um arabische Spiele zu erforschen und grundlegende Einsichten in den Zusammenhang von Spiel und Kultur zu entwickeln. Im Reisegepäck hat er den Bericht einer Arabienreise des achtzehnten Jahrhunderts, der von einem Weimarer Gelehrten namens Alois Schnittke stammen soll. Dieser Text, der dem Leser als Parallelhandlung auszugsweise mitgeteilt wird, ist eine abenteuerromanhafte Kompilation verschiedener älterer Reiseberichte.

 

Weg nach Timimoun


"Weg nach Timimoun" ist die abenteuerliche Reise zweier Jugendlicher durch das von politischen und religiösen Spannungen geprägte Algerien. Im Mittelpunkt steht Laid, der zwischen seinem modernen, europäisch geprägten Leben in der Großstadt am Meer und den Erinnerungen an seine Kindheit in einem traditionellen Oasendorf in der Sahara zerrissen zu werden droht. Mit seinem Freund Nadir macht er sich auf die spannungsvolle Fahrt in die Vergangenheit.

 

Notizen

Mit diesem Autor erlebe ich schon wieder einen Grenzgänger, einen zwischen Literatur, Film und Wissenschaft. Jemanden, der den Anspruch erhebt, Vieles gleichzeitig zu sein: Wissenschaft und Literatur, Wissenschaft als Literatur und Literatur als Wissenschaft, zugleich Reflexion von Kunst und Wissenschaft. Es findet eine Vermischung der Gattungen von Wissenschaft und Literatur statt. (Adorno nannte es Verfransung). Für Roes sucht sich das Thema seine Gattung selber. Die Bereiche seien fließend.

Verstehen setzt für ihn weniger eine gemeinsame Sprache, als eine gemeinsame Erfahrung voraus. "Aneignung durch Zuneigung". Nicht zusprechen, sondern nachsprechen, um es zu verstehen.

Und so entfernt er sich von der objektiven Beobachtung hin zur teilnehmenden Beobachtung. Der Beobachter (hier Ethnologe) wird Teil des Alltags.

In einem Abschnitt des Buchs beschreibt er das Kinderspiel "Blinde Kuh" im Leeren Viertel, einer Wüste auf der arabischen Halbinsel, im Jemen. Im Unterschied zu unserer Version haben beide Spieler die Augen verbunden. Zwei Blinde, die einander suchen und verfehlen. Es geht um Freundschaft und eine Verstimmung der befreundeten, spielenden Kinder, die zum Schweigen des einen Jungen führt.

In der westlichen Kultur versucht man sich durch Sprache, durch das Aussprechen von einer Last zu befreien (Beichte etc.). Dagegen gilt in der arabischen Kultur : Was noch nicht gesagt worden ist, existiert nicht.

Der zweite Roman, "Weg nach Timimoun" spielt in Algerien und zeigt unter anderem den dortigen Unterschied zwischen Stadt und Dorf.
Der Junge aus der Stadt wird nicht im Dorf anerkannt, weil er nicht der "Mann" ist, der er sein müßte. In der Stadt zählt nur, was man aus sich gemacht hat, im Dorf, auf dem Land dagegen, was man aus ihm gemacht hat. Und so erklärt der Junge aus der Stadt, der im Dorf geboren ist, bei seiner Rückkehr, daß er gefühlsmäßig nicht nach Hause fährt.
"Ich darf nicht hören, was ich höre, nicht erkennen, was ich erkenne, vor allen Dingen darf ich nicht darüber reden."

 An dieser Stelle fällt mir die Aussage einer jungen Dame aus dem Irak ein, mit der ich mich mal über dieses Thema unterhalten habe und die es wunderbar zusammengefaßt hat: Hier bin ich zu Hause, da ist meine Heimat.

 

Beide Geschichten spielen in den Jahren 1990 bis ungefähr 2000, bis zum Beginn des Terrors. Michael Roes hat nach einer Sprache gesucht, um dies zu schildern.

"Alles schon ein dutzend mal gesagt, gehört, durchlebt.Wie soll ich diesen Wiederholungen entkommen, eine neue Sprache finden und dennoch verstanden werden."
Gestatte mir an dieser Stelle noch ein Zitat von Roes (er schreibt grundsätzlich alles klein, außer Satzanfang und Namen) : "Die gründe für die unterschiede im jeweiligen denken liegen nicht in den intellektuellen fähigkeiten, sondern in den unterschiedlichen sprachen begründet", heißt es im Leeren Viertel. "Doch können wir uns verständigen. Denn gemeinsam haben wir unseren körper. Nicht kulturen begegnen einander, sonder gesichter, gerüche, stimmen."

