Gedankensplitter V

 

 


Begegnung mit Gedanken
 

                   Gedankensplitter....

 

 

 

 

 

Buchstaben

Worte

Sätze

Bedeutungen

 

Gedanken

 

 

(Reinhard Döhl 1965)

Apfel - Wurm

 

 

Christian Morgenstern

 

Der Mond

Als Gott den lieben Mond erschuf,

gab er ihm folgenden Beruf:

 

Beim Zu- sowohl wie beim Abnehmen

sich deutschen Lesern zu bequemen,

 

ein A - formierend und ein Z -

daß keiner groß zu denken hätt.

 

Befolgend dies, ward der Trabant

ein völlig deutscher Gegenstand.

 

 

Die Trichter
(Christian Morgenstern 1905)

Zwei Trichter wandeln durch die Nacht.
Durch ihres Rumpfs verengten Schacht
fließt weißes Mondlicht
still und heiter
auf ihren
Waldweg
u.s.
 w.

 

 

 

Deutsche Sprache 

Ein ganz neuer, oder sagen wir mal, ein nur selten angesprochener, beleuchteter Aspekt ist hinzugekommen bei der Verleihung des „Kulturpreis Deusche Sprache“. Die Mundart. Nun will ich hier keine Überlegungen zum Thema Dialekt und Standardsprache anstellen - das Wort Hochdeutsch vermeide ich bewußt, weil es für mich eine Wertung enthält - aber wage schon zu behaupten, daß die sogenannte Standardsprache - das Wort ist noch fürchterlicher - ohne die vielen Dialekte ärmer wäre. Das Wort bedeutet ja ursprünglich: Gespräch von Gruppen.Und, wenn ich es mal ganz vereinfacht sagen darf, es waren genau all diese Gruppen, die sich irgendwann zu einem Deutschland zusammengefunden und wegen der Verständigung sich auf eine einheitliche Schriftsprache, unsere heutige Standardsprache geeinigt haben. Damit verdanken wir indirekt unser "Hochdeutsch" also den Mundarten. Anders ausgedrückt: Sie gehören zu Deutschland, sind viel älter als unsere Standardsprache und beherbergen noch zahlreiche ungeöffnete Schatzkästchen.
 All das sage ich, auch wenn es bei meinen Besuchen im Badischen wieder die eine oder andere Schwierigkeit beim Bäcker, Metzger oder im Restaurant gibt. Immerhin kann isch schon Wecken bestellen und weiß, dank der Tochter einer Bekannten, was ein „Röhrle“ ist.


Heute erzählt man den Flüchtlingen und Ausländern stets, sie sollen die deutsche Sprache lernen. Natürlich müssen sie das, um sich verständigen zu können, aber eventuell kann diese Sprache noch mehr. Sie nämlich schützen vor den Anfeindungen, damit sie sich auf der einen Seite mit dieser Sprache wehren können und sie ihnen gleichzeitig Schutz bietet, vor dem Vorwurf, nicht dazuzugehören. Sie gibt ihnen und uns Halt. Die Sprache.

Und wenn grammatikalisch mal nicht alles ganz richtig ist, dann sollten wir uns mal ab und zu unser eigenes Deutsch anhören und gleichsam an die vielen Mundarten denken. Warum nicht auch eine "syrische Mundart."

Diese Preisverleihung - und ich denke hier an den Kulturpreis Deutsche Sprache - gewinnt also gerade in der heutigen Zeit immer mehr an Gewicht. Nicht nur wegen der deutschen Sprache, sondern wegen der Sprache ganz allgemein. Zum Frieden gelangen wir nur, wenn wir miteinander sprechen und dies gelingt ausschließlich, wenn wir auch alle "eine Sprache" sprechen, wenn wir uns gegenseitig verstehen. Und da geht es nicht um die Nationalität, da geht es um das gleiche Denken in einer Friedenssprache. Und welche Sprache könnte da besser als Mahnerin erscheinen, als die deutsche ? Nicht nur wegen ihrer Geschichte, sondern wegen ihrer Flexibilität, ihrer Vielfältigkeit, ihrer ungeheuren Ausdruckskraft, ihrer Genauigkeit.

