Autorenlesungen2023


Deutsche Literatur der Gegenwart

2023


  Gedanken -

                                               beim Zuhören geboren



Andrea Maria Schenkel - Feridun Zaimoglu - Emanuel Maeß - Markus Orths - Doron Rabinovice - 

Eva Christina Zeller - Birgit Weyhe - Jan Wagner




Andrea Maria Schenkel liest aus „Der Erdspiegel“ – 16.10.2023

 

Andrea Maria Schenkel:

 

Geboren 1962 in Regensburg. Ihr 2006 erschienener

Debütroman „Tannöd“, dessen Handlung auf einem ungeklärten Mordfall aus dem

Jahr 1922 basiert, erschien in 20 Sprachen und wurde für die Theaterbühnen und das

Kino adaptiert. Sie lebt als freie Autorin in der Nähe von Regensburg und in

Westchester bei New York. An letzterem Ort hat sie kürzlich ein Masterstudium

beendet und beginnt noch 2023 ein Ph.D.-Studium in Vergleichender

Literaturwissenschaft. Sie unterrichtet außerdem am Bronx Community College und

an der OTH Regensburg.

 

Werke:

 

 „Tannöd“ (2006), „Kalteis“ (2007), „Bunker“ (2009), „Weißer

Schnee, rotes Blut. Mörderisch gute Weihnachtsgeschichten“ (2010), „Finsterau“

(2012), „Täuscher“ (2013), „Als die Liebe endlich war“ (2016) und „Der Erdspiegel“

(2023).

 

Auszeichnungen:

 

Für Ihre Texte erhielt sie u.a. zweifach den Deutschen Krimi-Preis (2007, 2008), den

Corine-Weltbild-Leserpreis (2007), den Martin Beck Award für den besten

internationalen Kriminalroman (2007) sowie den Schwedischen Krimipreis.





Der Erdspiegel

Gemeinhin glauben die Leute, was der Bichel sagt. Er redet wie ein gelehrter Mann, wie ein Pfarrer oder ein studierter Doktor, und ist doch nur ein einfacher Viehhändler. Aber der Bichel kann erzählen. Diese Gabe ist nicht jedem gegeben. Der Bichel versteht es, die Leute in seinen Bann zu ziehen. Einen magischen Spiegel soll der Bichel besitzen, so hört man. Darin könne man geliebte Menschen sehen. Und der Spiegel verfüge über prophetische Kräfte, sage einem die Zukunft voraus. Nur über den Erdspiegel sprechen dürfe man nicht. Schlechte Gedanken reichten, um ihn zu zerstören. Und noch viel Schlimmeres könnten Zweifel und Unglauben anrichten! Seine Kritiker schimpfen den Bichel einen Menschenfänger, doch die meisten glauben ihm, wollen ihm glauben, dass sie ein besseres, ein leichteres Leben verdient haben. Die meisten - das sind junge Mädchen, hübsche und fleißige Töchter armer Tagelöhner. Sie mögen naiv und leichtgläubig sein, aber sie haben Träume. Bis eine nach der anderen plötzlich verschwindet …





Notizen


Die Romane der Andrea Maria Schenkel sind regional sprachlich genau gearbeitet, aber einfach in der Sprache.

Die Personen im "Erdspiegel" arm und ungebildet. Es geht um Zauber, aber fast immer verbunden mit einem Schuß Religion. Die Menschen glauben zu der Zeit - 1806 - an unheimliche, unwirkliche Geschichten, wodurch dann wieder manches glaubwürdiger erscheint.  Und so erklärt hier der Täter ganz einfach die Angehörigen zu Tätern, um von sich abzulenken.

Glauben wir alle nicht irgendwie an alles, wenn man uns etwas Wunderbares verspricht und uns erklärt, daß wir etwas Besonderes seien? Träume sind oft für die Menschen das Einzige.

Auf die Frage, wie sie zum Stoff dieses Romans gekommen sei, erklärt die Autorin: Während der Pandemie sei sie in New York, während ihres Studiums bei einer Recherche für einen Artikel zufällig auf diesen alten Kriminalfall aus der Gegend von Regensburg gestoßen. Also aus der Stadt, aus der Andrea Maria Schenkel stammt. Darum ist die Gegend, die Sprache für sie vertraut und wichtig, weil sie die Sprache jener Zeit aus dieser Gegend auch erhalten möchte.In ihren anderen Romanen greift sie ebenfalls alte Kriminalgeschichten auf. Dabei geht es ihr aber nicht um die Aufklärung der Fälle, sondern um die Gründe, die zur Tat führen. Der jeweilige Fall ist nur der rote Faden.

Menschen waren, so Schenkel, schon immer an Abgründen interessiert und sind es auch heute noch. Dies gelte auch für sie.

