Lebensgeschichten

 

Begegnung mit Gedanken

 

Geschichten am Wegesrand         

 

 

 

Sind es nicht immer wieder die kleinen Begebenheiten des Alltags, die nicht nur Überschriften über eine gewisse Zeit setzen, sondern in gewisser Weise auch unser Sein bestimmen?
 Wobei einige wirklich nicht so wichtig sind, bei einigen merkt man es erst später, manchmal zu spät, andere nehmen wir einfach so hin und erfahren es nie.




Auf ein Wort


Jedesmal wenn ich an einem Abend hier sitze, frage ich mich, was man wohl von mir erwartet, gerne lesen möchte. Sicher eine Geschichte, Geschehenes der letzten Zeit, etwas Aktuelles, manchmal Lustiges. Immer aber Sätze. Wörter. Aber wo soll ich sie immer hernehmen, die Wörter ? Herta Müller sagte in ihrer Dankesrede zum Kulturpreis Deutsche Sprache: Die Wörter " sie kommen in den Mund wie sie wollen. In ihnen sitzt immer der Zufall."


Ja, ich kann die Wörter nicht rufen. Das Denken schickt sie meistens. Manchmal sammel ich sie auch einfach auf und verstaue sie irgendwo zwischen meinen Gedanken. Sie fliegen mir draußen zu, wenn die Menschen in der Stadt an mir vorbeieilen. Die merken nicht, wenn sie sie verlieren, man muß sie nur auffangen. Im Kopf lagern. Und irgendwann fallen die Wörter, so Herta Müller, aus dem Kopf dem Mund zu. Wichtig ist nur, sie dann richtig zu sortieren, denn oft kommen sie einfach ungeordnet. Und wenn aus ihnen dann ein Satz geworden ist, fehlt immer noch die Geschichte. Die kann nur von Sätzen geboren werden. Wörter, aus Buchstaben entstanden, werden zu Sätzen und enden als Geschichten. Wie das Leben. Jedes eine Geschichte des einzelnen Wesens.


Oder vielleicht ist all das auch falsch mit den Geschichten und Sätzen. Ein paar Wörter würden reichen. Wörter, aus denen Du selber Sätze und Geschichten in Deinen Gedanken bilden kannst. Eben einfach nur Wörter als Hinweise auf was auch immer. Denn Wörter sprechen mit einem.


Komme - Woche - Freude


Natürlich kennt jeder die Geschichte. Die wollte ich eigentlich auch erzählen. Aber jetzt ist es wieder eine Geschichte über die Wörter geworden, mit vielen Wörtern, die auch in anderen Geschichten vorkommen. Und die schon oft von einem Mund in mein Ohr oder von meinem Mund in irgendein Ohr gefallen sind. Wörter sind selbständig, sie machen was sie wollen.


Genau wie jetzt ich. Wortlos übergebe ich mich dem Dunkel der Nacht. Doch manchmal begegnen mir auch dort noch Wörter. Die packe ich dann am anderen Tag in einen Brief und schicke sie jemandem.

Briefwörter.

 

 

 

Luftige Übung        

Seit ich meine letzte Tätigkeit beendet und damit meinen letzten Beruf, den eines Rentners angetreten habe, wurde gleichzeitig aus meinem Besitzstand das Auto entfernt. Es ist ganz einfach überflüssig geworden. Hier in dem kleinen Städtchen gebe ich lieber meinem Bewegungsdrang nach und die Urlaubsfahrt wird lesend in einem Waggon der Bahn vorgenommen. Für notwendige kleinere Ausflüge stehen Busse zur Verfügung. Das alles ist besser für die Gesundheit und die Luft.

Letzte Woche saß ich somit nach langer Zeit also mal wieder in einem Bus, um in einem Nachbarort etwas zu erledigen. Vor mir eine junge Mutter mit ihrem Sohn. Um ihm die Langeweile während der Fahrt etwas zu nehmen, veranstaltete sie mit ihm Rechtschreibübungen. Sehr löblich. Das Gespräch bewegte sich zunächst irgendwie um den Bus.
"Und wie schreibt man Bus ? Groß oder klein ?"
Antwort: " Groß, weil man ihn ja sehen kann."
"Richtig. Und wie schreibt man Baum ?" hakte die Mutter gleich nach.
"Groß, kann man auch sehen."
Das ging eine Weile so weiter, bis die Mutter,warum auch immer, auf den verhängnisvollen Gedanken kam, die Frage zu stellen:
"Und wie schreibt man Luft"
Kurze Überlegung des Kleinen, ein Blick an die Decke und dann die überzeugende Antwort:
"Klein natürlich." Auf die Nachfrage warum, dann die genauso selbstsichere Antwort: " Ist doch klar, die kann man doch nicht sehen."
 Leises Schmunzeln bei einigen Fahrgästen, die das Spielchen verfolgt hatten, und eine sich umblickende,unruhig werdende Mutter. Immerhin hatte sie in ihrer Not eine rettende Idee: "Drück mal den Knopf, wir müssen gleich aussteigen." Luft.

An dieser Station endeten also die eigentlich gut gemeinten pädagogischen Bemühungen der Mutter, weil sie übersehen hatte, daß Kinder logischer denken. Anders denken. In gedanklichen Ketten. Da gibt es keine Ausnahmen. Die Welt der Kleinen ist einfacher, unkomplizierter.

Vielleicht würde uns dies in manchen Überlegungen auch manchmal helfen. Nur die Luft müssen wir dabei ganz groß schreiben, weil wir ohne sie nicht leben können.

Hoffen wir nun für den Jungen – und die Mutter -, daß im nächsten Diktat das Wort „Luft“ nicht auftaucht.

Und nachher gehe ich noch etwas durch die kühle, abendliche Luft. Ist ja reichlich vorhanden, auch wenn man sie nicht sieht.

            



 

 


Herrenschmuck

Was macht man, wenn man mal wieder etwas sucht ? Na klar, es beginnt ein wildes Wühlen in allen Ecken, Schubladen, Schränken und vor allen Dingen an Orten, an denen sich das Gesuchte ganz bestimmt nicht aufhalten kann. Und wie ist dann das Ergebnis ? Genauso eindeutig: Man findet zwar das Gesuchte nicht, aber dafür Gegenstände, von denen man gar nicht wußte, daß sie überhaupt noch existieren.Ein seltsames Phänomen, welches jedoch in schöner Regelmäßigkeit wieder auftaucht. Ob es dafür ein naturwissenschaftliches Gesetz gibt, vermag ich nicht zu sagen, da die Naturwissenschaft außerhalb meines Bewußtseins ihr Sein fristet.

So kommt es also immer wieder zu einem seltsamen Verschwinden und einem noch seltsameren Auftauchen irtgendwelcher Objekte. Eigentlich ging es um eine Glühbirne, die ich vor Jahren in der allgemeinen Abschaffungshysterie extra zurückgehalten und an einem Ort gelagert hatte, so mein Bewußtsein, an dem ich sie bei Bedarf schnell und problemlos finden könne.Doch jetzt stellte sich die Frage: Wo ist dieser Ort ? Nach qualvollen Buddeleien und kurz vor der Aufgabe, hielt ich plötzlich ein kleines Kästchen in der Hand. Beim Öffnen kam mir zunächst gelbe Watte entgegen, in der etwas eingebettet war, was -man sortierte es in den sechziger,siebzieger Jahren unter dem Begriff Herrenschmuck ein- nicht täglich, aber zumindest am Sonntag unumgänglich war. Für mich, in meinem damaligen Beruf tägliche Pflicht.
 Was ich vor mir sah, waren kleine, längliche, geriffelte, golden glänzende Manschettenknöpfe. Ja, bei der Arbeit war Anzug mit einem weißen Nylon-Hemd, Krawatte und eben die dazugehörigen Manschettenknöpfe vorgeschrieben. Das empfand man übrigens nicht als Belastung, sondern war stolz, so ausgestattet zu werden. Die steifen Manschetten wurden nebenbei auch immer besonders gepflegt, damit die Ecken nicht abgestoßen aussahen. Und zu Weihnachten oder zum Geburtstag gab es dann schon mal als besonderes Geschenk ein paar neue Knöpfe.Mal silbern, mal golden, mal länglich, mal rund.