Da habe ich neulich diesen Satz gelesen - und weiß natürlich mal wieder nicht mehr wo - : Die englische Sprache kann ich in drei Stunden lernen, die französische in dreißig Wochen und die deutsche in dreißig Jahren.
Und damit wollte man keine Sprache herab-oder heraufsetzen. Aber die Aussage macht uns doch klar, daß man in der deutschen Sprache immer wieder etwas hinzulernt, daß man immer wieder etwas Neues entdeckt und der Satz bedeutet auch nicht, daß man tot ist, bis man die Sprache wirklich kann, sondern er bedeutet, daß die deutsche Sprache immer weiter lebt und sich ständig entwickelt. Und genau das wollen doch auch die Menschen die zu uns kommen. Weiter leben und sich entwickeln. Hier bei uns und in Gemeinsamkeit mit unserer Sprache. Auch darum ist es so wichtig, sie zu lernen. 


 

Saat mech wie

Un wo un

Wann

 

Saat mech waröm

un wofür un

Wievüll

 

Saat mech alles

Ävver verzällt mech nix

 

Ludwig Soumagne, 1927 -2003

 

 



Über das Lesen

 

Für mich war es immer eine Selbstverständlichkeit, jeden Morgen die Zeitung zu lesen. Also die regionale. Für meine Eltern gehörte es zum tägliche Ablauf, daß sie vor dem Frühstück dieses Stück Papier aus dem Briefkasten fischten und dann durchblätterten. Den einen und anderen Artikel zwar zur Kenntnis nahmen, besonders die Todesanzeigen, aber außer dem örtlichen Geschehen den Rest nicht besonders beachteten - vielleicht bei Welt-und Europameisterschaften noch dem Sportteil .Irgendwie, wenn auch etwas intensiver,habe ich das dann später übernommen. Allerdings nur kurzzeitig, bevor die überregionale Presse mehr meine Aufmerksamkeit erreichte.

Und vom Lesen der Zeitung war der Sprung zu Büchern nicht weit, zumal ich auch hier in meinem Vater ein Vorbild hatte. Von diesem Zeitpunkt an wuchs auch die Erkenntnis, daß lesen mehr ist als Buchstaben und Wörter aneinanderzureihen. Lesen bereitete nur dann Freude, wenn ich die Sätze auch verstanden hatte. Wenn ich die Geschichte verstanden hatte.

 

Und so wurde das Lesen für mich zu einer Selbstverständlichkeit,  weil mir klar geworden war, daß lesen Wissen bedeutet.

 

Doch was bedeutet „wissen" ?  Sophokles sagt bei Platon: "Ich weiß, daß ich nicht weiß"- übrigens nicht zu verwechseln mit der falschen Übersetung von "nichts wissen“. – Er macht also nichts weiter, als das Wissen zu hinterfragen, denn ich glaube immer nur etwas zu wissen. Das Wissen ansich ist nie sicher, weil es sich auch immer wieder verändern kann. Mit anderen Worten, ich muß immer weiter nach der Wahrheit suchen, immer wieder danach fragen, ob mein Wissen, mein glaubendes Wissen, wirkliches Wissen ist, was es aber nie sein kann.

Kommen wir zurück zum Lesen. In dem Moment wo ich nicht lese oder aufhöre zu lesen, höre ich auch auf, mein Wissen, mein geglaubtes Wissen zu hinterfragen, was gleichbedeutend damit ist, daß ich es aufgebe, zu wirklichem Wissen zu gelangen.

 

Erinnern wir uns mal an die Lese von Weintrauben, womit die Ernte bezeichnet wird, also die Ernte von gut ausgebildeten Früchten. Und so lesen oder ernten wir im gleichen  Sinne Wissensfrüchte. Gleichsam in der Literatur, wo wir durch das Lesen Erfahrungen sammeln.