Zum Roman "Erdspiegel":

Im Jahre 1806 gab es in der Gegend unter Napoleon eine Strafrechtsreform, nach der keine Folterungen mehr stattfanden. Also mußte man auf einem anderen Weg zu einem Geständnis kommen. Hier setzt die Geschichte von der Autorin an. Es kommt zu unglaublichen, zauberhaften Dingen. In dem Erdspiegel, so wied den jungen Mädchen vom Täter Bichel versprochen, können sie ihre wunderbare Zukunft sehen. Eine Zukunft, die es für diese Menschen ansonsten nicht gibt. Und die jungen Mädchen ergreifen die Möglichkeit natürlich, auch wenn sie unmöglich ist. Schenkel geht also von einer geschichtlichen, vergangenen Situation aus.

Aber ist das, so frage ich, nicht auch auf das Heute übertragbar ? Auf Menschen, die heute in Armut leben oder in Not geraten sind ? Klammern nicht auch sie sich an jeden Strohhalm, auch wenn es keinen gibt, wenn dort nur Wasser ist ? Einen "Bichel" wie im Roman gibt es auch heute in unzähliger Zahl.


 Auch wenn die Geschichte vom Bichel schon mehr als 200 Jahre zurückliegt, wirkt sie kein bisschen verstaubt. Denn Menschen, sagt die Autorin in einem Interview, ändern sich nicht. Sie träumen alle von einer besseren Zukunft, in der sich ihre Träume und Wünsche erfüllen.





Feridun Zaimoglu liest aus „Bewältigung“ – 23.10.2023


Feridun Zaimoglu


Geboren am 4. Dezember 1964 in Bolu, Türkei, ist ein deutscher Schriftsteller und bildender Künstler.

 Feridun Zaimoglu ist Sohn türkischer Gastarbeiter und kam 1965 mit seinen Eltern nach Deutschland. Er wohnte bis 1985 in West-Berlin und München. Nach bestandenem Abitur brach Zaimoglu ein Medizinstudium ab und ist seit Ende der 1980er Jahre als freier Schriftsteller in Kiel tätig.


Werke unter anderem:


Evangelio  2017

Bewältigung  2022

Durchdrungenheit - Texte und Gespräche ,zusammen mit Norbert Otto Eke, Uni Paderborn  2022




Auszeichnungen unter anderem:

 

2003: Preis der Jury beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb für die Erzählung Häute

 

2017: Nominierung zum Deutschen Buchpreis mit Evangelio



Bewältigung 

Wo kippt Recherche in Obsession? Wann beginnt Kunst toxisch zu werden für ihren »Schöpfer«? Und gibt es Stoffe oder Themen, die sich der literarischen Bewältigung entziehen, weil sie zu giftig sind? Feridun Zaimoglu hat einen virtuosen Künstlerroman geschrieben über jemanden, der sich vornimmt, Adolf Hitler zum Protagonisten seines neuen Buches zu machen.

Zu Beginn scheint es eine normale Vorarbeit zu sein, eine schwierige zwar, aber keine unvertraute. Denn Schreiben bedeutet immer Anverwandlung, eine Nähe zum Material ist absolut notwendig. Was aber, wenn das Material sich nicht bewältigen lässt und beginnt, ein zerstörerisches Eigenleben zu führen? Die Recherchereise des Autors an »Schauplätze« Hitlers, führt ihn immer tiefer hinein in die Gedankenwelt seines Protagonisten. Die Bayreuther Festspiele, München, Obersalzberg: ein surrealer Fiebertraum.

 Doch es ist auch eine Reise zurück in der Zeit, in seine Jugend in die Stadt Dachau Mitte der 1980er, wo er zur Schule ging nicht weit von der Stelle, wo die Nationalsozialisten 1933 das erste KZ errichteten. In Kiel, an seiner Schreibmaschine, versucht er seine Figur literarisch zu entfesseln und zugleich zu bannen. Und verliert Schritt für Schritt die Kontrolle über sein Projekt und mehr und mehr auch sich selbst.





Notizen


Eine Geschichte des Scheiterns. Eine Versetzung in den Kopf des Verursachers. Die Bewältigung, die nicht vollzogen ist und die Überwältigung mit dem vorhandenen Stoff. Der Roman erzählt nicht einfach, sonder er reflektiert. 

Beginn: ´Der Autor sitzt an der Ecke und beobachtet`- es ist der fiktive Autor, der Autor, der ein Buch über Hitler schreiben will. Was denkt Hitler am Grab von Richard Wagner und seiner Frau Cosima ? Dort mit dem Sohn Siegfried Wagner. Der Autor versucht, die Gedanken Hitlers zu ergründen.

 

Zaimoglu: Ich wollte kein Buch über Hitler schreiben. Somit hat er erst alles über Hitler gelesen. Auch "Mein Kampf". Dabei habe ich gemerkt, daß ich nur versuchen kann, alles mit den Blicken Hitlers zu sehen. Mit seiner Sprache, mit seinen Worten.

 

Er hat dann doch gegen seinen Willen ein Buch über Hitler geschrieben, was aber nicht erschienen ist. Nach diesem Mißerfolg schrieb er also das Buch eines fiktiven Autors, der ein Buch über Hitler schreibt. Dieser fiktive Autor wurde durch den vielen Schmutz in den er "hineingefallen" ist, von innen aufgefressen.