 

Gleichzeitig wiesen Manschettenknöpfe den Träger auch als erwachsen aus und man konnte auf diesem Gebiet mit dem Vater konkurrieren. Herrenschmuck, den Begriff benutzte man eigentlich auch nicht - außer im Fachgeschäft - , denn mit Schmuck verband man ausnahmslos das weibliche Geschlecht. Bis auf zwei Ausnahmen: Homosexuelle, die man aber so nicht nennen durfte und über die man nicht sprach und Zuhälter, über die man ebenfalls kein Wort verlor. Beide Gruppen existierten offiziell nicht.

 

Manschettenknöpfe jedoch gehörten zum gut angezogenen Herrn und zeigten, wenn auch unbewußt,etwas später den Übergang von der Arbeiter- zur Angestelltenschicht. Wie übrigens auch ein anderer Gegenstand, den ich allerdings nicht mehr besitze, jedenfall bis heute nicht gefunden habe und der passend zu den Knöpfen stolz gezeigt wurde: Die Krawattennadel, womit eigentlich die Krawattenspange gemeint ist. Ganz richtig müßte man vom Krawattenhalter sprechen,denn ursprünglich wurde er wohl erfunden, damit das lange Gebaumel beim Essen nicht in irgendeinem Teller landete oder bei sonst einer Tätigkeit störte. Doch bald schon gehörte sie zur Ausstaffierung an Sonn-und Feiertagen und bei  bestimmten Festen.

 

Dies alles heute, ungefähr fünfzig Jahre später, gar nicht mehr vorstellbar, wobei mir auch unbekannt ist, ob es überhaupt noch Herrenhemden mit Manschetten gibt. Oder vielleicht schon wieder. Und so manchem Jugendlichen muß man diese Begriffe wahrscheinlich erst mal erklären. Wie diese Stücke all die Jahre bei mir überstanden haben, weiß ich genauso wenig, wie den Zeitpunkt des letzten Tragens. Jedenfalls haben sie schon viele Umzüge in ihrem weich gepolsterten Kästchen überlebt.

Da stand ich nun gedankenverloren mit meinen Manschettenknöpfen, die jedoch nicht geeignet waren, an meiner Schreibtischlampe zu leuchten. Die Glühbirne ist bis heute noch nicht wieder erschienen. Vielleicht tauchte sie ja wieder auf, wenn ich nach einer alten Krawattennadel suchen würde.

Ja, so nah sind manchmal Vergangenheit und Gegenwart. Und doch gleichzeitig so weit auseinander. Was die Jugendlichen wohl in fünfzig Jahren aus der heutigen Zeit finden und verwundert betrachten. Eventuell ihr ach so geliebtes Handy, über das sie dann den Kopf schütteln. Die Reise geht immer weiter.





Fenstergeschichten

Nun ist es mir doch etwas zu windig geworden. Erst mal mache ich eine Kaffeepause, lasse die große, dunkle Wolke vorüberziehen, die gen Osten wandert,um dann im zweiten Anlauf mein Werk zu vollenden.

Stimmt, ich habe noch gar nicht gesagt, was ich da innerhalb der letzten Stunde in Angriff genommen habe. Ich spreche von meinen Fenstern, die nun, bis auf das letzte im Badezimmer, befreit sind von Staub und Flecken aus der Winterzeit. Jetzt bekomme ich es wenigstens mal wieder mit, wenn die Sonne scheinen sollte und da es so also heller geworden ist in der Wohnung, spare ich zusätzlich noch Strom.

Als ich oben auf der Leiter stand und versuchte, die letzten Streifen auf der Scheibe zu entfernen, unter mir die Menschen vorbeihasteten und die Züge Richtung Süden streben sah, fiel mir auf, daß auch diese kleinen oder auch größeren Wohnungsöffnungen bemerkenswerte Veränderungen durchgemacht haben. Waren sie ganz früher nur Licht-und Luftschächte, entwickelten sie sich bald schon zu Abschottungsmöglichkeiten. Man brauchte sie nur schließen und hatte nicht nur den Lärm und im Winter die Kälte, ausgesperrt, sondern auch der übrigen Menschheit kundgetan, daß man unter sich bleiben möchte. Hinzu kamen dann noch die Gardinen, die auch ein Hineinblicken fast unmöglich machten. In den fünfziger Jahren habe ich sie dann sogar als Kommunikationsobjekt wahrgenommen.

Zumindest in der Sommerzeit öffnete man sie nicht nur zum Lüften, sondern funktionierte sie zu einem Unterhaltungsplatz um. Die Fensterbank mit einem Kissen gepolstert, lagen die Menschen in ihren Fenstern, beobachteten die Umgebung oder unterhielten sich mit den Nachbarn. Zwischendurch wurden die Kinder gerufen - wir veranstalteten immer ganz besonders tolle Dinge, wenn wir sahen, daß Mama im Fenster lag und uns beobachtete - oder mit einem vorbeikommendem Bekannten alles besprochen, was gerade auf der Tagesordnung stand, während drinnen der Milchreis oder andere Dinge auf dem Herd anbrannten.
Mit anderen Worten: Das Fenster war praktisch das erste Fernsehen, hatte nur den Vorteil, daß es keine Werbepausen gab, es sei denn, der Bäcker oder der Milchmann kamen vorbei und erzählten, was sie gerade im Angebot hatten oder der Eismann schwang seine große Glocke.

Wer es heute noch auf diese Art nutzt, wird eher belächelt oder als neugierig abgestempelt. Und, obwohl sich mir so manch schöner Blick anbot, ließ ich das Tuch ein letztes Mal über die Scheibe gleiten und mich vom Duft des Kaffees nach innen locken. Und natürlich von der schwarzen Wolke. 

 

Ja, Fenster. Schlendert man durch die Stadt, sieht man wie Frauen bei einem Blick in die Schaufenster nicht nur die Auslagen dort betrachten, sondern gleichzeitig auch sich und dabei schnell die Haare nach hinten werfen oder mit dem Finger die Lippen nachziehen, wie kleine Kinder sich dort selber erblicken oder eine Dekorateurin von innen, während ihrer Arbeit, den vorbeihuschenden Menschen einen Augenblick zusieht.
 Im Wohnhaus nebenan zieht eine Frau schnell die Gardine zu,weil sie sich beobachtet fühlt und die Katze dort auf der Fensterbank sucht vergeblich einen Weg ins Innere. Am offenen Fenster steht ein Mann und raucht, um mit seiner Zigarette nicht die Wohnung verlassen zu müssen. Und da an der Scheibe zum Buchladen versucht ein kleiner Käfer orientierungslos auf der glatten Fläche den oberen Rand zu erreichen.

 

Vielleicht sollten wir uns zumindest ab und zu doch mal wieder ein Kissen holen und einen Blick aus den Öffnungen unserer Wohnung werfen, oder uns einen Spaziergang ohne Ohrstöpsel und dem Bildschirm in der Hand gönnen, denn das Leben, unser Leben, findet draußen vor unserer Tür statt.



 

 


Vorsicht Sprache !

Und es gibt so viel über sie zu sagen und so viel zu diskutieren, wie man sie in ihrer Vielfalt erhalten und dennoch weiterentwickeln kann, aber auch, was sie zerstört und wie wir sie zerstören, wenn wir nicht auf sie aufpassen.

Jedenfalls ist es gut und wichtig, daß es überhaupt eine Initiative in diese Richtung gibt. Diese Notwendigkeit spürt man täglich, wenn man nur mal den Menschen um sich herum zuhört. Da frage ich mich doch immer öfter, warum es nur Deutschkurse für Ausländer, für Flüchtlinge gibt. Eigentlich müßte man nicht nur die Autofahrer mit ihrem Gefährt alle zwei Jahre zum TÜV schicken, sondern so was für alle Erwachsenen in Sachen Muttersprache einführen. So einen Deutsch-TÜV. Durchgeführt von Migranten. Das würde vielleicht so manchem Rechten ein bißchen den Wind aus den Segeln nehmen.