Literatur

Doch man sieht eben immer nur den anderen und nie sich selber. Gleiches geschah und geschieht doch auch in der gesamten Literatur, die ja irgendwie auch immer historisch ist. Aber das ist es doch auch, was die Literatur am Leben hält. Sie wandert immer weiter durch die Zeit und verändert sich bei jedem Lesen mit der Zeit. So wird uns einerseits die Vergangenheit gezeigt, aber sie steht auch immer mit unserem Jetzt in Verbindung. Genau deshalb ist zum Beispiel ein "Klassiker" für mich nie ein sogenannter alter Schinken, sondern stets auch eine Aufgabe, das Geschehen, die Erzählung im Heute verständlich zu machen, mit ihm in Verbindung zu treten, weil Geschichte sich natürlich nie genauso wiederholt, aber dennoch weiterhin Einfluß auf unser Geschehen hat. Ein Grund, warum ich es auch nicht für sinnvoll ertrachte, die Literatur in sich geschlossene Zeiträume einzuteilen. Wohl zur Orientierung, wann sie entstanden ist und vielleicht auch noch zum Verständnis der Entstehungszeit, aber nicht für das allgemeine Verständnis. Wenn ich zum Beispiel an einen Autor wie Hölderlin  denke, der seiner Zeit gedanklich weit voraus war, dann kann ich auch sein Werk nicht mehr alleine aus der Zeit in der er lebte, interpretieren, besser, verstehen, es zu mir sprechen lassen. Ich muß den Text mitnehmen in unser Leben, damit aus ihm eine neue Geschichte entstehen kann. 


An dieser Stelle erinnere ich mich an eine Aussage von Nora Gomringer, die 2011 den Kulturpreis Deutsche Sprache erhalten hat: Sie spricht in einem Interview davon, daß Texte mehrmals entstehen, mehrmals geboren werden und sie Fährtenbücher schreibt und Spuren aufgibt. 

Eben Gedanken eines unwissenschaftlichen Lesers, der jedoch auch die Schatten der Autoren sucht, die die Geschchte wieder anders oder eine andere Geschichte erzählen und somit die Geschichte, eine Geschichte bei mir im Heute entstehen lassen.






 

Die 68iger     

In den sechziger Jahren wollte man sich von der Allgemeinheit abgrenzen und als Student wollte man das natürlich, beziehungsweise mußte man das, denn die Gesellschaft, besonders die herrschende, war im damaligen Bewußtsein zum Teil ein Überbleibsel des gerade untergegangenen „Reiches“ und zum anderen Teil - und das hatte eigentlich noch viel mehr Gewicht - die Abbildung des Kapitalismus, der uns von Amerika aufgezwungen wurde, obwohl wir dessen Kaugummis gerade noch bejubelt hatten. Mit anderen Worten: Raus aus allem Alten und hinein in eine neue Welt, egal, wie sie aussieht und wohin sie führt.
 Die achtundsechziger waren einfach nur Aufbruch ohne wirkliches Ziel. Aber ohne sie wären wir heute auch nicht da, wo wir sind, denn, auch wenn es keiner zugeben mag, manches, was für uns heute selbstverständlich ist, ist auch dieser Generation zu verdanken. Nicht alles war damals richtig, aber vieles notwendig. Aus der Apo wurden die Grünen und brachten uns den besten Außenminister, den wir je hatten(aber nicht nur ihn) - nein, ich war nie ein Grüner, aber Joschka war in der falschen Partei, zumindest aus meiner Sicht - aus der sexuellen Revolution wurde etwas mehr Freiheit und nicht nur in sexueller Sicht, obwohl die damals daran Beteiligten es nie so verstanden hatten und es auch nie so gelebt haben, wie es später und heute versucht wird zu erklären. Die Kommune 1 zum Beispiel war nie eine sexuelle Gemeinschaft, obwohl es hartnäckig immer wieder behauptet wurde und auch heute noch versucht wird so zu erklären. Und Baader Meinhof waren nicht Teil der Achtundsechziger. Auch so etwas Unausrottbares.

Mich ärgert es immer wieder, wenn solche Dinge von Leuten  behauptet werden, die entweder in jener Zeit auf der Seite derjenigen standen, die sich dann immer aus jeder Diskussion mit dem Argument entzogen: dann geh doch nach drüben (gemeint war die DDR) oder die die sogenannte "Gnade der späteren Geburt" erfahren haben. Unser sechzehnjähriger Kanzler gehörte dazu. Aber diese Vergangenheit holt uns ja immer wieder ein und bestätigt, daß wir damals nicht falsch gelegen haben und unsere damaligen Anliegen heute so aktuell wie nie sind. Es hat sich einiges geändert,aber das Ziel ist noch lange nicht erreicht. In keiner Hinsicht, weder in politischer, noch in gesellschaftlicher Hinsicht.