 

Zaimoglu sagt, er könne die Geschichte nicht historisieren, aber er wurde ein Teil der Geschichte.

 

Da Hitler über Worte, über die Sprache groß wurde, bedeutet das für Zaimoglu, hineinzugehen in die Worte Hitlers.

 

Die Kritik stellte die Frage, ob ein Autor türkischer Herkunft über dieses Thema schreiben darf ? Begründung: Nehmt uns nicht auch noch unsere böse Geschichte weg.

 

Zaimoglu tritt hinaus aus der eigenen Wirklichkeit, hinein in die fiktive Wirklichkeit.

 

Mein Einwurf:

 

Die Möglichkeit, etwas zu verstehen, einen anderen zu verstehen, eine andere Person zu verstehen, seine Gedanken zu verstehen, habe ich nur, wenn ich hineinkrieche in ihn, in seine Gedanken, in seine Worte, in seine Sprache, vielleicht sogar für die Zeit des Schreibens, wenn ich schreibe, dieser andere zu werden, zu sein. Nicht ich bin es dann der erzählt, sondern der andere.





Emanuel Maeß liest aus „Alles in allem“ – 30.10.2023

 


Emanuel Maeß

Geboren 1977 in Jena, aufgewachsen in Südthüringen, Studium der

Politologie und Literaturwissenschaft in Heidelberg, Wien und Oxford. Er lebt als freier

Schriftsteller in Berlin.


Werke unter anderem:

 

Gelenke des Lichts  2019

Alles in allem  2023-11-06

 

Auszeichnungen:

 

2019 Mara-Cassens-Preis



Alles in allem


In manchen Nächten mag es einem vorkommen, als enthielten die erhabenen Landschaften der Nacktheit mehr Wahrheit als ganze Bibliotheken heiliger Bücher. So jedenfalls ergeht es dem Theologiestudenten Jakob, der seit einer halben Ewigkeit an einer Dissertation schreibt und mit seiner Freundin Clara in Berlin-Friedenau ein grundberuhigtes, an inneren und äußeren Spannungen armes Leben führt. Die idyllische Behaglichkeit nimmt ein jähes Ende, als er auf einem Wittenberger Symposion die Künstlerin Katharina kennenlernt. Nicht nur weist ihn diese in die mystische Gotteserfahrung Mechthilds von Magdeburg ein und wirft noch einmal den ganzen antiken Götterhimmel über ihm auf. Ihre sinnliche Nähe führt ihn bald auch durch die Abgründe Berlins, vorbei an Neuköllner Esoterikerinnen, Yogakursen und anderen Routinen urbaner Selbstoptimierung, bis ins griechische Delphi, wo die beiden nicht nur weit über sich hinaus, sondern auch in die Mitte der Welt geraten.



Notizen


Der Roman, ein Liebesroman und gleichzeitig ein klassischer Roman, verbunden mit Theologie und Mythos, spielt im Jahre 2010. Er beginnt und endet in der griechischen Landschaft von Delphi.

In einer Liebesszene vergleicht der Erzähler die Formen des Rückens der Partnerin mit der Landschaft von Delphi.Plötzlich tritt er aus dem Zimmer heraus in die Dunkelheit der Nacht. Angekommen sein. Man schläft - liest - schreibt - geht spazieren - schläft - die Tage, die Jahreszeiten ziehen an einem vorbei, so der Erzähler, ein älterer Theologiestudent. Und alles geschieht immer wieder in Verbindung mit seinen Liebschaften, seinen Liebesnächten. Kleine Momente, in denen der Mensch aus sich heraustritt - beim Schreiben - in der Natur - beim Essen - beim Wein - .....

Der Autor sucht die ab-solute Literatur, die sich loslöst, auch von der Gesellschaft. Dies führt er auch immer wieder an erotischen Momenten vor. Trotzdem ist es kein erotischer Roman, obwohl ein Kuß auch ein ganzes Kapitel dauert. Es geht dabei um den Zustand eines Augenblicks, in dem man "alles" ist. Beide Seiten gehen in "alles" auf, sind "alles in allem". Dies, so behauptet Maeß, kann nur die Literatur und verweist auch auf Goethes Gedicht " Sehnsucht".

Der Erzähler ist ein sehr gebildeter Mensch, aber er kommt im Leben mit den einfachsten Dingen nicht zurecht. Er interpretiert das Leben aber so, daß er sich damit zurechtfindet, obwohl er im Alltag, wie der Autor es nennt, ein Idiot ist.

Maeß: "Was passiert mit uns, wenn ich außerhalb des Sonstigen bin ? "

Der Autor appelliert an alle, auch mal etwas anderes, Außergewöhnliches zu probieren. Und zum Titel: Der Begriff des Heiligen und der Erotik ist eigentlich viel weiter - Alles in allem. Man muß wieder in die Stimme der wahren Empfindung hineinkommen.