Passend dazu habe ich zufällig von einer WDR-Moderatorin den Ausspruch gehört: Man muß vorsichtig aufpassen. Ja, das ist doch mal eine Aussage, die jeder versteht, besonders die "Ausländer".

Und an dieser Stelle beantwortet sich die Frage, warum Sprache so wichtig ist, eigentlich alleine. Sie beschreibt - und lassen wir mal die Umgangssprache, die jeder natürlich für sich auch pflegt und auch pflegen soll, einen Moment zur Seite - mein Verhältnis zum "Für-Selbst" und zum "Für-Anderen", um es mal ganz einfach auszudrücken.Sprache ist eben kein "Für-Es", denn sie gehört zum "Für-Sich" und lebt aus diesem Grund. Daraus folgt,jedenfalls für mich, daß sie auch ein "Sein" hat.
Sprache ist eben mehr, als nur eine Aneinanderreihung von Buchstaben, Wörtern und Sätzen. Und da kann ich auch nicht so einfach mal einen Buchstaben oder ein Wort austauschen oder ein paar Sternchen und andere Zeichen einfügen, weil es dann zu einer Unordnung kommt, quasi zum Krieg zwischen Buchstaben,zwischen Wörtern, aber viel schlimmer, es werden ganz andere Bilder vor dem Hintergrund der Welt erzeugt.
So bestimmt das Verhältnis, welches wir zur Sprache haben oder entwickeln, entscheident das Verhältnis zu unserem Sein, zu den Menschen und zum Sein allgemein.

Ganz deutlich wird dies doch in unserer Umgangssprache, in Dialekten, ja schon in verschiedenen Ausdrücken, Bezeichnungen, die wir in einer anderen Gegend unseres Landes erst erklären müssen, um uns verständigen zu können.Warum, so frage ich mich, geschieht dies nicht auch bei anderen Dinge, Problemen über die wir uns austauschen, denn dann gäbe es weniger Mißverständnisse, weniger Konflikte. Oft würde es schon reichen, meinem Gegenüber zu erklären, was ich unter einem bestimmten Begriff verstehe und der Zwist wäre gelöst.

Heute habe ich, weil meinem Gaumen danach war und er sich wahrscheinlich an einen alten Geschmack erinnerte, was er inzwischen bestimmt besser kann als ich, eine Braunschweiger gekauft.Keine Ahnung, was Du unter "Braunschweiger" verstehst. Bei uns war es früher eine ganz einfache, aber gut gewürzte, feine Mettwurst. Und wenn es am Tisch hieß, gib mal die Braunschweiger rüber, dann kam da diese kleine,leicht orangenfarbene Rolle bei einem an. Anders ausgedrückt, die Braunschweiger war zu einer kleinen Wurst gerollt und in einem Darm verpackt, den man an einer Seite mit einer Art Blombe und oft auch noch mit einem Stück dickerem Faden verschlossen hatte. Diesen Verschluß schnitt man dann mit einem Messer einfach ab, wodurch etwas Wurst gleich den Weg in die Freiheit nutzte. Soweit noch halbwegs in Ordnung. Aber dann begann mit Hilfe des Messers die eigentliche Operation am offenen Darm: Das Bohren nach Wurst, und jede Person am Tisch drang etwas tiefer in den Darm hinein.

Das eigentliche Problem aber traf man erst in den nächsten Tagen, wenn der angebohrte Darm aus dem Kühlschrank erneut auf dem Tisch lag. Die Wurstreste am vorderen Teil des Darms, welche überlebt hatten, erschienen nun in einer dunkelbraunen Farbe und hatten schon einen härteren Zustand angenommen. Also versuchte man mit dem Messer an diesem Teil vorbeizumanöverieren, um an den noch frischer aussehenden Inhalt zu gelangen. Aus dem Hintergrund hörte man zwar leise den Vorwurf, ihr sollt auch nicht bohren, der allerdings keinen daran hinderte, die Aktion fortzusetzen. Und da man ja Lebensmittel nicht wegwerfen durfte - verständlich, denn durch den Krieg und die Zeit danach war jeder Zipfel wertvoll - war es am Ende die Mutter, die den ausgebohrten Wurstzipfel gänzlich, auch mit den eingetrockneten Resten der Vortage auskratzte. Schließlich war Braunschweiger noch eine ganz besondere Wurst, die es nicht jeden Tag gab.

Hoffentlich habe ich jetzt keinem den Appetit auf Wurst gänzlich vergrault, aber in dieser Zeit war die Hemmschwelle für solche Dinge, bedingt durch den Mangel, noch ziemlich niedrig. Wenn heute jedoch gleiches mit der Sprache geschieht, stört das die wenigsten Menschen. Auch in ihr bohrt man gerne solange herum, bis man noch ein Stückchen erwischt, welches vielleicht zu verwenden ist, egal ob einige Wörter oder Wendungen gänzlich unbrauchbar sind und weder schön aussehen, geschweige sich so anhören. Ja, Sprache ist, wie damals die Braunschweiger, etwas Besonderes und so sollte man sie auch behandeln. Petra Roth spricht in ihrer Laudatio auf Dr. Prinz Asfa-Wossen Asserate zur Verleihung des Kulturpreises Deutsche Sprache 2015 an einer Stelle von Manieren.Ein passender Begriff. Diese von mir beschriebene Eßgewohnheit war sicherlich nicht manierlich, aber ein schlechtes und manchmal schon fast unverständliches Deutsch ist es auch nicht, was ganz besonders auch für die geschriebene Sprache gilt.

Nun muß man sicherlich nicht gleich irgendwelche Ordnungshüter rufen, wenn jemand sich gegenüber der Sprache unmanierlich benimmt, beziehungsweise einem etwas nicht schmeckt, seine, ich sage mal, zu lässige Spracheigenschaft zu verbessern, wäre aber zumindest eine Überlegung wert.

Gestern habe ich folgende Meldung gelesen:


Weil ihr die Pizzabrötchen nicht geschmeckt haben, hat eine Frau in Oberhausen die Polizei alamiert - und das über den Notruf 110.
Am Telefon habe die 50-Jährige behauptet, sie befinde sich in einer Notlage und könne sich daraus alleine nicht befreien, berichtete die Polizei. Als die Beamten bei ihr eintrafen, war von einer Notlage keine Rede mehr. Sie habe sich lediglich über "schlechte Pizzabrötchen beschweren wollen.

Dies fanden die Beamten nicht witzig und schrieben eine Anzeige wegen missbräuchlicher Nutzung des Notruf.


Wäre eigentlich eine sprachliche Schwierigkeit eine zu rechtfertigende Notlage ? Also bei so manchem Beamtendeutsch sicherlich und manchmal wäre da schon eher der Krankenwagen angebracht. Wie sagte doch die Dame vom WDR ? Man muß eben immer vorsichtig aufpassen.


 


Ich, ganz schön frech.


Nun bietet sich so ein Lokal ja für viele Dinge an. Man kann dort etwas trinken oder essen, sich unterhalten, feiern, Musik hören. Aber lesen ? Und ich meine jetzt nicht die Speise-oder Getränkekarte. Ja, vielleicht mal eine Zeitung. In der jetzigen Zeit meistens Benachrichtigungen oder was auch immer auf dem Handy. Jedoch ein Buch ? Wer kommt denn auf so eine Idee ?