Das Ergebnis dieser Suche nach der Sprache ist ein Film, den er versucht, mit einem algerischen Studenten zu drehen. Roes hat zunächst einen Roman geschrieben, um diesen dann als quasi Drehbuch zu verfilmen. Und zwar mit den dortigen Mitteln und unter den dortigen Umständen.Der Film ist praktisch gescheitert, es gibt ihn jedoch trotzdem.

Der Autor präsentiert in seinen Werken einen Ich-Erzähler, der dem Leser aber nicht vormachen möchte, daß er alles über das Land, über die Person wisse. Daher wechselt er immer wieder vom auktorialen Ich zum auktorialen Er.
 Roes erklärt: "Ich versuche, gegen die postmoderne Unterstellung anzuschreiben, es gebe kein Gut und Böse mehr, es gebe keine Werte zu vermitteln. Der modernen Form zum Trotz bin ich in dieser Hinsicht konservativ."

 

 

 

 „Kains Grab. Aden 2009/2010“ – 10.12.2018

 

Michael Roes liest aus einem Tagabuch vom 14.Dezember 2009 bis Januar 2010 aus Aden.

 

Notizen

Roes:
"Der Reisende braucht und verbraucht Vorurteile."
"Manche reisen, um eine Stimme zu finden, andere, um zu verstummen."

Es handelt sich um ein überarbeitetes Tagebuch. Wie jedes Tagebuch eines Autors, so Roes, wurde es literarisiert, weil ein Autor weiß, daß alles, was er irgendwann aufschreibt, irgendwann in seinen Werken erscheint.

Hier werden unter anderem die Tage von dem französischen Dichter, Abenteurer und Geschäftsmann Arthur Rimbaud in Aden beschrieben. Es findet immer wieder ein Wechsel zwischen den Erlebnissen des Ich-Erzählers (Autor) und dem Erleben von Rimbaud und seinem Leben, sowie seinen Problemen mit seiner Homosexualität statt.

Der Sage nach soll Aden gleichzeitig Eden sein und so befindet sich nach arabischer Traditon hier auch Kains Grab. Danach kommen an diesem Ort außerdem Anfang und Ende zusammen: Anfang- der Garten Eden. Ende- nach muslimischem Glauben öffnet sich der Krater eines alten Vulkans in Aden am Ende wieder und führt direkt in die Hölle.

 Durch Reisen, so Roes, lernen wir aber auch andere Seiten in uns selber kennen, wir sind auf Reisen jemand Anderes als in anderen Situationen oder zu Hause. Man entkommt seiner eigenen Kultur nicht und wir können unsere Geschichte nicht erklären, ohne das Wissen über die Mythen, die Religionen. Egal wie man dazu steht.

Das was Michael Roes in dieser Lesung/Vorlesung vorliest und anschließend versucht im Gespräch zu erläutern -und das gilt wahrscheinlich für sein ganzes Reisewerk -, sind keine Reiseberichte, keine Reiseerzählungen, sondern Reiseerfahrungen, aber immer bezogen auf ein Thema, auf Themen, die er auf die Reise mitgenommen hat.
Die Äußeren und die Inneren, so will ich sie mal nennen. Äußere: Hier einmal die mysthischen Erzählungen von Kain, aber in erster Linie die Biographie von Rimbaud, der übrigens seine Homosexualität als Zeichen, als Stigma nach dem Kainsmal deutet.
Innere: Vorstellung - Wirklichkeit
 Mein Blick auf das Fremde bleibt mein Blick, es gibt keinen objektiven Blick beim Schreiben auf/über das Fremde. Außerdem muß der Autor deutlich machen, wer spricht und aus welcher Seelenlage.

Übrigens etwas, was wir uns selber viel öfter deutlich machen sollten, wenn wir auf das Fremde blicken, wobei es natürlich notwendig ist, das Fremde erst mal zu definieren.
 In der Antike war der Fremde (Barbar) derjenige, der nicht oder schlecht die eigene Sprache gesprochen hat. Und ich möchte jetzt nicht aufzählen, wieviele Menschen mit deutschem Hintergrund zu dieser Gruppe zählen würde.