 

Mein Einwurf

Die Liebesszehne, in der der Erzähler nach der Beschreibung des Rückens der Geliebten und dem Vergleich zur Natur plötzlich ins Dunkel der Nacht hinaustritt, zeigt uns:

Verharren wir nicht zu oft im Bekannten und sollten viel öfter hinaustreten, um alles in allem zu erkennen, erkennen zu können ? Etwas, was uns als der "Idiot" erscheinen läßt, weil uns das Bekannte, Alltägliche uninteressant erscheint und wir uns damit nicht abgeben, weil wir dadurch alles in allem verpassen würden.







Markus Orths liest aus „Mary & Claire“ – 06.11.2023



Markus Orths

 Geboren 1969 in Viersen am Niederrhein, Studium der Philosophie,

Romanistik und Anglistik in Freiburg im Breisgau, 1997 Erstes Staatsexamen für

Lehrämter. Im WS 2016/2017 hatte er die 36. Paderborner Gastdozentur für

Schriftsteller und Schriftstellerinnen inne und im SoSe 2018 die 31. Bamberger Poetikprofessur.

Markus Orths lebt als freier Schriftsteller in Karlsruhe.


Werke unter anderem:


Lehrerzimmer  2003

Catalina  2005

Die Tarnkappe  2011

Irgendwann ist Schluss  2013

Max  2017

Mary & Claire  2023



Auszeichnungen unter anderem:


Telekom-Austria-Preis

beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb  2008


Stückewettbewerb des Theaters Baden-Baden für Die Entfernung der Amygdala  2012



Mary & Claire


Die Stiefschwestern und Schriftstellerinnen Mary Shelley und Claire Clairmont lieben Percy. Und Percy liebt      Mary & Claire. An seiner Seite entfliehen die Frauen der Londoner Enge. Sie wollen atmen, reisen, lesen, wollen verrückt sein, lieben und schreiben. Und sie nehmen den schillerndsten Popstar der Literatur Anfang des 19. Jahrhunderts in ihre Gemeinschaft auf: den jungen Lord Byron. Bei heftigen Gewittern treffen sie sich am Genfer See. Opiumberauscht schlägt Byron um Mitternacht ein Spiel vor: Wer von uns schreibt die schaurigste Geschichte? Für Mary & Claire wird nach dieser Nacht nichts mehr so sein wie zuvor. 

Ein mitreißender Roman, der Geschichte lebendig macht. 



Notizen


Die Bandbreite der Werke von Markus Orths erstreckt sich über drei Ebenen: Humor - Phantastik - Historie

   

Der historische Roman "Mary & Claire" erscheint 2023 und spielt Anfang des 19. Jahrhunderts in England. Damals gab es dort noch keine Rechte der Fauen und so erscheint die Mutter von Mary fast als die erste Feministin. Hier tritt auch immer wieder die Entdeckung der Liebe, der freien Liebe durch die Frauen ans Licht. (Siehe auch Orths Roman "Catalina") Gleichzeitig hat der Vater seiner Tochter Mary auch erstmalig Bildung mitgegeben. Mary Shelley ist die Autorin von "Frankenstein", Claire ihre Stiefschwester.

    

Eine kleine Geschichte am Rande, die Markus Orths beim Lesen von verschiedenen Dokumenten jener Zeit entdeckt hat, macht die Stellung der Frau damals deutlich: 1790 wurde den Frauen als erstes Recht zugestanden, daß sie nicht mehr mit einem Stock geschlagen werden durften, der dicker als der Daumen war.


Mary zieht es immer wieder in die Nähe, auch zum Grab ihrer verstorbenen Mutter.

    

" Ein Buch kann ein Grab sein, ungelesen in der Bibliothek. Erst beim Öffnen steht es auf, steht die Welt in den Büchern auf." (sinngemäße Wiedergabe) Mary beginnt mit ca. 15 Jahren zu  schreiben. " Beim Schreiben hat alles eine Bedeutung, einen doppelten Boden." Von ihrer Schwester Claire stammt der Roman "Idiot", der die Schönheit der Einsamkeit behandelt und damit im Gegensatz zu Frankenstein steht.
     

Markus Orths erklärt, daß sein Roman keinen Anspruch auf  Vollständigkeit stellt und auch fiktive Stellen enthält. Bei den Dialogen zum Beispiel versucht er sprachlich so nahe wie möglich  an der heutigen Zeit zu sein.
    

Orths: Schreiben und "Wunde" haben etwas gemeinsam. Er schreibt nicht nur aus dem eigenen Ich, sondern schaut auch in die Welt. Die eigene Endlichkeit, der Tod ist für ihn ein wichtiger "Motor"  beim Schreiben. Die Urwunde. Es ist einfacher, so behauptet er, über das Unglück als über das Glück zu schreiben. (Diese Aussage erinnert mich an Andrea Maria Schenkel und ihre Aussage, daß Menschen immer mehr an Abgründe interessiert sind.)