Da sitze ich am Samstag aber mal wieder in dem kleinen Cafe, das kein Cafe ist, sondern ein Lokal, aber sich im Namen Cafe nennt, allein an einem Tisch, und vor mir ein Glas Rotwein, das mir der Wirt oder die Bedienung unaufgefordert bringt. Schau mich um, sehe viele nette, fröhliche Menschen um mich herum sich unterhalten. Leise Musik im Hindergrund. Dann hole ich ein Buch heraus und beginne zu lesen. Niemand beobachtet mich direkt. Das bemerke ich, weil ich zwischendurch immer mal wieder einen Blick in die Runde werfe. Aber alle sehen mich, schauen mir zu. Irgendwann kam mal einer an meinen Tisch und erzählte mir wie er es fände, daß ich mich in einem Lokal an einen Tische setzen und frech einfach lesen würde. Er sagte wirklich "frech". So versteht man es wohl hier. Eine Runde Jugendlicher hat mir mal einen Schnaps ausgegeben. Warum haben sie nicht gesagt. Vielleicht weil ich alleine war, aber vielleicht auch, weil sie es "frech" fanden. Und frech ist in diesem Fall ja nicht negativ gemeint. Jedenfalls empfinde ich es nicht so. Du fragst sicherlich, warum ich ausgerechnet in einem Lokal lese. Zu Hause ist es doch ruhiger. Aber da sieht mich keiner. Da sieht mich keiner lesen. Und genau darum geht es mir. Den Menschen zu sagen: Lest mal wieder. Und zwar ein richtiges Buch. So eins aus Papier. Mit Buchstaben aus Druckerschwärze. Papier ist nämlich etwas Lebendiges. Aus Bäumen hergestellt. Und die leben doch wirklich. Und da die nicht sprechen können und ihre Geschichten erzählen, verwandeln sie sich in Papier und lassen die Buchstaben sprechen. Deshalb sitze ich in einem Lokal und lasse mir von der Natur wunderschöne Geschichten erzählen. Und aus diesen Geschichten entwickeln sich beim Lesen neue Geschichten bei mir. Hier am Tisch, mitten zwischen all den Menschen bin ich nicht alleine, sondern bin Teilnehmer in vielen Geschichten. Geschriebenen und gerade entstehenden.


Einige Jahre sitze ich da jetzt schon. Viele Samstag abende. Und viele Bücher habe ich so schon gelesen. Viele Notizen nebenbei gemacht. Einige Menschen troztdem kennengelernt. Manche Freude gehabt. Gut, auch einige Rotwein getrunken. Und neulich hat man mir zu verstehen gegbeben, daß ich als Gast willkommen bin. Gehöre wohl inzwischen am Wochenende irgendwie als ein Etwas zu diesem Lokal. Ein Etwas, welches man nicht groß beachtet, aber dort erwartet, weil es dazugehört.

Ganz schön frech.





Reise nach Jerusalem

 

Da bin ich doch bei den Grabungsarbeiten in meinem Keller plötzlich auf einen Gegenstand gestoßen, von dem ich gar nicht wußte oder besser, nicht glaubte, daß er noch existiert, ein Ausziehtisch, welcher in den fünfziger Jahren mal in unserem Wohnzimmer gestanden hat und damals der "neueste Schrei" war. Bei meinem Auszug aus der Wohnung meiner Eltern habe ich ihn dann aus deren Keller mitgenommen und seit dieser Zeit hat er mich von Keller zu Keller begleitet, aber nie wieder einen Platz in einem Raum oberhalb der Erde gefunden.


Damals benötigte man so ein Möbelstück ja noch für den Fall, daß Besuch kam- und der kam verhältnismäßig oft - oder bei diversen Familienfeiern, um alle ordnungsgemäß bei dem jeweiligen obligatorischem Essen an einer Tafel platzieren zu können. Dann wurde der Tisch zunächst an beiden Seiten um geschätzte jeweils dreißig Zentimeter verlängert, was aber sofort zum nächsten Problem führte: Die Tischdecke war zu kurz. Also behalf man sich, indem man zwei - natürlich weiße - Decken über-beziehungsweise untereinander legte, wodurch allerdings nun "Huckel" an den Enden der ersten Decke entstanden, die später für umgeworfene Kaffeetassen verantwortlich gemacht werden sollten. Jetzt reichte es zwar, sämtliche Teller und Tassen Rand an Rand rings um den Tisch aufzustellen, aber da niemand gewillt war, im Stehen zu essen, versuchte man nun, den gesamten Vorrat an Stühlen -egal welcher Art - ausfindig zu machen und jeweils vor ein Gedeck zu stellen, was zwar zu eng wurde, aber man hatte ja schließlich Ellbogen, um sich beim Essen und zum Erreichen der Wurst in der Mitte des Tisches zu behaupten. Der Kampf der Verwandtschaft, die sich so ungewollt näher kam.


Allerdings gab es auch immer eine zweite Klasse in dieser Gesellschaft: Die Kinder. Die wurden nämlich, ohne lange zu fragen, an einen extra "Kindertisch" ausgelagert. Dort störten sie die Erwachsenen weder bei Bockwurst mit Kartoffelsalat noch bei den "Erwachsengesprächen". Damit es aber abseits der Hauptgesellschaft nicht zu Tumulten und Chaos kam, mußte man natürlich auch für eine Aufsicht sorgen. Das ergab sich aber meistens von ganz alleine, denn, wie man auch organisierte, es fehlte immer ein Platz. Also wurde eine Mutter abkommandiert, um die Verbindung zwischen den beiden Ebenen zu spielen. Damit diese aber auch zwischendurch essen konnte – also die Mutter -, wechselten sich auf diesem Posten zwei Personen ab, was wiederum bedeutete, daß eine immer saß und eine wanderte. Mit anderen Worten: Man spielte die "Reise nach Jerusalem".

Und so räumte ich den Ausziehtisch ab  und schob ihn  wieder in seine Ecke. Vielleicht kann man ihn doch noch einmal gebrauchen. In einem anderen Keller.


 

 

Bienenstich

Auch so Erinnerungen an mein Bewußtsein. Genau genommen beim Stichwort Bienenstich. Den gab es in meiner Kinder-oder Jugendzeit natürlich nicht täglich und schon gar nicht unterhalb der Woche. Das war in den fünfziger Jahren noch etwas ganz Besonderes und damit dem Sonntag vorbehalten. Da hat er sich übrigens immer mit dem Apfelkuchen abgewechselt.


Und diese Spezialitäten wurden dann natürlich in der guten Stube gegessen, die während der Woche besonders für uns Kinder fast tabu war. Das Wohnzimmer mußte immer im tadellosen Zustand sein und war nur ehrfürchtiger Aufenthalt an Sonntagen, Feiertagen und bei Besuch. Das bedeutete auch, sich besonders zu benehmen und natürlich alles nur in den guten Sachen. Unmöglich, daß man sich dort in Arbeits-oder Alltagskleidung aufs Sofa setzte. Irgendwie war dort immer Heiligabend. Ausgenommen der Besuch wirbelte herum. Dem war es natürlich erlaubt, auch wenn am nächsten Tag, nachdem man den alten Zustand schnell wieder hergerichtet hatte, darüber gestöhnt und gelästert wurde. Mit anderen Worten: Ein Ort, den es eigentlich für die Familie gar nicht oder nur in Ausnahmefällen gab. Ja, so war das mit der guten Stube, den guten Sachen, die man nur Sonn-und Feiertags oder bei Besuch,Besuchen oder zum Einkaufen anzog, wenn man in die Stadt ging.


Alles Überbleibsel aus dem Krieg, beziehungsweise aus der Nachkriegszeit, in der es nichts gab und man nichts hatte. Allerdings kann das nur jemand verstehen, der in der Zeit gelebt hat, der mit diesem Denken aufgewachsen ist. Genau dies ist es aber, warum man auch bis heute die sogenannten Achtundsechziger nicht versteht, nicht verstehen kann.
Wenn ich heute Menschen darüber reden, diskutieren und vor allen Dingen urteilen höre, dann muß ich immer wieder feststellen, daß sie gar nicht und noch immer nicht wissen und - das gebe ich zu - auch nicht wisssen können, worum es uns wirklich gegangen ist und daß man es ihnen auch nicht erklären kann, weil es nur nachvollziehbar ist, wenn man es selber gefühlt hat.