Haben wir eigentlich noch immer nicht begriffen, wie klein wir auf diesem Erdball sind ? Nur ein Spielball der Natur. Geduldet von ihr, aber jederzeit in Sekunden zu vernichten. Immer noch der Glaube an irgendeinen Übernatürlichen der uns schützt ? Wachen wir endlich auf. Da sitzt niemand auf einer Wolke und lenkt uns. Wir haben uns auf etwas Endlichem entwickelt und niedergelassen, was uns beherbergt, aber jederzeit klar macht, daß wir nicht Herrscher der Welt sind, sondern nur kleine Lebewesen, die sich immer ihrer Grenzen bewußt sein müssen.


 

 

Ein paar Gedanken zu Adorno

 

Diesen Philosophen mußte man damals - gemeint sind die 1960er- kennen, nicht unbedingt gelesen und schon gar nicht verstanden haben. Aber darüber reden können.Das heißt: Bei Diskussionen seinen Namen nennen. Zumindest in den Anfängen, bis es sich irgendwann "ausadornot" hatte. Bezeichnend für die Bewegung, die keine wirkliche war.Es gab eben kein einheitliches Ziel und schon gar keine Vorstellung vom Danach. Man wußte nur, was man nicht mehr wollte, jedoch nicht, was man wollte. Stattdessen wollte. Zumindest gab es eine gesellschaftliche Auseinandersetzung, zumindest von den Studenten. Wo sind die eigentlich heute ?
Was Adorno beabsichtigte war wohl vor allem zum Nachdenken zwingen.
Etwas, das noch immer oder wieder notwendig ist.

Über der Nachkriegsliteratur und im Bewußtsein nach dem Krieg stand: Nie wieder !
Jahrzehnte später: Leider immer noch ! Weil sich nichts geändert hat.


Aber die neue Generation wollte kein Zurück in die Zeit vor dem Krieg, aber auch kein weiter so wie in der NS-Zeit. Ziel war es, das Bewußtsein zu ändern und eine ganz neue Freiheit zu schaffen.
 Das zeigte sich auch in der Literatur, vielleicht besonders in der Lyrik. Weg von der schönen Welt, hin zu Freiheit in Form und Ausdruck. Aber auch die Inhalte wiesen auf ein anderes Denken, ein Denken ohne Fessel.

Was also fehlte, war die klare Vorstellung vom Neuen. Es war der Aufbruch in etwas Ungewisses. Und ich glaube, daß dieses Ungewisse - zumindest von einigen - auch gewollt war, denn sonst hätte man sich selber wieder in einen Rahmen gesperrt. 


Mit kleinen Änderungen gab man sich übrigens nicht zufrieden, es mußte, zumindest im Bewußtsein, schon etwas Großes geschehen.Nicht einfach Abbitte leisten: Nie wieder will ich. Das Stichwort hieß: Revolution.

So, wie es der Zahnarzt bei Grass in "örtlich beteubt" schon am Anfang feststellt: " Wir werden uns zu einem größeren Eingriff entschließen müssen."


In Minima Moralia beantwortet Adorno die Frage, was das "richtige Leben ausmache, durchgehend in negativer Weise, womit er der "breiten Masse" der Studenten, von der Frankfurter Szene mal abgesehen, das war ein Sonderfall und wohl nicht mit den 68ern allgemein zu vergleichen, entgegen kam.


Da bin ich bei zwei Sätzen aus diesem Werk, die mir noch in Erinnerung sind. "Es gibt kein richtiges Leben im falschen." An dieser Stelle fällt mir zum Beispiel die DDR ein, die sich als etwas Richtiges präsentieren wollte, als der richtige Staat im falschen der BRD.


Ja, Adorno ging es um eigenständiges Denken, weil bisher alles von früher einfach übernommen worden war, die NS-Zeit nicht aufgearbeitet. Und so muß man, wenn man nicht genau weiß, wohin, zunächst auch das Unmögliche denken, um zu erkunden, welche Möglichkeiten man überhaupt hat. Wobei es zunächst unwichtig ist, ob man diese Möglichkeiten selber will.