    

Mein Einwurf

Bei Markus Orths, der ja auch Lehrer ist, habe ich den Eindruck, daß er immer versucht, Wissen, hier geschichtliches, auf einer anderen Ebene als der schulischen weiterzugeben. Aber er verliert dabei auch die heutige Zeit nie aus den Augen.
    

 


   

Siehe auch Autorenlesung 2017


Autoren: Orths, Markus
    









Doron Rabinovice liest aus „Die Einstellung“ – 13.11.2023



Doron Rabinovice

 Geboren 1961 in Tel Aviv, siedelte 1964 mit seiner Familie nach Wien über, wo er heute als Schriftsteller, Historiker und Essayist lebt. Studium der Geschichte, Ethnologie, Medizin und Psychologie an der Universität Wien und ebenda Promotion (2000). In den 1980er Jahren gründete er den „WienerFreundeskreises der israelischen Friedensbewegung Friede Jetzt“, und ab 1986 engagierte er sich gegen Antisemitismus und Rassismus im „Republikanischen Club“.Als Wissenschaftler forschte er insbesondere über die Israelitische Kultusgemeinde Wien während deer nationalsozialistischen Vernichtung. 



Werke unter anderem:

Die Außerirdischen  2017

Die Einstellung  2022



Auszeichnungen unter anderem:

Clemens-Brentano-Preis  2002

Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur  2018



Die Einstellung


August Becker ist der Star unter den Pressefotografen, seine Porträts sind unverwechselbar. Im aktuellen Wahlkampf um die Kanzlerschaft erhält er von einer liberalen Wochenzeitschrift den Auftrag, den Spitzenkandidaten einer populistischen Partei zu fotografieren. Ulli Popp hetzt gegen Migranten, gegen Frauen, gegen unabhängige Medien. August Becker soll den Mann hinter der Fassade von Fürsorglichkeit entlarven, seine Brutalität, seinen Zynismus, er soll den unaufhaltsam scheinenden Siegeszug seiner Partei stoppen. August verachtet Popp, er nimmt den Auftrag an, und tatsächlich gelingt ihm ein Schnappschuss, von dem er überzeugt ist, dass er den Ausgang der Wahl entscheidend beeinflussen wird - bis sich von einem Tag auf den anderen alle Gewissheiten ins Gegenteil verkehren. Doron Rabinovici erzählt in seinem neuen Roman von einer immer stärker polarisierten Gegenwart, einer zunehmend gespaltenen Gesellschaft.



Notizen


Rabinovice erzählt die Geschichte eines Pressephotographen, der von einer Wahlkampfveranstaltung Bilder eines Rechtspopulisten liefern soll. Der Roman spielt zwar zur Zeit von Jörg Haider in Österreich, könnte aber inzwischen, so der Autor, fast überall angesiedelt werden. Und so versucht Rabinovice Vergangenheit und Gegenwart miteinander zu verknüpfen und Bezüge zur augenblicklichen Politik und zum Populismus herzustellen.

   

Mein Zwischeneinwurf

Bei den wenigen Ausschnitten der Lesung bleibt für mich allerdings der Eindruck, daß der Roman (2023 erschienen) immer wieder auch die AfD darstellen könnte. Die Wahlkampfreden und kleinen Diskussionen erscheinen mir zu ausführlich und zu viel von der rechten Seite beleuchtet.

   

Zur Entstehung des Romans erklärt Rabinovice, daß er von einem ihm bekannten Photographen abgelichtet wurde und dabei erfahren habe, daß dieser mal ein Bild von Haider angefertigt habe, daß auch Haider sehr gut gefallen habe. Dies brachte ihn zu Überlegungen über die Wirkung von Photos.

   

"Die Einstellung ist die Einstellung"

   

Autor: Aus der NS-Zeit weiß man, daß die meisten Photos von den Tätern stammen.  Populisten werden ins rechte Licht gesetzt, beziehungsweise setzen sich selber ins rechte Licht. Populismus und Terrorismus operieren mit Bildern. Von Hitler ist bekannt, daß er nur Bilder seines Photographen von sich zugelassen hat.
    

In der Kunst, so Rabinovice, wirken die Bilder auf einer anderen Ebene. "Ich muß mich nicht entscheiden, auf welcher Seite ich als Autor stehe."

   

Das Buch, den Roman sieht der Autor als ein Plädoyer für die unabhängige Presse.

   

Am Ende formuliert der Autor auf eine Frage aus dem Publikum in etwa folgede Antwort, die übrigens nichts mit der Frage gemein hatte:
       

Jemand sagt, daß er einen bestimmten Politiker (er nennt hier Trump) nicht zum Essen einladen würde, aber ihn trotzdem wählen. Was folgte, war lediglich ein Achselzucken von Rabinovice.
    

