Brief an die Moral

 

Begegnung mit Gedanken

 

 

 

Brief an die Moral

 

"Das weiß man alles..." Hier muß ich wegen eines Wortes widersprechen. "Man" weiß es wohl leider noch immer nicht. Wir wissen es, wobei das "Wir" jetzt nicht alleine auf zwei Personen bezogen ist. Wenn "man" wüßte, was im Nationalsozialismus passiert ist - wobei die Betonung auf wissen liegt - dürften heute Leute mit rechtsradikalem Denken - nicht Bewußtsein, denn das ist etwas anderes - nicht wieder in unseren - was nicht nur in deutschen bedeutet - Parlamenten sitzen. Wenn "man" wüßte, was im Stalinismus passiert ist, dürfte folgendes Ergebnis einer Umfrage, die ich zufällig irgendwo gelesen habe,nicht zustande gekommen sein:

Im Internet konnten russische Bürger über den größten Helden in der Geschichte Russlands abstimmen. Die Überraschung: Der sowjetische Diktator Stalin steht an erster Stelle.

Wobei dies, meiner Meinung nach, kein russisches Problem ist, sondern ein weltweites, weil Aufarbeitung und Darstellung von Geschehenem  in den Geschichtsbüchern schon immer mangelhaft und falsch waren und weiterhin sind.

Was Diktaturen mit Kunst gemacht haben, ist klar, aber genauso eindeutig ist auch, daß sie Kunst nie wirklich besiegt haben. Einer der wenigen Aspekte, die Hoffnung für die Zukunft machen. 

Zitat Anna Achmatowa aus 

Vereinsamung

" Man hat mit Steinen mich so oft beworfen,
Dass mich von ihnen keiner mehr erschreckt,
Die Falle ist zum festen Turm geworden,
Der stolz inmitten hoher Türme steht."

 

 

Manche Fragen beantworten sich von ganz alleine, andere können wir im Augenblick nicht beantworten, weil unser Bewußtsein etwas im Moment Negatives auch nur als solches empfinden kann, weil es immer nur die getätigten Entwürfe, also nur die Vergangenheit, aber nie die Zukunft, die noch zu tätigen Entwürfe, beurteilt. Dies geschieht immer erst, wenn diese Vergangenheit geworden sind. Daher ist unsere Erkenntnis auch immer nur Vergangenheit. Die Zukunft können wir nur beurteilen, wenn sie Vergangenheit geworden ist. Dafür aber müssen wir die Zukunft positiv gestalten, auch wenn die Gegenwart, die immer schon Vergangenheit ist, uns im Augenblick negativ erscheinen mag. Denn das "Nah-dran-sein" verschleiert immer den Blick. Denken wir mal einen Augenblick zurück an die Schulzeit. Kannst Du Dich noch daran erinnern, wie es war, vorne vor der Klasse direkt vor der großen Landkarte zu stehen und eine Stadt oder einen Fluß suchen zu müssen? Man wurde von dem, was sich vor einem befand geradezu erschlagen. Erst, wenn der Lehrer, wenn er denn wirklich Pädagoge war, einen aufforderte, ein paar Schritte zurückzugehen und sich das Gesamte anzusehen, fand man die Orientierung wieder. Abstand gewinnen....ein paar Schritte zurückgehen, aber nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft.

 

Dabei hat sich mir, ob im Zusammenhang mit Genuß, mag ich gar nicht sagen, die Frage aufgetan, ob der lukullische Genuß mit dem geistigen Genuß in irgendeiner Form zusammenhängt. Bedingt lukullischer Genuß den geistigen oder eher umgekehrt, führt der eine zwangsläufig zum anderen oder gibt es da gar keinen Zusammenhang ? Kann geistiger Genuß ohne lukullischen zu empfinden stattfinden oder, anders ausgedrückt, bedingt das Empfinden von einem bestimmtem Genuß auch automatisch das Empfinden für einen anderen ? Kann ich zum Beispiel beim Empfinden eines bestimmten sexuellen Genußes auf den Genuß von Sexualität im Allgemeinen schließen ? Schließt der eine Genuß den anderen aus oder bedingt ihn im anderen Fall vielleicht sogar ?

 

Das Bild vom Drehen an der Schraube, die ein System verändert, ist durchaus richtig, aber an dieser Stelle stutze ich, weil sich mir die Frage stellte, ob ich, wenn ich ein Problem lösen muß oder will, gleich das System verändern muß? Sollte der Abstand, von dem ich sprach, nicht vielmehr bewirken, daß ich die Schraube sehe, beziehungsweise finde, die hilft, das Problem zu lösen, ohne das System zu verändern? Wenn innerhalb eines Systems ein Problem auftritt, muß dies ja nicht bedeuten, daß das System als solches fehlerhaft oder nicht tragbar ist. Durch das Drehen an einer Schraube, nein, an der richtigen Schraube, kann ich ja auch bewirken, daß ein eigentlich vernünftiges und vielleicht sogar wertvolles System optimaler funktioniert. 