 

 

 

 „Hinter den Mauern liegt die Stadt. Kabul 2012“ – 17.12.2018

 


Jede Reise, auch die letzte, beginnt im Kopf, denn dort finden auch die Vorbereitungen und die wahren Abenteuer statt.
Warum halten es Kinder nie lange an einem Ort aus ? Weil sie spüren, daß es noch so vieles zu entdecken gibt, aber das man dazu immer weiter muß, über den augenblicklichen Standpunkt hinausschauen, um mehr zu sehen, mehr zu verstehen.Auch ein kleiner Schritt, ein Gedanke, vielleicht ein Traum kann schon eine Reise sein .Und auch lesen und schreiben ist doch eigentlich nichts weiter als reisen.Wenn man mich fragt, warum schreibst du, dann antworte ich, weil ich reisen möchte.


Helmut Pohl

 

 

Notizen

Michael Roes:
"Jede Reise beginnt im Kopf"
"Es ist der schwere Übergang - Wer angekommen ist, hat weit zu gehen."
 "Das Ziel jeder Reise: Die Ent-täuschung ?"

 

Michael Roes Aufzeichnungen kommen diesmal aus Kabul in Afghanistan. Tagebuchaufzeichnungen, obwohl er eigentlich kein Tagebuchschreiber sei.
Man erlebt diese Reise aus verschiedenen Blickwinkeln. Auf der einen Seite die Vorbereitungen, dann die Reise und schließlich:  In Kabul. Und nebenbei immer wieder die Erklärungssuche von "Reise". Es handelt sich aber auch nicht um ein chronologisches Tagebuch, sondern um die Schilderung von einzelnen Szenen im Tagebuchstil.

Als Motiv für seine Reisen als Autor gibt er an, daß er gerne an den Orten gewesen sein möchte, über die er schreibt. In diesem Fall reist er zu einer Gastprofessur nach Kabul. Unter anderem auch für ein Theaterstück und einen Film mit dortigen Studenten. Aber alle seine Projekte sind gescheitert.Auch, aber nicht nur wegen einer auftretenden Krankheit.

Die Beschreibung von Kabul erfolgt durch den Ich-Erzähler (Autor), der gleichzeitig Reisender ist. Aber sind die jungen Soldaten aus Deutschland nicht auch Reisende ? Die Stadt ist eine ständige Gefahr für Europäer, in der es eine gespielte Sicherheit gibt. In Kabul existieren Parallelwelten, es ist eine gespaltene Stadt, ein Ort innerhalb der Mauern, außerhalb der realen Welt. Roes vergleicht die erlebte Realität mit der Beschreibung von Pasolini (1922-1975; ein italienischer Filmregisseur,Dichter,Schriftsteller, Journalist, Schauspieler,Dramatiker und Intellektueller).

Erfahrungen prägen für Roes das Bild über Reisen von der nächsten Reise. Dabei grenzt er die Reisen ab vom Tourismus. Er setzt seine Erfahrungen von Reisen gegen die der Touristen und nennt sie Gedankenreisen.

Der Autor hat über seine ganzen Vorlesungen die Überschrift "Melancholie des Reisens" gesetzt. Dieser Begriff meint ihn selber, gilt aber nur für seine besondere Art des Reisens. Er ist hier Beobachter und der, der von sich beobachtet wird. Seine Körpererfahrungen unterwegs will er in die Sprache einbringen, übersetzen, denn zuerst kommuniziert bei Begegnungen der Körper, erst dann kommt die Sprache.

Eine wichtige Rolle spielen bei Roes auch die Träume – vor und während der Reise.(Er ist ja auch Diplom Psychologe). In ihnen sucht er nach Bildern, die über das Rationale hinausgehen.

Aber was sucht der Reisende ? Vielleicht ständig seine zweite Hälfte ? Roes spielt dabei auf den von Aristophanes erzählten Mythos von den Kugelmenschen an.

Und was ist das Ziel des Reisenden ?

„Kennt der Herr sein Ziel ? – Ja, Weg-von-hier, das ist mein Ziel.“
 Aus der Parabel „Der Aufbruch“ von Franz Kafka.

 

 

 

„Frühlings Erwachen. Tanger 2013“ – 07.01.2019

 

Notizen

Michael Roes stellt seinem Essay "Frühlings Erwachen, Tanger 2013", einen Satz von Paul Bowles voran und orientiert sich auch im weiteren Verlauf stark an ihm.
"Ich habe es mir nicht ausgesucht nach Tanger zu reisen, es kam einfach so."

Warum aber wollte Roes nach Tanger reisen ? Der Titel ist doppelsinnig zu verstehen. Auf der einen Seite steckt natürlich der "Arabische Frühling 2013" dahinter und außerdem ist es Wedekinds "Frühlings Erwachen".