Mein Einwurf  

Also ist die Einstellung für ihn wählbar, aber der Mensch nicht akzeptabel. Besteht überhaupt diese Möglichkeit ? Dann muß ich auch einen Menschen zum Essen einladen wollen, aber ihn nicht wählen können. Ist also die Einstellung eines Menschen immer nur für einen Teil wichtig ? Die Frage wurde Rabinovice weder so noch so gestellt. Aber sein Achselzucken bestätigte seine vorherige Aussage, daß er sich als Autor nicht entscheiden muß.
     

Für mich bleibt die Frage, ob sich wirklich an Bildern die irgendwer produziert hat, die Einstellung des Menschen ablesen   läßt ? Die Einstellung des Photographen, des Künstlers, eines privaten Menschen ?
    

   


   

Siehe auch Autorenlesung 2019
    

 





Eva Christina Zeller liest aus „Unterm Teppich -“ Roman in 61 Bildern  – 20.11.2023




Eva Christina Zeller

Geboren 1960 in Ulm. Studium der Philosophie, Germanistik,Theaterwissenschaft und Rhetorik in Berlin und Tübingen. Seit 1981 ist sie freie Autorin und Dozentin für kreatives Schreiben der Universität Tübingen. 



Werk unter anderem :

Unterm Teppich  2022


 

Auszeichnungen unter anderem :

Thaddäus-Troll-Preis  1989

Akademiepreis der Akademie für gesprochenes Wort zum Wettbewerb „Wächst das Rettende auch?“ zur Coronakrise. (2021)





Unterm Teppich - Roman in 61 Bildern


Unterm Teppich? Das sind unerhörte, ironische, auf den Punkt gebrachte, peinlich-schamlose Schlüssellochgeschichten, die so noch nie erzählt wurden. Gleichsam Blitzlichter aus den Hinterzimmern des Bewusstseins mit Langzeitwirkung und ohne Verfallsdatum. Da geht es um Identität und Intimität, um Übergriffe, um Tod und Erinnerung. Alle diese Geschichten hängen zusammen, haben einen bestimmten Dreh, berühren Grenzen und werfen Licht auf Scham und Tabu. Eva Christina Zeller erzählt bewegend und mitreißend die Lebensgeschichten eines weiblichen Ichs von der Kindheit bis ins mittlere Frauen-alter, Miniaturen eines coming of age. Zusammengehalten werden diese Geschichten eben durch dieses Ich, das versucht, seine Fluchten und Vertreibungen aus der Welt der Familie und der Beziehungen zu verstehen – und humorvoll, mit Esprit zu bewältigen.




Notizen


Es sind Erinnerungen aus ihrer Jugend, ihrer nicht einfachen Jugend. Und diese Erinnerungen müssen unter dem Teppich hervorgekert werden. Ihre Erinnerungen, ihre Jugend ? Es sind die Erinnerungen der Ich-Erzählerin. Was denn nun, autobiographisch, autofiktional. Die Anzahl der Bilder entspricht in etwas dem heutigen Alter der Autorin. Sie lächelt es zufällig hinweg. "Ich brauche Abstände zu den Geschichten."

Über dem Roman stehen zwei Motti: Traum und Scham

Aber auch die Sätze von Annie Ernaux : Die Scham ist die letzte Wahrheit

und Eugen Ruge : Diese Geschichte habe ich erfunden, um zu erzählen, wie es war.
 

Die Ich-Erzählerin fühlt sich von Geburt an schuldig. Und die Autorin: "Die Erinnerung ist der beste Schriftseller." Ihr Roman enthält immer wieder märchenhafte und traumhafte Stücke.


Für Eva Christina Zeller sind Sprache und Statik (Mathematik, die Primzahlen ) etwas Besonderes, ohne daß sie Mathematik versteht. So wie auch die Ich-Erzählerin sich als etwas Besonderes sieht. In ihrer Kindheit stand immer über allem: Nimm dich nicht so wichtig. Und da stand dann die Scham. Zeller: "Man wird beschämt und beschämt auch andere. Ich schäme mich jetzt weniger, seit ich das Buch geschrieben habe. Durch das Schreiben ist die Scham zur Geschichte geworden und wird überwunden." Und: Auf einem Teppich (siehe der fliegende Teppich) kann man auch entkommen. Ein anderes Bild in diesem Zusammenhang: Die Trauer der Welt fängt über den Brennesseln an. Wenn es weh tut, kann man aufhören.


Zeller über ihr Werk: In Prosa und Lyrik verdichte sie sehr viel. Ein Thema ausrollen, liege ihr nicht.


Ein Satz aus einem Gedicht: Ich bin solidarisch mit dem Nichterreichten.


Mein Einwurf:

Eine Frage bleibt für mich auch nach der Lesung:  Muß ich mich für das, was ich erlebt habe, dafür, daß ich lebe, dafür, daß ich gelebt habe, schämen ?

Wie sagte Eva Christina Zeller: Durch das Schreiben ist die Scham zur Geschichte und überwunden worden.