Es darf also nur eine bestimmte Stelle abgeändert werden. Aber das System, bleibt gleich. Also nicht den Entwurf des Seins verändern, sondern nur einen Baustein. Und genau das ist mir wichtig: Ja, Zukunft gestalten, ja, neue Wege suchen, ja, ausprobieren, ja, nicht an der Vergangenheit hängen... aber nicht das System - was ja nichts anderes ist als mein Entwurf - ändern, sondern Eckpunkte so anpassen, daß das System wieder meinem oder einem gemeinsamen Entwuf entspricht.

Und, wenn wir vom System reden, dann sind wir auch bei unserem ersten Thema.: Natürlich wissen die Russen, zumindest die Älteren, was unter Stalin passiert ist. Das wollte ich auch gar nicht in Abrede stellen.Gleichsam wissen die Deutschen- ich muß diesen Vergleich einfach immer wieder bringen, weil Hitler und Stalin zumindest in diesem Bereich wenig Unterschiede aufweisen und das Problem, ich wiederhole mich da bewußt, eigentlich das Gleiche ist - was unter Hitler passiert ist. Deine jetzt sicherlich richtigen Argumente sind ja auch die,die man hier immer wieder hört - wobei ich dich nicht persönlich meine und "richtig" nur in dem von Dir verwendetem Verständnis-: es herrschte damals wenigstens Ordnung, es gab keine Arbeitslosen.......gewisse, zumindest individuell empfundene positive Dinge behält man eben gerne und verfrachtet den Rest in einen Ordner, der dann schnell in der Ablage landet. 

Aber genau da setzt ja Brechts "Fressen" an, unter dem Motto: Erst das Fressen, dann die Moral. Ist dieser Satz eine Erklärung für das Ergebnis der Umfrage die ich zitiert habe? Dann wäre er auch eine Erklärung für die Situation heute hier bei uns, wobei dies kein Vergleich sein soll. Aber das wäre auch gleichzeitig eine Entmutigung, weil dann alles, was wir vor dem Hintergrund der Welt unternehmen, sinnlos wäre. Nein, ich glaube auch nicht, daß Brecht dies als Fazit gemeint hat, sondern als Mahnung: Ja, erst das Fressen, sonst nützt mir keine Moral, aber wichtiger ist die Freiheit, denn ohne sie gibt es kein Fressen und keine Moral. Ohne diese beiden Dinge aber gibt es auch keine Freiheit. Ein unauflöslicher Konflikt ? Nein. Nicht entweder oder, sondern beides: Freiheit und Fressen....ohne Moral, denn das ist nur ein Grund zur Verhinderung von Freiheit und Fressen. Aus der ersten Szene von Mutter Courage, Feldwebel: „Man merkt`s, hier ist zu lang kein Krieg gewesen. Wo soll die Moral herkommen ?" Es braucht also Krieg, um den Frieden zu verstehen. Ohne Krieg, ohne diese Freiheit kann die Courage nicht handeln, verdient sie nichts. Also kein Fressen. Und was soll man dann mit dem Frieden, mit der Moral ?

Ich weiß nicht, ob ich Brecht und Goethe ..... wie heißt es schon im Faust:

 Ich höre schon des Dorfs Getümmel,
Hier ist des Volkes wahrer Himmel,
Zufrieden jauchzet groß und klein:
Hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein! 
.......in diesem Punkt richtig verstanden habe, aber zumindest mich.

Brechts Gedichts „1940" klärt auf:


Mein junger Sohn fragt mich: Soll ich Mathematik lernen?
Wozu, möchte ich sagen. Daß zwei Stücke Brot mehr ist als eines
Das wirst du auch so merken.

Mein junger Sohn fragt mich: Soll ich Französisch lernen?
Wozu, möchte ich sagen. Dieses Reich geht unter. Und
Reibe du nur mit der Hand den Bauch und stöhne
 Und man wird dich schon verstehen. 

Mein junger Sohn fragt mich: Soll ich Geschichte lernen?
Wozu, möchte ich sagen. Lerne du deinen Kopf in die Erde stecken
Da wirst du vielleicht übrigbleiben. 

Ja, lerne Mathematik, sage ich
Lerne Französisch, lerne Geschichte!


Es werden auch wieder andere Zeiten kommen, möchte man sagen. 

Dies aufzuarbeiten, in die jüngere Generation zu transportieren und ihr klar zu machen, daß es eigentlich nicht um Staats-oder Wirtschaftsformen geht, sondern um die Freiheit des Individuums, ist unsere wichtigste Aufgabe. So und nur so, können wir den Terrorismus und alle Absonderlichkeiten jenseits des Humanismus ad absurdum führen und unseren Söhnen und Töchtern eine Chance bieten. Ihnen nützt es nicht, wenn sie sich mit den "Fressenden" solidarisieren, sie müssen ihnen klar machen, daß sie diesen Zustand als alleine seeligmachend überwinden müssen um zur Freiheit zu gelangen. Dies sehe ich als das "Erkennen-wollen" nein, das "Erkennen-müssen" sowohl bei Brecht als auch bei Goethe. 