Und dann gibt es da noch den Satz:

"Der Wütende erscheint stets als der Bandenführer seiner selbst, der seinem Unbewußten den Befehl erteilt, dreinzuschlagen, und aus dessen Augen die Genugtuung leuchtet, für die vielen zu sprechen, die er selber ist. Je mehr einer die Sache seiner Aggression auf sich selbst gestellt hat, um so vollkommener repräsentiert er das unterdrückende Prinzip der Gesellschaft. In diesem Sinn mehr vielleicht als in jedem anderen gilt der Satz, das Individuellste sei das Allgemeinste."

Und es gab viele Wütende und somit viele "Bandenführer", also viele "Banden" in vielen Szenen.
 Allerdings ist dieser Satz auch von vielen falsch verstanden worden, bewußt falsch verstanden worden.






Autoren und ihre Literatur 

Er, Kempowskiist nämlich einer der wenigen Autoren, der seine Meinung sehr deutlich äußern, aber dennoch die Begebenheiten unabhängig davon neutral, objektiv und sehr deutlich beschreiben kann. Und genau da liegt die Kunst. Was Kempowski in seinem Inneren denkt, ist zweitrangig, wenn die Schilderung des geschichtlichen Hintergrunds darunter nicht leidet. Etwas, was ich ganz nebenbei auch bei Roth wiederfinde. Jeder darf und muß seine Einstellung deutlich machen, aber dies darf nicht Wirklichkeit beeinflussen, die ja immer unabhängig vom Individuum stattgefunden hat und stattfindet. Die Einstellungen von einem Roth oder einem Kempowski haben und konnten genausowenig den geschichtlichen Hintergrund verändern, wie die Einstellungen von uns den Hintergrund des Jetzt verändern können. Das Individuum kann immer nur in einem gesamtgesellschaftlichem Zusammenhang den Versuch unternehmen, Veränderungen herbeizuführen, aber in einer Schilderung über eine gewisse Zeit oder Epoche darf die persönliche Einstellung nie zur Verfälschung des gesellschaftlichen Seins führen, auch wenn dies nie absolut gelingen kann, weil wir unser persönliches Denken nie absolut von dem gesellschaftlichem Sein unseres gelebten Seins trennen können. Genau da liegt das Dilemma von jedem Autor, welches Kempowski aber aus meiner Sicht so perfekt gelöst hat, wie es überhaupt möglich erscheint. Und eben dies macht die Faszination aus, die einem beim Lesen seiner Werke ergreift.

 

Böll und Grass. Beide galten ja als linke Rebellen und wurden in der Gesellschaft der sechziger und auch siebziger Jahre in die kommunistische Ecke geschoben und einfach von der Allgemeinheit und auch von der Schule in deren Lehrplänen sie keinen Platz fanden, ignoriert. Das war auch der Grund, daß sie zu den Lieblingsautoren der vor allem rebellischen Studenten wurden, ja,bei den ganz Linken schon als konservativ galten, weil sie im Dunstkreis der SPD standen. Grass hat es ganz nebenbei damals nur schwer verwunden, daß Böll den Literaturnobelpreis bekommen hat und nicht er. Aber dennoch waren sie Freunde und haben gemeinsam vor den Toren einer Abschußbasis für atomare Mittelstreckenraketen - Pershing II - gesessen. Beim darauffolgenden Strafbefehl hat sie übrigens der Anwalt und spätere Bundeskanzler Gerhard Schröder verteidigt. Ihr damaliger Kanzler war allerdings Willy Brandt und ihr gemeinsamer Kampf galt unter anderem auch der Springer Presse. Beide waren Mitglied der Gruppe 47 die von einer Gruppe um Hans Werner Richter und auch Alfred Andersch gegründet wurde. Es ranken sich viele Mythen um diese Gruppe und vieles ist Legende - im wahrsten Sinne des Wortes - aber Richter hatte zunächst das Heft in der Hand und verschickte wohl die entscheidenden Einladungen zu den  Treffen, die dann sehr schnell ein Eigenleben entwickelten, aber durch die auch viele Autoren erst entdeckt wurden, wie zum Beispiel Ingeborg Bachmann.

