Andersch Alfred

 

Alfred Andersch

 

* 04. Februar 1914 in München

21.Februar 1980 in Berzona, Schweiz

 

Deutscher Schriftsteller

und ein zeitkritischer Autor der Nachkriegsliteratur.

Freundschaft mit Max Frisch, die später zerbricht.

Gründungsmitglied der Gruppe 47

 

 

 

 

Der Vater eines Mörders

 

In seinem letzten vollendeten Werk, 1980 postum erschienen,

kehrt Alfred Andersch in seine Jugendjahre zurück. München, Mai 1928.

Der Schüler Franz Kein erleidet eine Unterrichtsstunde bei Herrn Himmler,

Direktor des Wittelsbacher Gymnasiums, Altphilologe, großbürgerlicher Katholik

und Vater Heinrich Himmlers, des späteren Reichsführers der SS.

Im Nachwort stellt der Autor die Frage: 

Schützt Humanismus denn vor gar nichts ?

Das literarische, moralische und politische Testament Alfred Anderschs.

 

Mein Einwurf

Dieses Werk von Andersch finde ich bis zum "Nachwort für Leser" mehr als bemerkenswert.Das allerdings hätte er sich meiner Meinung nach sparen können, weil es einen plötzlich aus der Atmosphäre herausholt und Dinge erläutert, versucht zu diskutieren, die zwar interessant sind, aber zumindest mir in diesem Augenblick in Bezug auf das Thema nicht wirklich weiterhelfen. Da wir jedoch gerade beim technischen und damit beim Stil sind, möchte ich einen anderen Aspekt hinzufügen, der mir schon kurz nach Lesebeginn aufgefallen und durch den Kopf gegangen ist. Der Gegensatz - und hier im wörtlichsten Sinne gemeint - zwischen der Schilderungsweise bei Kempowski und bei Andersch: dort der hauptsächlich parataktische- und hier der überwiegend hypotaktische Satzbau.* Diese beiden Werke eignen sich, wie ich finde wunderbar dazu, einmal die Unterschiede und vor allen Dingen die Resultate dieser beiden Erzählstile zu untersuchen. 

Was nun den Inhalt betrifft, so wurde ich während des Lesens immer wieder in meine Lateinstunden zurückversetzt - bis zum Griechischen habe ich es leider oder zum Glück nicht geschafft - und mir ist dabei deutlich geworden, daß sich in der Darbietung des Unterrichts von 1929 und der Zeit nach 1950 bis zum Anfang der sechziger Jahre gar nicht so viel verändert hatte, was bedeutet, daß es nach 45 hier eigentlich gar keinen Aufbruch zu etwas Neuem gegeben hat, sondern man einfach die Zeiger auf die Zeit vor 33 zurückgedreht hat. 

Andersch aber geht es ja um etwas anderes, um die Aufarbeitung der Frage nach der Entstehung des Terrors in den Schulen. Da zieht ein "ehrwürdiger" Rektor, ein Humanist, einen Sohn groß, der später zum größten Massenmörder wird und er selber damit zum Vater eines Mörders. Andersch stellt selber die Frage: schützt Humanismus denn vor gar nichts ? Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen: fördert Humanismus in seiner ganzen Konsequenz diesen Weg ? Wurde der Vater, der Rektor, der alte Himmler nicht selber zum "Mörder", wenn auch auf einer anderen Ebene ? Hat er den Kindern durch seine Art nicht die Freiheit des Denkens, des Lebens genommen und sie mit der Durchsetzung seiner Prinzipien für das Leben "getötet" ? Ist also Heinrich Himmler der Sohn eines Mörders ? Wenn an dieser These etwas wahr ist, dann würde sich auch der Widerspruch, der sich zunächst aufzutun scheint, erklären. Dann wäre das Handeln des Sohnes nur der Fortsatz des väterlichen Denkens und Handelns, was allerdings das Denken und Handeln beider nicht entschuldigen soll. 

So ginge man sicherlich zu weit, wenn man behaupten würde, daß der Terror dann aus dem Humanismus geboren wäre, aber aus dem Humanismus hat sich hier eine radikal fundamentalistische Denkweise entwickelt, die dann den Weg zu etwas Schlimmerem bereitet hat. Mit anderen Worten : nicht der Humanismus trägt die Schuld, sondern das, was Menschen wie der Vater eines Mörders daraus gemacht haben. Wenn eine Idee fundamental radikalisiert wird, dann kann auch die Idee nicht mehr schützen. 