Etymologisch leitet sich das deutsche Wort Scham von althochdeutsch scama bzw. altsächsisch skama ab, das auf germanisch skamo mit der Bedeutung „Schamgefühl, Beschämung, Schande“ zurückgeht Die indogermanische Wurzel kam/kem kann mit „zudecken, verschleiern oder verbergen“ übersetzt werden.


Unter den Teppich gekehrt.


 






Birgit Weyhe liest aus „Rude Girl"  – 27.11.2023




Birgit Weyhe

Geboren 1969 in München, Comiczeichnerin, verbrachte ihre      Kindheit und Jugend in den Ostafrikanischen Ländern Uganda und      Kenia. Nach dem Abitur kehrte sie mit 19 Jahren nach Deutschland      zurück und absolvierte ein Magisterstudium in Deutscher      Literaturwissenschaft und Geschichte. In den Jahren 2002 bis 2008      folgte ein Zusatzstudium des Fachs Illustration bei Anke      Feuchtenberger. Birgit Weyhe lebt und arbeitet seit vielen Jahren      in ihrer Wahlheimat Hamburg-Altona. In Hamburg ist sie auch als      Lehrbeauftragte im Department Design an der Hochschule für      Angewandte Wissenschaften tätig. 




Werk unter anderem:

Rude Girl  2022


Auszeichnungen unter anderem:

Comicpreis der Berthold-Leibinger-Stiftung   2015

Erstmalige Nominierung eines Comics für den Preis der Leipziger Buchmesse  2023



Rude Girl


Am Anfang dieses buchlangen Comics steht eine Erfahrung von Ärger. Die in Ostafrika aufgewachsene Star-Zeichnerin Birgit Weyhe sieht sich auf einer Tagung US-amerikanischer Germanisten mit dem Vorwurf konfrontiert, in ihren Comics kulturelle Aneignung zu betreiben. Zunächst reagiert Weyhe beleidigt. Aber sich ärgern kann ja manchmal auch eine Einladung zum klüger werden sein. So ergeht es auch Birgit Weyhe, als sie, zurück in Berlin, eine Interviewanfrage einer Professorin aus Berkeley in Kalifornien erreicht: Priscilla Lane heißt diese Frau.

   Und Birgit Weyhe ist zunehmend fasziniert von dieser klugen Literaturwissenschaftlerin – so fasziniert, dass sie in "Rude Girl" den Lebensweg dieser afroamerikanischen Germanistin mit karibischen Wurzeln erzählt. Priscilla Lane erfuhr in ihrer Jugend  Ablehnung, sexuellen Missbrauch und rassistische Ausgrenzung. Heimat fand sie in der Skinhead-Szene, in der Musik – und in ihrer Liebe zur deutschen Sprache und Literatur.

   Rude Girl ist die Coming-of-Age-Geschichte einer Jugendlichen, die nirgendwo richtig dazugehört: Ihrer Mutter ist Priscilla zu wenig weiblich, den weißen Mitschülerinnen in Chicago ist sie zu arm und den schwarzen wegen ihrer Begeisterung für Rockmusik suspekt – von ihnen wird Lane "Oreo" genannt, wie der Keks, der außen schwarz und innen weiß ist. Dann findet sie über eine Mitschülerin, die ebenfalls Außenseiterin ist, in die Szene der linken Skinheads, eine Gemeinschaft, in der sie sich willkommen fühlt. 





Notizen


Birgit Weyhe stellt sich in der Lesung mit einem Comic-Essay über ihr Leben in Ostafrika vor. In ihrer Kindheit bestand ihr   Spielzeug aus Chamäleons, die ihre Farbe je nach Stimmung schnell ändern können.
    

In Rude Girl geht es um das Leben der Literaturwissenschaftlerin Priscilla Lane, um den Unterschied zwischen verschiedenen Kulturren,. Priscilla wird in den USA Oreo genannt: Außen schwarz, innen weiß.

   

Zum Titel sagt Weyhe: Rude bedeutet ja eigentlich "unhöflich, grob, unfreundlich, böse". Gemeint ist hier: "nicht angepaßt, nicht festgelegt auf eins".

   

Rude Girl ist ein Komik mit Textsprache. Erzählerische und bildliche Kunst, wie auch ihre anderen Werke. Manches sei   allerdings im Komik schwierig darzustellen, ohne voyeuristisch zu werden.Zum Beispiel im sexuellen Bereich.

   

Die Autorin erzählt, daß sie sich mit 19 Jahren nicht getraut habe, Kunst zu studieren und darum dann Illustration studiert habe. Sie wolle nicht zeichnen wie, sondern ihren eigenen Stil finden.
    

Mein Einwurf

Wer aus einer anderen Kultur kommt, kann sich nicht anpassen, bleibt immer Außenseiter, egal auf welcher Ebene er versucht gleich zu sein. Er ist immer nur ein Chamäleon, ein Oreo, außen schwarz und innen weiß.

Dies gilt wahrscheinlich auch für die heutigen Flüchtlinge. Sie können sich so viel integrieren wie sie wollen. Sie werden nicht wirklich dazugehören. Vielleicht "äußerlich", aber nicht "innerlich".