 

Nun die Gruppe 47 war es sicherlich nicht, die mein Interesse an der deutschen Sprache und an der Literatur geweckt hat, aber sie war die erste Spur, die ich auf diesem Weg nach der Entdeckung eingeschlagen habe, weil sie mit meinen Vorstellungen übereinstimmte und ich leugne sie heute noch nicht, weil ich das Ergebnis der 68er nicht leugne, es nicht in seiner Gesamtheit als negativ beurteile und behaupte, daß unsere Republik ohne die 68er und ohne die Gruppe 47 heute eine andere wäre. Eine mit weniger Freiheiten.Wobei die Kämpfe innerhalb der Gruppe, genauso wie innerhalb des Kerns der 68er schon sehr groß waren, was man heute gerne versucht zu verschleiern, was aber im Nachhinein immer der Fall ist. 

 



Grass und Kempowski

Vor kurzer Zeit habe ich mal im Schnelldurchgang das Buch von Brigitte Glaser "Bühlerhöhe" gelesen. Bei dem Titel und so vielen mir bekannten Orten konnte ich einfach nicht widerstehen.
Im Nachwort : Begriffe aus der deutschen und israelischen Geschichte, auf Seite 441 heißt es dort - und zumindest für diesen Satz hat es sich ein bißchen gelohnt, sich durch die über vierhundert Seiten zu quälen:"In der jungen Bundesrepublik wurde Vergessen und Verdrängen großgeschrieben. Man wollte den Krieg und seine Folgen möglichst schnell hinter sich lassen, man fühlte sich selbst als Opfer und Verlierer."
Genau das wollte Grass nie, Kempowski auch nicht, aber auf andere Art. Er schildert das Geschehen, indem er andere reden läßt, Grass bezieht mehr selber Stellung, vielleicht auch, weil er (damals noch nicht öffentlich) an seine Mitgliedschaft gedacht hat.
Grass war ein politischer Autor. Sicherlich andere auch, so wie Kempowski, aber auf einer ganz anderen Ebene, mit einem ganz anderen Ziel. Doch beide fühlten sich nicht ernst genommen, nicht genug beachtet, beide haderten mit der Gesellschaft, ja auch mit ihren Lesern, mit sich selber und beide trugen eine persönliche Last mit sich herum. Kempowski die "Schuld" seine Mutter ins Gefängnis gebracht zu haben, Grass, seine SS-Mitgliedschaft. Beide haben also eine "Dummheit" begangen und bei beiden geschah sie in ihrer Jugend. Nur im Gegensatz zu Kempowski, hatte Grass nicht oder erst sehr spät den Mut, sie öffentlich zu machen. Kempowski hat dafür "bezahlt". Und noch ein Unterschied: Grass ging es mehr um das Große, während Kempowski in erster Linie sein eigenes Schicksal aufarbeiten wollte, Grass das der Gesellschaft. Dennoch sollen dadurch die literarischen Leistungen von Kempowski und von Grass nicht geschmälert werden.

Solchen Streit zwischen Autoren hat es allerdings schon immer gegeben und wird es immer geben (siehe Gruppe 47). Glücklicherweise, denn solche Streitgespräche geben uns einen tieferen Einblick in das Denken solcher Schriftsteller. Und noch eine Bemerkung: Streit dieser Art ist ja nicht auf die Literatur beschränkt. Gleiches gibt es immer wieder auf den verschiedenen wissenschaftlichen Gebieten. Nehmen wir als Beispiel nur Sartre und Heidegger.Und man könnte unzählige weitere anführen.

 

Und dann ist da noch Benjamin von Stuckrad Barre. Eine für mich äußerst zwielichtige Person, eine eigentlich gescheiterte, die sich auch bis heute nicht verstanden glaubt. Sein Interview halte ich nicht gerade für neutralen Journalismus. Da arbeitet sich jemand an zwei Autoren mit dem Wissen ab, daß er deren Erfolg nie erreichen wird und bejammert sich auch mal selber. Vielleicht hilft es ja.