*Ein parataktischer Stil zeichnet sich durch kurze, einfache, ein hypotaktischer durch lange, verschachtelte Sätze aus.

 

 

 

 

 

 

 

Fahrerflucht

 

In der Geschichte  "Fahrerflucht" von Alfred Andersch, die 1958 erschienen ist, geht es um einen Unfall, der von einem an Krebs schwer erkrankten Manager verursacht wurde, bei dem ein Mädchen ums Leben kommt. Er begeht Fahrerflucht und besticht einen, auf indirekte Weise in den Unfall verwickelten Tankwart, um Beweise verschwinden zu lassen.

 

 

Mein Einwurf

Von Feigheit ist hier die Rede. Ist nicht jeder von uns ein bißchen feige? Doch was ist das eigentlich – feige ? Nichts weiter als Angst. Angst vor seinem Handeln, Angst vor sich selber. Und darum fliehen wir unser ganzes Leben. Nicht vor irgendwelchen Taten oder Dingen, sondern vor unserem Leben, vor uns. Fahrerflucht betreiben wir, denn eigentlich sind wir ja der Lenker unseres Lebens und daher auch verantwortlich dafür, was wir damit und daraus machen.

Lehrer haben auch Angst. Vor den Schülern. Mehr als die Schüler vor den Lehrern. Der alte Rektor Himmler hatte auch Angst, so wie alle Väter Angst haben, daß ihre Kinder nicht das erreichen, was sie von ihnen erwarten. Und davor, daß sie vielleicht ein Mörder oder dergleichen werden. Nicht unbedingt so wie Himmler. Da reicht ja auch schon ein Unfall, ein Unglück, eine falsche Entscheidung und das Leben des Sohnes, des Kindes ist dahin. Manche haben auch einfach Angst, daß es zu human wird, denn so kann man keine Macht erreichen. Human und Macht schließen sich aus.

Und so war nicht nur Himmler, nicht nur der Manager ein Mörder, sondern auch der Chinese Wong.

Doch was machen wir, wenn wir feststellen, daß wir plötzlich den falschen Weg genommen haben und doch auf der Zubringerstraße Autobahn gelandet sind ? Dann fliehen wir vor uns. Begehen Fahrerflucht vor der Angst.

"Ich zögere, weil ich weiß, ganz tief drinnen weiß, daß mein Schweigen die Kette meiner Angst zerreißen würde."

 


 

 

 

 

 

 

 

Ein Liebhaber des Halbschattens

 

Anderschs zweiter Erzählungsband, 1963 erstmals erschienen, zeigt Menschen am Wendepunkt zwischen einer sie bedrängenden Vergangenheit und der erhofften besseren Zukunft.

 

Mein Einwurf

 Und Lothar floh auch, allerdings in den Alkohol. Auch so ein Sohn der Kriegszeit, auch so ein „Mörder“. Sie alle waren jedoch auch Kinder von „Mördern“. Kinder von irgendeinem „Himmler-Vater“.

Andersch ist stets auf der Flucht vor der Vergangenheit, lebt im Halbschatten zwischen ihr und dem Jetzt. Auch wenn er den Brief von Melanie in ganz kleine Stücke zerreißt, bleibt die Vergangenheit in seinem Bewußtsein. Auf dem Floß scheint sie endgültig unterzugehen. Aber er wird sie zurückholen, wenn er seine tote Mutter in den Westen umbettet.

Wir alle können die Vergangenheit nicht einfach wie ein Stück Papier vernichten oder auf dem Grund eines Sees begraben. Sie lebt auch danach weiter und läßt uns nicht los. Wir sind und bleiben die Nachfahren von „Mördern“, auch ohne direkte Schuld.

„Dann ging er fort, um sich ein Hotelzimmer für die Nacht zu suchen.“

 


 

 

 

 

 

Die Kirschen der Freiheit

Anderschs Bericht von den Kirschen der Freiheit, der mit dem Blick des Fünfjährigen im Frühjahr 1919 auf die Kolonnen der zu erschießenden Räterevolutionäre begonnen hatte, endet im Juni 1944 unter einem Kirschbaum in Italien bei Vejano (Viterbo). Hier pflückt der Held nach seiner erfolgreichen Desertion aus der Wehrmacht „die ciliege diserte, die verlassenen Kirschen, die Deserteurs Kirschen,                                   die wilden Wüstenkirchen meiner Freiheit“.