Der Autor spricht an der Universität in Tanger über dieses Stück und will es auch mit Studenten aufführen, was diesmal sogar gelingt. Allerdings unter Schwierigkeiten, denn es ging immer wieder darum ob Theater dort als geschlossener Raum existieren darf.

Tanger ist voll von Mythen, auch dem vom Paradies für Aussteiger.
Der Legende nach hat Antaios, Sohn von Poseidon und Gaia, die Stadt gegründet. Herkules spaltete an dieser Stelle die Erde und schuf so die Meerenge von Gibraltar.

Boules, so Michael Roes, hat uns einen Zugang zu der Kultur geschaffen und umgekehrt. Der kulturelle Zusammenstoß dort,Säkularisierung hier. Dort besteht das Begehren noch nicht. Aufklärung, auch im sexuellen Bereich, steht dieser Kultur noch bevor. Der Europäer dagegen erfüllt sich ein Begehren dort, was hier nicht möglich ist. (Drogen, Sex, etc.). Frauen aus Europa gelten im Stadtbild als Touristen und werden somit als geschlechtslose Wesen wahrgenommen, hingenommen. Liebe, Begehren darf ansonsten dort außerhalb der Ehe nicht existieren. Die moslimische Gesellschaft beschreibt Roes als unfrei, da der Mensch "Gott" gehört. Aber Tanger sei nur im Inneren, im Centrum eine religiöse Stadt, am Rande löst es sich auf.

Es gibt in Tanger einen Teil der Jugend, die eine Offenheit will und einen, der sich dagegen wehrt - Hybridkultur nennt er es.

Paul Bowles, geb.1910 in New York City, gestorben 1999 in Tanger, war ein US-amerikanischer Schriftsteller, Komponist und Übersetzer. 1931 reiste Bowles zum ersten Mal nach Tanger und war von der Stadt und ihren Menschen fasziniert. 1949 erschien der Roman, der ihn neben Camus und Sartre zu einem der bedeutendsten Vertreter des Existentialismus machte: "Himmel über der Wüste".
Bowles:"Anders als ein Tourist folgt ein Reisender keinem Plan, ist zeitlich ungebunden und denkt nicht ans Nachhausefahren.Er scheut keine Unbequemlichkeiten und strebt Immersion in die fremde Kultur an."
Sein Existentialismus ist allerdings nicht mit dem von Sartre zu vergleichen, denn bei ihm gibt es selten einen Ausweg, der zu neuer Hoffnung führt. Die Suche nach dem Selbst scheitert in der Entdeckung, daß da kein Selbst zu entdecken ist.

Und so reist für Roes nur der Einsame wirklich, nicht die Gruppe, denn nur beim Allein-Reisen sei jeder Augenblick ohne Grenzen, kein Gedanke an die Rückkehr. Beachten müsse man jedoch, daß durch eine Routine beim Reisen die wirkliche Reise nicht schon am heimischen Bahnhof, sondern erst nach der ersten Nacht in der Fremde beginnt.
Für den Reisenden gibt es keine Tatsachen, da sich die Sinnesorgane in der Fremde verändern. Und um sich zu schützen, umgibt sich der Reisende stets mit dem Mantel der Unwissenheit.

Gleichsam behauptet der Autor, daß sich sein Reisen mit dem Alter verändert habe, genauso das Arbeiten an den Universitäten dort mit Studenten und Älteren, bei denen das Mißtrauen größer sei. Nebenbei beschreibt er die Unis in Arabien als total verschult, da es keinen Diskurs mit den Studenten geben würde. Etwas leiser bemerkt er, daß die Tendenz dahin inzwischen auch hier wieder bestehe. Außerdem reise ein alter Mensch anders als ein junger, der sich selbstbewußter gibt. Schwierig ist für ihn immer die Auswahl der mitzunehmenden Literatur, denn Literatur lesen, ist ebenfalls reisen und die Literatur verflechtet sich auf der Reise mit dem Erleben. Die gelesene Literatur reist im Kopf immer mit.
Roes unterteilt seine Reisen in die, die in seine Romane einfließen und die, über die er Tagebücher/Notizen über seine Besuche an Universitäten usw. erstellt. Das Schreiben eines Tagebuchs unterbricht für ihn das Erleben und ist ein Gegensatz zur Erinnerung.