Da wird heute immer wieder der Kampf gegen das politische Establishment und gegen die herrschende Moral herausgestellt. Davon wußten wir gar nichts. Die „Kommune eins“ hatte nichts mit sexueller Befreiung zu tun. Sie wollte,wie wir alle, nur raus aus dem Muff der fünfziger Jahre. In Deutschland gab es zwar nach dem Krieg eine Demokratie, aber keine Freiheit.


Das gleiche Problem bestand später in Bezug auf die DDR. Ich war als Student automatisch Kommunist in dem kleinen Dorf und solle doch rüber gehen, wenn es mir hier nicht gefiel. Kommunismus und Sozialismus war eins und das Denken des Nationalsozialismus saß noch tief. Die „Bravo“ gab es nur unter der Ladentheke - ich bin dafür extra jede Woche in die nächste Stadt geradelt. Gehörte also damals schon nicht dazu, weil mir die Welt in dem kleinen Ort, wo ich aufgewachsen bin, zu eng war, so eng war, wie sie mir heute global ist. Es ging mir nie um die Freiheit, machen zu können was man will, weil das keine Freiheit ist, sondern um die Freiheit denken zu können was man will. Freiheit findet nicht im Sein, sondern im Sein des Bewußtseins statt.

Aber so ganz kann man sich aus den Prägungen der Kindheit ja nie befreien - genauso, wie die Mauer in Berlin und zwischen Ost und West nie ganz verschwinden wird - weshalb es ja auch oft so schwierig ist, trotz guten Willens die Jungend in manchen Dingen zu verstehen. Sie macht eigentlich nur das, was wir damals wollten, aber, wenn wir ehrlich sind, nicht wollten, daß es auch Wirklichkeit wird. Ich glaube, da liegt eines der Probleme, warum wir bis heute nicht verstanden werden und uns selber nicht verstehen können.

Also verdrängen wir Veränderungen und geben nach außen den Anschein, als würden wir sie-immer noch jung- selbstverständlich gerne mitleben.

So wird Unehrlichkeit zu einem Stück Freiheit.

Und was ist aus dem Bienenstich geworden ? Der ist inzwischen fast wieder so selten wie damals. Und deswegen auch fast wieder etwas Besonderes. Nur die gute Stube gibt es nicht mehr. Noch nicht mehr.


 

 

 

Der Knopf

Am frühen Morgen war mir an der Hose der letzte Knopf abgerissen, was bedeutete, daß sie nur noch mit einem Gürtel an der richtigen Stelle gehalten wurde, was aber kein Dauerzustand sein kann. Das ein Knopf sich von seiner zugedachten Stelle an einem Kleidungsstück entfernt, ist ansich nichts Besonderes, aber hier ist, auch wenn ich nicht mitgezählt habe, ein Jubiläum nicht mehr außer Sichtweite. Selten hält es dieser kleine, runde Gegenstand an der von mir - und ich sage dies ganz ohne Selbstlob - meisterlich befestigten Stelle länger als eine Woche. Und nein, die Hose ist nicht zu eng.


Also schnappe ich mir Nadel, Faden und Brille- denn ohne Letztere bringe ich die beiden Ersten nicht zusammen - und steche fröhlich durch Stoff und Knopflöcher - also die Löcher in den Knöpfen. Das geht ganz schön auf die Fingerkuppen, denn an der Stelle, an die das besagte Teil auch ohne seinen Willen erneut fixiert werden muß, hat sich im Laufe der Zeit schon ein ganzer Berg von Garn angesammelt. So, nachdem der Faden zuende geht, noch profihaft ein paar Stiche durch den Garnberg, damit sich das Ganze nicht wieder selber entfaltet und fertig ! Morgen werde ich dann noch einen zweiten Knopf unweit dieser Stelle anbringen, denn eine zweite Chance bekommt dieser nicht mehr.

Also wieder mal einen Kampf gewonnen - jedenfalls vorläufig eine Art Waffenstillstand hergestellt - und ich kann mich beruhigt nach der nächsten Herausforderung umschauen. Lächerlich mag es zunächst erscheinen, aber sind es nicht gerade diese kleinen Begebenheiten des Alltags die wir brauchen, die wir eigentlich gar nicht missen möchten, weil sie ein Stück wir selber sind? Wir können uns nicht andauernd auf große Dinge, auf gewaltige Geschehnisse entwerfen, weil wir auch die Knöpfe brauchen, um einen Anzug tragen zu können, denn das Leben wird uns nicht komplett am Stück geliefert, sondern muß Stück für Stück zusammengenäht werden. Gut, im Nachhinein habe ich festgestellt, daß ich den Knopf an der schwarzen Hose mit einem weißen Faden angenäht habe, aber erstens sieht das, zumindest in der Nacht, keiner und außerdem macht sich etwas Weiß bei dem ganzen schwarzen Garn auch nicht schlecht. 

Es ist eben nicht so wichtig, daß etwas zusammen- paßt, sondern daß es zusammen - hält.




 

 


Viel Rauch um nichts ?


Da war bei mir mal wieder ein "alter Bekannter" im jährlichen Reigen an der Reihe. Habt Ihr eigentlich auch so ein kleines, weißes Döschen  unter der Decke ? Eines, das jedesmal eine Meldung von sich geben soll, wenn es in "der Bude raucht". Ja genau, den berühmten Rauchmelder. Bei mir war es ja schon öfter Thema und trat nun wieder auf den Plan, weil eine Firma seine Funktion überprüfen mußte. Gesetzlich geregelt. Jedenfalls hier bei uns. Ob das bundesweit gilt, weiß ich nicht. Jedenfalls war es diese Woche mal wieder so weit. Es klingelte und ein netter junger Mann zeigte an die Decke und erklärte mir den Grund seines Kommens. Da oben gab es dieses Döschen allerdings nicht mehr, nur noch eine kleine schwarze Halterung, denn der Melder ruht schon lange - ja wo eigentlich ? Während der Suchaktion erklärte ich also dem guten Mann, wie die Dose von der Decke in eine Schublade gelangen konnte: Bratwurst braten - Rauchentwicklung - Alarm - Dose mit langem Stock erlegt. Das mußte ich dem Prüfer natürlich in Einzelheiten erzählen, weil ich Zeit benötigte, um das Gerät aufzufinden.


Nachdem ich es endlich ans Tageslicht befördert hatte, warf er nur einen kurzen Blick darauf, drückte auf einen Knopf, schüttelte den Kopf und sagte: Hinüber! Da müssen wir einen neuen Melder bestellen. Ich komme dann noch einmal. Kann aber zwei, drei Wochen dauern. 


Aus Erfahrung in solchen Dingen kann ich aber behaupten, daß man die Zeit sicherlich wenigstens verdoppeln kann. Immerhin hindert mich so nichts daran, in den nächsten Wochen noch ein paar Mal Bratwurst zuzubereiten. Danach muß ich schauen, wie ich den Melder dieses Mal fachgerecht entfernen kann. Und vor allen Dingen dort aufbewahre, wo ich ihn ohne Suchen sofort finde. Die schwierigste Aufgabe. Es müßte weißer Rauch über dem Ort aufsteigen. Doch egal, es ist ja alles nur Schall und Rauch und irgendwann geht auch alles in selbigem auf. 

Und mit den Signaltönen klappt es bei uns in Deutschland ja sowieso nicht, wie wir seit dem letzten Probealarm wissen. Bei Sirenen weiß niemand was die Töne bedeuten - ich auch nicht - und Warnungen per Handy kommen, wenn die Gefahr vorbei ist, wie ich vernommen habe. Mir genügt mein Wecker. Der warnt mich täglich - und zwar pünktlich - vor dem baldigen Aufstehen. Egal ob Feind-oder Rauchgefahr.