Richtig, mit Sprache kann ich vieles erkennen, wenn ich denn Sprache erkenne. Genau passend das Zitat von Mandelstam. 

„Mein Wolfshund-Jahrhundert

mich packt's, mich befällt's

doch bin ich nicht wölfischen Bluts“

 Dies ist die Sprache von Hitler und Stalin. "Wolf" und "wölfisches Blut". Du erinnerst Dich an die "Wolfsschanze" , Hitlers Hauptquartier ? Bewußt gewähltes Vokabular aus dieser Zeit. Und doch ist der Wolf ansich kein "Unmensch", wenn man ihn denn zum "Hund" als "Haustier" befördert, ist ein Zusammenleben zumindest möglich.Dann kann man sich auch wieder von seinen Vorfahren, auch wenn es manchmal schwer fällt, distanzieren:doch bin ich nicht wölfischen Bluts....

 

Einen Satz noch zu Brecht. Ich darf Dich mal zitieren : "erst müssen meine Grundbedürfnisse gedeckt sein, dann kann ich mich meinem Umfeld zuwenden und sehen, wo ich Verantwortung übernehmen kann/muss....."?

Ja, das ist in diesem Satz sicherlich auch enthalten, aber ich glaube, daß Brecht hier mal wieder die Doppelmoral in der Gesellschaft anspricht - wobei er sich selber vielleicht nicht mal ausnimmt, denn er war ja ein sehr genußsüchtiger Mensch. Erst kommt das Fressen, der Genuß...und wenn dies dann der Moral widerspricht....egal, um die kümmern wir uns wieder, wenn wir satt sind. Also gebt uns erstmal zu fressen (und die Freiheit) - dies habe ich übrigens nur für mich mit eingeführt - denn das habt "ihr da oben" ja und haltet die Moral auch nicht sehr hoch. Wobei die Definition der Moral erstmal zweitrangig ist -  ein mir nicht bekannter Mensch soll mal gesagt haben: Moral ist immer jenes Maß an Anständigkeit, das gerade modern ist.

 

 

 Macheath, Jenny und Chor

Macheath:
 
1
Ihr Herrn, die ihr uns lehrt, wie man brav leben
Und Sünd und Missetat vermeiden kann
Zuerst müßt ihr uns was zu fressen geben
Dann könnt ihr reden: damit fängt es an.
 
Ihr, die euren Wanst und unsre Bravheit liebt
Das eine wisset ein für allemal:
Wie ihr es immer dreht und wie ihr's immer schiebt
Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.
Erst muß es möglich sein auch armen Leuten
Vom großen Brotlaib sich ihr Teil zu schneiden.
 
Jenny:
Denn wovon lebt der Mensch?
 
Macheath:
Denn wovon lebt der Mensch? Indem er stündlich
Den Menschen peinigt, auszieht, anfällt, abwürgt und frißt.
Nur dadurch lebt der Mensch, daß er so gründlich
Vergessen kann, daß er ein Mensch doch ist.
 
Chor:
Ihr Herren, bildet euch nur da nichts ein:
Der Mensch lebt nur von Missetat allein!
 
2
Jenny:
Ihr lehrt uns, wann ein Weib die Röcke heben
Und ihre Augen einwärts drehen kann
Zuerst müßt ihr uns was zu fressen geben
Dann könnt ihr reden: damit fängt es an.
 
Ihr, die auf unsrer Scham und eurer Lust besteht
Das eine wisset ein für allemal:
Wie ihr es immer dreht und wie ihr's immer schiebt
Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.
Erst muß es möglich sein auch armen Leuten
Vom großen Brotlaib sich ihr Teil zu schneiden.
 
Gestatte noch einen Nachsatz: 
Man darf Brechts Aussagen auch nie wörtlich nehmen,weil man sich sonst seiner Verfremdung, seiner Dialektik entzieht.
 
Gleiches gilt auch für die Moral.
 
 
p.s.
 

Da habe ich gerade das Gedicht von Theodor Storm " Von Katzen " gelesen. Von der Katze, die sechs Maikätzchen zur Welt bringt.Erst Substantiv,dann Diminutiv. Von der Humanität zur Unmoral. Ja,die Natur ist durch und durch unmoralisch. Eine Eigenschaft, die man, meist unbewußt, auch dem Mai zuschreibt.


Und da sind wir unweigerlich bei der Walpurgisnacht, bei Faust. Eben erst der Osterspaziergang und nun dieses.Aber warum empfinden wir beim Menschen Dinge unmoralisch, bei denen wir in der Natur eher zur Sentimentalität neigen? Der Mensch als Substantiv, die Katze, die Natur als das Diminutiv, das Kätzchen? Wird die Unmoral so wieder moralisch?

Der Mai,der Wonnemonat, der Frühling insgesamt, sie strotzen geradezu von unmoralischen Eigenschaften und dennoch sehnen wir sie jedes Jahr herbei, vergöttern sie geradezu.


 

 

 

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