 

 

Mein Einwurf

„Was ich wollte, war: begreifen“ Begreifen, was Freiheit bedeutet.

Den Kommunismus für das Wohl der Arbeiter. Aber wollten die Arbeiter ihn überhaupt ? Wir haben sie nie gefragt. Wir, die 68er, haben ihn den Arbeitern nie wirklich erklärt.Schließlich waren wir die Intellektuellen, die Studenten, die wußten, wie man die unteren Klassen rettete, sie herausführte aus ihrem Elend. Glaubten wir jedenfalls.

Wir selber kamen oft aus der Arbeiterschicht und diese wollte keinen Kommunismus, sie wollte Kapitalismus, den wir bekämpften und beides nicht wirklich verstanden. Wir wollten nur etwas anderes als unsere Eltern, die noch immer im Mief des Kleinbürgerlichen lebten, zwar keine Nationalsozialisten mehr waren, aber gewisse gesellschaftliche Formen weiter lebten.

Ein Rest davon ist übrigens auch heute noch in uns.

„Ich werde es hoffentlich stets ablehnen, Menschen überzeugen zu wollen. Man kann nur versuchen, ihnen die Möglichkeiten zu zeigen, aus denen sie wählen können.“

Man hatte ihm seine Jugend und seine Träume genommen und seine Freunde, seine Kameraden und wollte ihm andere Kameraden geben, sie also austauschen.Aber Menschen lassen sich nicht austauschen  und die Freiheit auch nicht. Jeder muß für sich die Möglichkeit unter den unzähligen Möglichkeiten wählen, die ihn zur Freiheit führt, die nichts weiter ist, als die Gesamtheit der Möglichkeiten. Und genau darum kann die Freiheit nur durch sie selber zerstört werden.

Das ist es, was Andersch für mich erkannt und wonach er gehandelt hat. Und was er aufgeschrieben hat, um anderen zu zeigen, welcher Weg alleine zur Freiheit führt: Die Wahl einer Möglichkeit.

Die Kirschen der Freiheit. „Sie schmeckten frisch und herb.“

 


 




Sansibar 

oder der letzte Grund 

 In der Hafenstadt Rerik an der Ostsee begegnen sich im Herbst 1937 fünf Personen: Die Jüdin Judith Levin ist auf der Flucht ins Ausland, der KP-Funktionär Gregor will der Bevormundung durch die Partei entkommen, und ein abenteuerlustiger 15-Jähriger träumt von Sansibar. Sie wollen zunächst nach Schweden, und zwar mit dem Fischer Knudsen, den Pfarrer Helander bat, eine Barlach-Statue vor den Nazis in Sicherheit zu bringen. Knudsen zögert, denn er muss seine geisteskranke Frau beschützen. 


Mein Einwurf

In diesem Herbst 1937 fliehen sie alle vor irgendetwas. Vor den Nazis, vor den Kommunisten, vor der Langeweile, vor der Zukunft, vor der Ungewißheit, vielleicht auch vor sich selber.Was sie zunächst von der Flucht abhält, ist die Angst vor der Ungewißheit, die zur Orientierungslosigkeit führt. Soll man alles zurücklassen, sogar die eigene, geisteskranke Frau und noch einmal ganz von vorne beginnen ? Die Angst vor der Freiheit.

 

In dieser Situation sucht der Mensch immer wieder nach Ausreden, um den eigentlich gewollten Schritt doch nicht wagen zu müsssen. Vielleicht war man ja schon zu alt dafür. Aber “man war niemals zu alt, um etwas Entscheidendes zu tun" . Kann sein, daß es auch nicht der richtige Schritt ist. Also benötigt man einen Grund für das Richtige, wenn man mit sich einig ist, was das Richtige ist. Und so findet man immer wieder eine Ausrede, um doch nichts zu tun.

Im Nichts lebt es sich solange besser, bis man ein Bewußtsein vom Nichts erlangt hat. Erst dieses Bewußtsein treibt einen wieder an.

Es ist also doch nicht so einfach wegzugehen.

"Er schlenderte auf das Boot zu, als sei nichts geschehen." Als solle auch nichts geschehen, denn es fehlt der letzte Grund. Es gibt kein einfach nur weg von hier. Wer weg will, hat auch einen Grund dafür. Aber was ist, wenn man weg ist, also dort ist ? Will man dann dort bleiben oder auch wieder weg  ? Vielleicht wieder zurück ?



 


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