Und genau das sind alles Gedanken, um die ich mir keine mehr mache. Setze mich lieber, solange es die warme Natur noch erlaubt, auf eine Bank und lese. Marcel Reich-Ranicki und Peter von Matt. Literaturkritik und Literatur. Auch diese ging ja schon mal in Rauch auf. Und damals gab es niemanden, der vor der Gefahr gewarnt hat. Oder vielleicht auch zu spät.




 



Egal

Neulich begegneten mir auf dem Weg durch einen Kurpark ein kleines Mädchen, etwa drei Jahre und eine ältere Frau, wahrscheinlich die Oma. Das Kind lief etwa zwei Meter vorweg und rief plötzlich ohne sich umzudrehen: Da, Schaukel.
Antwort der angenommenen Oma: Ja, aber zum Schaukeln ist es heute zu kalt.
Die Kleine stutzte einen Moment, fuchtelte mit den Armen und erwiderte, indem es schon Kurs auf die dort wirklich stehenden Geräte nahm, nur ein Wort: Egal.

Wunderbar. Das können wohl nur Kinder, einfach alle Bedenken wegwischen und auch wenn es für sie selber eigentlich nicht zum Vorteil ist, geradewegs das augenblickliche Wollen in Handeln umsetzen. Und auch wenn es wirklich "kalt" ist, doch noch Freude daran zu finden, denn in diesem Augenblick scheint für sie die Sonne, empfinden sie Wärme. 


Da meint man, im Laufe des Lebens immer hinzuzulernen, sicherlich, aber vieles verlernt man auch wieder. Und darum sind Kinder für uns so wichtig. Sie bringen einem wieder bei zu leben. Auch, wenn es manchmal "kalt" um uns herum ist, egal. Und das bedeutet nicht, immer nur das Positive zu sehen (denn das wäre nichts weiter, als Widerständen aus dem Weg zu gehen), nein, es bedeutet, unseren Weg zu gehen, auch gegen Widerstände, auch mit Widerständen. Und nicht gleich hinter allem eine Krise zu wittern, wie es Tschechow sagt, denn eine Krise ist viel mehr, mehr als einen Augenblick Kälte zu spüren, dafür läßt man kein Schaukeln sausen.Das Alltägliche, das nicht Änderbare darf die Freude, das Leben nicht verdrängen. Dieses kleine Mädchen müßte uns viel öfter begegnen und sein "egal" in die Welt schreien.

"Diß und noch mehr als diß muß endlich untergehen
Dein hertze kan allein zu aller zeit bestehen"

Ja, da ist er, Hoffmann von Hoffmannswaldau, und Peter von Matt sagt es auf seine Art:
"Wäre es nicht besser, flüstert der Mann in dieser Lesart der schönen Frau ins Ohr, wäre es nicht besser, du kämst mir mit einem weichen Herzen entgegen und wir erfreuten uns aneinander, hier, in diesem gleißenden Jetzt, und kümmerten uns den Teufel um die sausende Sense ? Denn etwas Herrlicheres können wir ohnehin nie mehr haben."

Genau dies steckt in dem einen Wort des kleinen Mädchens: Egal, was kümmert mich die Kälte, die sausende Sense, laß mich im Jetzt schaukeln, denn etwas Herrlicheres als diesen Augenblick gibt es für mich nie mehr.






Frühe Weisheit

 

Da sind mir doch neulich, als ich gerade im Kaufhaus das Rollband in die untere Lebensmittelabteilung verlassen hatte, zwei wohl etwa Fünf- bis Siebenjährige aufgefallen, die mit einem leeren Einkaufswagen hantierten, über den sie noch nicht einmal hinwegsehen konnten. Die Eltern befanden sich wahrscheinlich noch hinter mir auf dem Abstieg.
Während nun einer der beiden den Wagen schob, versuchte der andere das Innere zu erreichen, um sich wahrscheinlich dort hineinzusetzen, was dem Schieber und Lenker jedoch nicht paßte. Verärgert rief er dem anderen zu:
Da wollen nur die Dummen rein !

Woher auch immer seine Weisheit kam, aber er hatte irgendwie den Kern getroffen. Nur "Dumme", nicht Nachdenkende lassen sich durchs Leben schieben, die anderen lenken das Geschehen, geben die Richtung vor und bestimmen, wo die im Wagen am Ende landen.
So hatte der kleine Mann also schon ein Gefühl dafür entwickelt, wie man im Leben voran kommt. Nicht indem man sich den bequemsten Platz aussucht, sondern den für die Zukunft vorteilhaftesten.





Stürmische Zeit


Das war, an einem Freitag im Mai, ja wirklich ein stürmischer Tag. Im wahrsten Sinne des Wortes. Und noch dazu in einer, im übertragenen Sinn stürmischen Zeit. Ein Tornado fegte über die Stadt hinweg. Chaos auf meinem Balkon. Zerschmetterte Blumentöpfe, samt Nägel von der Wand gerissene Gegenstände, Bilder nahm er mit ins All. Vielleicht landen sie irgendwann bei Irgendjemandem. Eine Schneise der Verwüstung mitten durch die Stadt hatte er hinterlassen. Ja, die Natur zeigte ihre Stärke. Vielleicht war und ist sie auch das Vorbild für einen Mann im Osten, der zeigen will, daß er stärker ist, als alle und alles.


Und so wird alles in mühevoller Arbeit liebevoll Aufgebaute, vom Sturm der gierigen Macht in Kürze zerstört. Diesem Mann geht es alleine um die Macht, um die Macht über was auch immer. Sicher auch um die Macht über sich. Um ehrlich zu sein, hatte ich ihn bisher für einen Menschen gehalten, der im 21. Jahrhundert angekommen ist, aber wie es aussieht, ist sein Denken so vom 20. Jahrhundert geprägt, ja verformt worden, daß er sich davon nicht befreien kann. Es hat wohl Jahrzehnte in ihm gegärt und ist jetzt wie ein Vulkan ausgebrochen und fegt nun als Tornado über ein ganzes Land.


Wie traurig ist es zusehen zu müssen, wie Vergangenheit und Zukunft einer Bevölkerung vom Sturm eines Wüterichs zerschmettert wird.


Also lasse ich meine Bilder flattern, wohin auch immer sie wollen, denn sie zeigen eine friedliche und wunderbare Natur, die auch kein Sturm zerstören will. Sturm ist nur ein Ausgleich zwischen Luftdruckgebieten. Der Sturm eines Machtmenschen aber will keinen Ausgleich, sondern die Zerstörung des Friedens für seine Macht.

Und mein Balkon ? Den zieren inzwischen wieder neue Bilder von blühenden Bäumen und leckeren Weintrauben. Hoffentlich blüht bald auch wieder der Frieden zwischen Ost und West.

"Handle nie in Wut. Es bedeutet, im Sturm in See zu stechen."

Thomas Fuller, englischen Historiker (1608 - 1661)






Wurzeln des Lebens


Da zieht doch ab und zu immer mal wieder die eigene Vergangenheit an einem vorbei Auch wenn es nur ein zufällig gelesener Artikel ist oder eine kurze Äußerung, die jemand im Gespräch hinwirft. Und schon steht plötzlich eine kleine gelebte Geschichte vor einem. Eine Wurzel aus dem Erdreich des Lebens.


Bei Computer Nixdorf habe ich vor 52 Jahren gearbeitet, da war ich gerade 22, also noch jung und schön, heute nur noch...aber lassen wir das. Heinz Nixdorf, er lebt nicht mehr, fand mich damals schon nicht sehr ansehenswert. Doch das ist eine ganz andere Geschichte. Aber zumindest traute man mir in seiner Firma als Bankkaufmann das Rechnen, wenigstens das kaufmännische Rechnen soweit zu, daß ich die Kreditorenbuchhaltung übernehmen durfte. Kopfrechnen war da weniger gefragt, obwohl der Computer auch bei "Computer Nixdorf" noch nicht Einzug gehalten hatte. Geschrieben wurde noch mit Hand und auf vielen Zetteln und gebucht mit dem althergebrachten "Amerikanischem Journal" an einer riesigen Buchungsmaschine. Das Unternehmen stellte zu dem Zeitpunkt Kassensysteme und Bankenterminals her. 