An dieser Stelle ergibt sich für mich die Frage, inwieweit der Augenblick des Schreibens nach der Rückkehr den Augenblick des Gestern verfälscht, weil der Einfluß im Hier ja unmittelbar wieder einsetzt und gar nicht vermieden werden kann.

 

 

 

 

 

Abschlußlesung 

Michael Roes liest aus „Herida Duro“ – 14.01.2019

 

 

Herida Duro

Herida Duro ist das einzige Kind von Zef Duro. Weil ein männlicher Erbe fehlt, wird sie Marijan gerufen und wächst in Männerkleidung wie ein Junge auf. Doch unter den Männern bleibt sie Beobachterin. Die Umbrüche im 20. Jahrhundert verändern das Leben in Albanien. Vom ländlichen Lazarú, wo die Partisanen kämpfen, führt Heridas Weg in die Hauptstadt Tirana, dort muss sie mit ihrem Freund Gjon harte Arbeit verrichten. Während Gjon ein Flüchtlingsschiff besteigt, um Elend und Zensur zu entgehen, macht Herida Karriere im neugegründeten »Kinostudio«, der nationalen albanischen Filmproduktion, die ganz im Dienst des Machthabers Enver Hoxha steht. Ihr eigenes Werk kann sie frei erst in Italien verwirklichen, wohin sie ins Exil geht. In Rom freundet sie sich mit dem umstrittenen Regisseur Paolo Piermonte an und findet dort auch den provozierenden Stoff für ihren ersten unabhängigen Film.

 

 

Notizen

In seinem Roman, in dem Heridas Geschichte immer wieder mit Gegenwelten, Träumen und Rauschzuständen verwebt wird, fängt Michael Roes die Entwicklung eines Lebensgefühls jenseits der Geschlechterkategorien ein. Vom Rande Europas und von den Ausgegrenzten kommt für ihn wahre Kunst.

 Herida Duro, ein Mädchen aus Albanien, wird „Marijan“ gerufen und wächst wie ein Junge in Männerkleidern auf, weil ein männlicher Erbe fehlt. Es ist eine patriarchalische Gesellschaft in der nur der erstgeborene Junge zählt. Und so wird Marijan zur „Peripherie“ in einer Männergesellschaft. 

Der Roman spielt auf zwei Ebenen. Da haben wir einmal die albanischen Mythen bis zum sich langsam öffnendem Land und daneben die Begegnung mit dem Fremden. Langsam lernt man dort die fremde Welt nicht nur kennen, sondern auch verstehen, lernt Begriffe, Worte für Dinge, die man bisher nicht gekannt oder nur gedacht hatte. Albanien war ja lange ein abgeschottetes Land, in dem es keinen oder kaum Kontakt zu Fremden gab. Dies versucht der Autor auf der mythischen Ebene zu schildern.

Die Figuren des Romans entwickeln Fluchtphantasien und Träume. Etwas, das Marijan später in der Kunst, im Film umsetzen möchte. Ihr Werk: Photographieren und filmen von nackten Körpern und Gesichtern, bis hin zur Pornographie. Weil sie einem ständigen Konflikt  zwischen ihrer sozialen Rolle und ihrer Rolle als Frau lebt - sie ist eine sogenannte "Spurjungfrau" - spielt der Körper in ihrer Kunst auch keine soziale Rolle. 

Für den Autor „kommt die wahre Kunst vom Ende Europas.“

Roes liest nur eine Szene aus diesem Roman, der erst im Februar (05.02.19) erscheint und beschränkt sich auch weitgehend in seinen Kommentaren darauf. Vielleicht wollte er noch nicht mehr erzählen oder durfte es auch noch nicht. 

Auch dem Autor müsse beim Schreiben eben noch vieles unbewußt bleiben. Der Text muß immer mehr wissen als er.

Es sind seine Themen, die sich im Roman wiederfinden: Körper und Rausch (Drogen, etc.)/Bewußtseinsbeschränkungen. Bereiche – und er fügt hinzu, daß er dies eigentlich gar nicht laut sagen dürfe – denen sich der Mensch heute entzieht. 

Dieses Werk lebt von einer sehr plastischen Sprache, die dazu anregt, den ganzen Roman zu lesen, denn diese Vorab-Lesung konnte nicht mehr als eine Anregung sein. 

Für mich war die gesamte Begegnung mit Michael Roes eine Anregung in Bezug auf zwei Aspekte : Nicht nur Literatur einmal unter diesen anderen Blickwinkeln zu sehen, sondern auch Reisen vielleicht mal anders wahrzunehmen, um schließlich beides verbinden zu können.


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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