Jan Wagner


 42. Paderborner Gastdozentur

für Schriftstellerinnen und Schriftsteller




Jan Wagner

Geboren  18. Oktober 1971 in Hamburg, Lyriker und Übersetzer.

Abitur im Jahr 1992 an der Stormarnschule in Ahrensburg ab und studierte Anglistik an der Universität Hamburg, am Trinity College (Dublin) und an der Humboldt-Universität zu Berlin, wo er mit einer Magisterarbeit über die jüngste Generation anglo-irischer Lyriker abschloß.

Seit 2009 ist er Mitglied der Bayerischen Akademie der schönen Künste, seit 2010 der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz. Zudem ist er Mitglied der Freien Akademie der Künste in Hamburg und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Er war bis zu seinem Austritt 2022 Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland und ist Mitgründer des PEN Berlin.


Mit Wagners Gedichtband Regentonnenvariationen erhielt 2015 erstmals ein Lyriktitel den Preis der Leipziger Buchmesse.

Jan Wagner lebt seit 1995 in Berlin, seit 2000 im Berliner Ortsteil Neukölln.



Werke unter anderem:

2012 Die Eulenhasser in den Hallenhäusern. Drei Verborgene. Gedichte.

2014 Regentonnenvariationen

2001-2015 Selbstporträt mit Bienenschwarm. Ausgewählte Gedichte

2023 Steine & Erden. Gedichte.


Auszeichnungen unter anderem:

2004 Anna-Seghers-Preis

2011 Friedrich-Hölderlin-Preis der Universität Tubingen

2015 Preis der Leipziger Buchmesse

2017 Georg-Büchner-Preis

2022 Ehrendoktor der Universität Bielefeld





Vorlesung 

"Das Gedicht als Wahrheit und Lüge"  - 29.01.2024



Notizen


Stichpunktartig:

Jan Wagner stellt seiner Vorlesung, die er in Form eines Essays hält, drei Sätze voran:

- Wahrheit und Lüge im Gedicht

- Wahrheit und Lüge in einer verlogenen Welt

- Der Zuhörer erwartet das Fabulieren, aber nicht beim Lyriker

Dem letzten Satz widerspricht Wagner in Bezug auf seine Gedichte.

Ein jedes Gedicht, so der Autor, könne eine Wahrheit enthalten, die bei der Verfassung des Gedichts nicht zu erwarten war. Aber ein Gedicht kann auch einfach nur als wahr empfunden werden. Was wahr ist, ist allerdings noch keine Wahrhaftigkeit.

Man kann, sagt Wagner, über eigene Erfahrungen schreiben, aber die sind nicht wichtig. "Wir müssen nur den poetischen Wert im Gedicht achten.

Von ihm, Jan Wagner, sage man, er käme nich auf die großen Fragen zu sprechen. "Und trotzdem kann es eine Wahrhaftigkeit sein."

Der Autor: "Alle Dichter lügen". Es kommt nur darauf an, welche Bilder am effektivsten sind. Erst dann können sie als wahr empfunden werden.

Das Ziel der Poesie ist nicht die Wahrheit, sondern die Schönheit.

Der Dichter sagt nichts Wahres, sondern Erfundenes. Es darf nur nicht in das Alltägliche eingreifen.Das Gedicht bietet keine Wahrheit, aber ein augenblickliches Erfundenes.

Aber: Die Dichtung hat eine heilende Wirkung. Sie bietet Trost durch Glanz.

Bei allem hat der Dichter einen Vorteil: Er kann etwas erfinden, um es dann zu empfinden, ohne es selbst erleben zu müssen.

Für den Leser muß das Gedicht nicht Wahrheit sein, denn er soll ein eigenes Erlebnis empfinden.

In einem Gedicht gibt es eben sehr viele Wahrheiten, je nachdem wo es gelesen wird.

Jan Wagner auf Fragen, die ihn selber betreffen:

Er hat ja drei Dichter erfunden, die es nicht gibt. "Mittlerweile lerne ich von diesen drei Dichtern, die ein Eigenleben entwickelt haben."

Ja, lange Gedichte würde er gerne mal schreiben, allerdings ist es ihm bisher nicht gelungen.

Wagner: "Ich schreibe keine politischen, aber auch keine klassischen Liebesgedichte."


Einwurf

Ja, Wahrheit und Lüge. Oder, wie es in diesem Zusammenhang gemeint ist, Realität und Erfundenes. Wobei etwas Erfundenes keine Lüge sein muß. Und die Realität keine Wahrheit, schon gar keine Wahrhaftigkeit. Hinzu kommt die Frage, ob der Leser überhaupt die Wahrheit will, sie erwartet. Gerade von einem Gedicht möchte er sich doch meistens nur einen Augenblick verzaubern lassen, in eine andere Welt abtauchen. Die Schönheit, auch die der Sprache erleben. Mag die Welt auch verlogen sein, im Gedicht wird nicht die Wahrheit gesucht.



 


 


 


 

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