Aber auch, wenn Heinz Nixdorf für die Zukunft stand, so waren ihm doch die "handwerklichen, geistigen Grundkenntnisse" bei den Mitarbeitern immer sehr wichtig.Na gut, in einigen Dingen übertrieb er es, doch davon will ich hier nicht erzählen. Was sich vor einem Jahr im Nixdorf-Museumsforum abgespielt hat, hätte ihn jedoch sehr begeistert. Dort fand nämlich die "Weltmeisterschaft im Kopfrechnen" statt. Das ist dann allerdings nicht mehr meine Welt. So ist der Bulgare Kaloyan Geshev Meister im Wurzelziehen und zieht  die dritte Wurzel aus einer 18- bis 21-stelligen Zahl. Natürlich im Kopf. Also ich habe schon mit meinen Blumenwurzeln Schwierigkeiten, von anderen gar nicht zu reden.


Immerhin versucht diese Stadt hier mal zu zeigen, daß es noch mehr kann als Liborikirmes. Leider fand dann die Entwicklung der Computer AG nach dem Tod von Heinz Nixdorf - Herzinfarkt auf der Mese in Hannover - sehr bald ein Ende. Heute erinnern lediglich noch Straßennahmen, ein Museum und Bereiche an der Uni an das Unternehmen, welches aufgesplittert und in anderen Händen ist. Nur Libori überlebt hier eben alles. Für Heinz war das allerdings nicht einmal ansatzweise ein Thema. Wahrscheinlich hätte er Libori inzwischen auch die Wurzel gezogen.
 

Doch davon abgesehen, ist Kopfrechnen ja eine eigene Leistung, nichts, was eine Maschine, ein Computer erledigt, nichts, was wir nur einfach übernehmen. Und ja, auch die Idee von einem Computer ist irgendwann einmal im Kopf eines Menschen und durch seine Leistung, sicherlich auch durch Kopfrechnen entstanden. Allerdings sind wir nunmehr dabei, unseren Kopf viel zu oft auszuschalten und uns von etwas Technischem dominieren zu lassen. Daher sollten wir so eine Weltmeisterschaft zum Anlaß nehmen, wenigstens darüber nachzudenken, wieder die Oberhand über uns zu gewinnen. Denn eins dürfen wir nie vergessen: Ohne den Menschen kann der Computer gar nichts.


Jetzt ziehe ich die dritte Wurzel aus meinen vielen geäußerten Gedanken. Wozu auch immer diese Zahl dann nutzbar ist. Wußte schon immer, daß Mathe keine sinnvollen Ergebnisse liefert. Auch gezogene Wurzeln sind anschließend unbrauchbar, was schon jeder Zahnarzt weiß. 







Reste des Lebens

Gestern stand Laub zusammenfegen auf dem Programm, mit einem kleinen Handfeger, auf eine kleine, rote Schaufel. Ja, Handfeger sagte man früher immer, hol mal den Handfeger.Da gab es noch keinen Staubsauger. Was hat man damals eigentlich mit dem Staub auf dem Teppich gemacht ? Stimmt, den mußte man draußen ausklopfen. Und dann flog der Dreck wieder durchs offene Fenster in die Wohnung zurück. 


Darf man das Laub, die Blätter, eigentlich über die Brüstung des Balkons nach unten werfen, oder muß es in die Mülltonne, natürlich in die grüne? Doch dann kam mir der Gedanke, daß es ja eigentlich gar nicht mein Laub ist, daß es gar nicht mir gehört, es ist das Laub des großen Baums vor meinem Balkon, der im Augenblick nackt dort steht. Es ist einfach von ihm zu mir herübergeweht und hier liegengeblieben.Doch wie soll ich es ihm zurückgeben ? An den Ästen hat es keinen Halt mehr. Und wenn ich es nach unten werfe, auf das Beet, in dem er steht, dann ist es wenigstens wieder bei ihm. Bis die Gärtner von der Stadt kommen und es einsammeln. Und dann landet es in der grünen Tonne. Natürlich nicht in meiner, aber am Ende vielleicht auch dort, wo meine Tonne entleert wird.


Ein bißchen ist es mit den Blättern, wie mit den Worten, die einem draußen von fremden Menschen zuwehen. Sie sind nicht für mich bestimmt, aber landen bei mir. Auch sie kann ich nicht zurückbringen. Aber für sie gibt es auch keine Tonnen. Wörter fallen einfach in ein Nichts und sind verschwunden, es sei denn, sie landen in meinem Gedächtnis. Vielleicht ist das auch so eine Art grüne Tonne. Erinnerungstonne. Die Blätter erinnern mich an den Sommer, den vergangenen. Die Wörter im Gedächtnis an eine vergangene Zeit meines Lebens. Und Erinnerungen wirft man nicht einfach weg.


Nun, mit dem Wegwerfen ist es ja sowieso so eine Sache. Manchmal sehe ich auf der Straße eine Verpackung , zerrissen, zertreten. Und dann stelle ich mir vor, wie sie wohl neu ausgesehen hat. Von Menschen mit Sorgfalt hergestellt, hat sie irgendjemand, mit Inhalt gefüllt gekauft, sein Geld dafür ausgegeben, sie gut behandelt, vorsichtig geöffnet, damit sie nicht zerreißt. Sie gehörte ja ihm, er hat sich gefreut, sie erworben zu haben. Und nun liegt sie unbeachtet dort am Boden, wird mit Füßen getreten, von Regen durchweicht, wie die Blätter von dem Baum. Mit uns geschieht es nicht genauso, doch irgendwie gleicht es sich trotzdem. Alles landet quasi in einer "Tonne".

Jetzt liegt das Laub, der Rest des letzten Sommers, in meiner Mülltonne. Man kann ja nicht alle Blätter aufbewahren. Alle Wörter auch nicht. Alle Menschen auch nicht. Und zurückgeben, als Rest des Lebens kann man sie auch nicht.






Ein Wort zu Weihnachten

 

Nein, Weihnachten hat für mich persönlich von der religiösen Seite her keine Bedeutung mehr, aber als Augenblick der Ruhe, des Innehaltens, des Nachdenkens, des Einfach-Nur-Ich-Seins könnten diese Feiertage vielleicht ein neues Sein erlangen. Oder bin ich jetzt ganz einfach nur nostalgisch? Kommen hier Gefühle in Kontakt mit der Wirklichkeit? Gefühle und Vernunft. Das ist ja kein Gegensatz, denn ohne Vernunft wären die Gefühle doch gleichsam blind und die Vernunft ohne Gefühle etwas Lebensfernes.

Der atheistische Sartre hat in seiner deutschen Gefangenschaft ein Weihnachtsstück geschrieben, in dessen Mittelpunkt ein Widerstandskämpfer steht, der später ums Leben kommt, weil er der flüchtenden "Weihnachtsfamilie" bei der Flucht hilft. Es könnte im Jetzt nicht passender sein. Vernunft und Gefühle, beides benötigen wir heute mehr denn je.

Was ich meine, wir sollten diese Augenblicke nutzen, um uns dem eigenen Sein in Freiheit, aber auch in Ehrlichkeit wieder zu nähern, um die eigene Wahrheit mal wieder zu betrachten.

Eigentlich wollte ich heute einen Spaziergang durch die Natur machen und mir dabei vorstellen, ich liefe durch ein Bild, aber der Regen, der jeden Nachmittag neu zu uns hereinzieht, wie es im Wetterbericht immer so schön heißt, hat mich davon abgehalten. Ich wollte mich von ihm nicht durch die Gegend schieben lassen. Ach ja, wie sagte doch vorhin einer dieser Meteorologen: "In der kommenden Nacht sinken die Temperaturen auf drei bis fünf Grad. Das liegt an der kalten Luft." Das ist doch mal eine Erkenntnis, über die sich lohnt nachzudenken. Wie können wir diese kalte Luft stoppen, damit sie die Temperaturen nicht weiter nach unten treibt. Aber noch eine ganz andere Frage stellt sich mir in diesem Moment: Welchen Beruf hätte dieser Meteorologe besser ergreifen sollen ?