Meiner Meinung nach sollte man beim Lesen von Grass und Kempowski deren persönliche Schicksale mal außen vor lassen und deren Werke als Information und Denkanstoß für sein eigenes Bild über jene Zeit benutzen. Nicht schon wieder fragen, was uns die Autoren erzählen wollen, sondern, was wir mit den Erzählungen und Berichten für uns anfangen können.
 Jedenfalls finde ich mich bei Kempowski und bei Grass in vielen Situationen wieder und, was noch wichtiger ist, bekomme Hinweise, um mein Bild von jener Zeit zu bearbeiten, zu berichtigen, zu vervollständigen, es manchmal auch nur aufleben zu lassen und mich weiter damit zu beschäftigen. Da sind die persönlichen Schicksale zunächst zweitrangig, auch wenn man sie bei der Beurteilung, der Bewertung natürlich nicht vergessen darf. Aber unwichtig erscheint mir, wie ein Autor versucht, sein Werk zu verkaufen und welchen Erfolg er erzielt. Und noch unwichtiger, wie er mit Erfolg oder Mißerfolg umgeht, umgehen kann.


Ja, wir haben es zwar mittlerweile geschafft, daß sich Toaster, Kühlschränke und Waschmaschinen untereinander verständigen können, aber mit den Wolken scheint es noch nicht zu funktionieren.
Oder, wie Trump sagt, das ist eben das Wetter. Heute so und morgen so. Ganz so wie er selber. Nur gut, daß er es mit seinen Tweets noch nicht beeinflussen kann.

Nun ist dieser Mensch ja eigentlich kein Politiker, sondern Geschäftsmann. Nein, keiner dieser ehrbaren Kaufleute, die früher in der Gesellschaft einen herausragenden Ruf und eine höhere Stellung hatten. Im Mittelalter waren sie sogar der sogenannte vierte Stand neben Klerus, Adel und Bürger. Um Gewinn ging es ihnen naturgemäß schon immer, aber nicht alleine um den eigenen Ruhm zu vergrößern.
Dieses Bild hat sich nun heute grundlegend gewandelt. Wohl auch, aber nicht nur, bedingt durch die Nachkriegszeit.


Auch Autoren und Journalisten sind doch irgendwie Kaufleute, die versuchen ihr Leben, ihr Wissen zu verkaufen. Natürlich geht es auch dort nicht immer ehrenhaft zu. Aber wir Leser wollen doch einfach spannende, gut verpackte Geschichten, die uns anregen. Eine hochwertige Ware. Und da ist die Wahrheit manchmal nur hinderlich.
Da denke ich an Lukas Bärfuss, der in seiner Lesung aus "Hagard" (2017) sagte, daß dem Menschen heute keine Ware und keine Geschichte mehr verkauft wird, sondern nur noch die Geschichten hinter der Geschichte. Und Philip Roth sagt dazu in "Operation Shylock": Die Wirklichkeit kann unglaubwürdig sein, das Geschaffene, Geschriebene darf es nicht.

Natürlich ist dies ein komplexes Thema, aber genau das habe ich unter anderem gemeint, als ich über den "Krebsgang" und die "Gustloff" schrieb:
"... die Vergangenheit wirkt immer wieder nach.'Das hört nicht auf. Nie hört das auf.' "

Nein, das hat auch nichts mit dem literarischen Werk, mit der Ware gemein, genauso wie es vollkommen unwichtig ist, ob Walter Kempowski wegen Frachtbriefe oder irgendwelcher Spionage verhaftet worden ist. Das verändert alles andere, alles Geschriebene überhaupt nicht und der Leser will es eigentlich auch gar nicht wissen. Aber wer solche Dinge ans Tageslicht bringt, hat plötzlich eine neue Ware, die er anbieten kann.

Und wenn wir in der Geschichte einen Schritt weiter nach vorne gehen, finden wir nach dem Ende der DDR wieder viele Grass und Kempowskis und auch die Stuckrad Barres und Keeles haben diesen Geschäftszweig schon längst wieder besetzt. Über die vielen Möglichkeiten, die sich dabei am Rande noch ergeben, will ich erst gar nicht reden.

Ohne weiter auf die Inhalte der Interviews und "Anschuldigungen" einzugehen, gestattet mir, mich noch einmal selber zu zitieren. Am Ende meiner Gedanken zu "Abbitte" schrieb ich damals:
"Man kann alles aufschreiben, damit es nicht vergessen wird, damit die schrecklichen Verbrechen nicht vergessen werden, aber man kann, wenn man Betroffener ist, keine Verzeihung, keine Abbitte erwarten."

 



 

 

 

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