Überhaupt, jetzt kommen sie wieder alle zum Vorschein, die Menschen des Jahres, in den unzähligen Jahresrückblicken. Die politisch und gesellschaftlich Gestorbenen und die wirklich Toten. Und die Helden dieser Welt, die meistens bis heute nicht wissen, was sie warum richtig gemacht haben. Vor allen Dingen hat man immer das Gefühl, daß hier ein Zeitraum abgeschlossen ist, ein Rucksack, in den man zwölf Monate Sachen gepackt hat, die einem gerade vor die Füße gefallen sind, noch einmal durchgesehen wird, um dann im überfüllten Keller gelagert zu werden. Und nun beginnt eine neue Reise und man kann wieder von vorne seiner Sammelleidenschaft frönen.
Aber so funktioniert Leben nicht.Leider nicht. Da gibt es keine abgeschlossenen Zeiträume, kein gestern, kein heute, kein morgen. Da fließt alles ineinander über und fließt immer weiter. Ich kann das Leben nicht alle zwölf Monate zurück auf Null stellen. Und Helden gibt es milliardenfach, denn jeder Mensch ist der Held seines eigenen Lebens. 

Da habe ich doch neulich einen kleinen Jungen gesehen, der zwar ängstlich, aber dann doch kräftig zupackend und mit einem Ruck an sich reißend aus der Hand eines Weihnachtsmannes, der vor dem Kaufhof stand, einen Luftballon entgegengenommen hat. Das war heldenhaft!
Ganz nebenbei, seit wann verteilen Weihnachtsmänner Luftballons ? Wobei dieser wohl selber noch gerne damit gespielt hätte, denn vom Aussehen her brauchte er von der Mutter noch eine Entschuldigung für die Schule, weil er für den Job den Unterricht hat ausfallen lassen. Also maximal war es ein Student im ersten Semester. Ich kenne diese Bartträger noch als alte, weise Männer mit Vernunft und Gefühl, die einen alten Schlitten hinter sich herzogen und sich nicht von Heliumballons der Galleria Kaufhof in die Arme junger Mütter treiben ließen. Aber genau das ist es, wir lassen uns viel zu sehr treiben von allen möglichen Dingen,von der Technik, von den Medien, von der allgemeinen Meinung, von der heutigen Zeit. Was ist das eigentlich "die heutige Zeit"? Sie, die Zeit, hat sich eigentlich nicht verändert, nur wir haben uns verändert und machen nun die Zeit dafür verantwortlich.

Weihnachten hatte auch vor fünfzig und mehr Jahren nicht nur einen religiösen Hintergrund, asondern auch einen anderen gesellschaftlichen. Man nutzte diese Tage, zumindest in der Mehrheit der Gesellschaft, für Augenblicke der Ruhe, des Nachdenkens, der Besinnung auf sich selbst. Für eine Pause in den Alltagsproblemen. Die gingen zwar auch damals unverändert weiter, aber man hatte die Chance, neu durchzustarten. Vielleicht doch einen neuen Rucksack zu packen, der zwar nicht leer war, aber in dem wieder Platz geschaffen wurde.








Sprich mit mir !

 

Es war an einem Dienstag, als ich in den Bus einstieg und nach einem freien Platz ausschaute. Da war noch ein Doppelsitzer.Vor mir saß eine junge Mutter, ein kleines Mädchen, noch Baby, auf dem Arm, den Kinderwagen neben sich und auf ihrer anderen Seite stand ein Junge von ungefähr vier oder fünf Jahren auf dem Sitz. Ein Blick in sein Gesicht zeigte mir, daß er wohl das Schicksal von einem mir bekannten Mädchen namens Johanna teilte. Down Syndrom.
Kaum hatte ich mich gesetzt und ihm kurz zugelächelt, begann er Kontakt mit mir aufzunehmen. Er zeigte mit seinen kleinen Fingern nach draußen und erzählte mir etwas in seiner eigenen Sprache. Kleinigkeiten verstand ich. Erfahrung von Johanna. Eine Geschichte, in der Autos auf jeden Fall eine Rolle spielten. Aufmerksam hörte ich ihm zu und versuchte, an den richtigen Stellen Antworten zu geben.

Nach einer Weile beugte er sich zu mir rüber und seine Hände zeichneten das Muster an meinem Hemd nach. Da schaltete sich die Mutter ein und wollte ihn zurückhalten. Aber ich gab ihr zu verstehen, daß alles in Ordnung sei und sie ihn gewähren lassen sollte, denn die Streifen des Hemdes waren inzwischen zu Straßen und die Knöpfe zu Kreisverkehren geworden. Phantasie hatte sich seiner bemächtigt und ich dachte an meine erste Fahrschulstunde. Unterhaltung auf zwei verschiedenen Ebenen, aber sie funktionierte.

Inzwischen war eine Frau mittleren Alters eingestiegen und besetzte den freien Platz neben mir. Ihr Blick ging kurz zu dem Jungen, der ihr sofort etwas erzählte, was sie natürlich nicht verstand. Was folgte, war eine Reaktion, die mich noch heute den Kopf schütteln läßt: Ihr Augenkontakt wechselte ruckartig zu dem kleinen Baby, welches von da an ihre einzige Aufmerksamkeit erhielt.
Gespielte Kinderfreundlichkeit. Nicht der Kinder, sondern der Umgebung wegen. Ohne jedes Verstehen, ohne jedes Verstehen wollen.

Zwei Haltestellen vor mir stieg die Mutter mit den beiden Kindern aus. Der Junge blieb einen Augenblick im Gang stehen und sagte zu seiner Mutter gewand: Mann aussteigen. Sie machte ihm klar, daß ich noch weiter fahren müßte. Ausstieg. Dann ein letzter Blick durch die schmale Öffnung der sich schließenden Türen. In dem Moment sah ich Johanna. Den Namen des Jungen kenne ich nicht. Für mich heißt er Johannes.

Ein paar Minuten blieben mir noch, meine Gedanken zu ordnen. Sie reichten zurück bis zur Kennenlernphase von Johanna, an mein Kennenlernen. Ich mußte lernen!
Und Johannes ? Hat er verstanden, daß ich ihn verstanden habe ?
 Früher mußten wir Aufsätze über unsere Erlebnisse schreiben. Diesen hätte ich genannt: Mein schönstes Buserlebnis. Und die Frau neben mir ? Sie hat das ihrige verpaßt.

Und dann höre ich immer wieder den Satz: Die Kinder sind unsere Zukunft. Richtig, aber wie diese Zukunft aussieht, bestimmen wir durch unser Verhalten gegenüber den Kindern, durch das, was wir ihnen lehren. Ihnen allen. Auch jeder Johanna und jedem Johannes. Wer Kinder nicht nur in Schulklassen einteilt, sondern auch ihn gesellschaftliche, hat ihnen nie zugehört und sie nie verstanden. Geld alleine schafft keine bessere Zukunft, dies können nur die Kinder von heute, vorausgesetzt, wir hören ihnen zu, geben ihnen eine Chance. Und zwar allen.

Sie haben uns Wichtigeres zu sagen, als viele Erwachsene.







Boaaah


Ja, das ist eine der vielen Geschichten, die mir von meiner Mutter in Erinnerung geblieben ist. Eine Woche vorher hatte sie ihren hundertsten Geburtstag gefeiert  und drehte nun wieder wie  jeden Tag mit ihrem Rollator in einem Kurpark ihre Runden.

 

Schon fast wieder zu Hause, kam ihr plötzlich ein kleiner Junge entgegen, blieb direkt vor ihr stehen und fragte sie :

Wie alt bist du ?
Meine Mutter, ziemlich verdutzt, hat ihm aber wohl ihr Alter genannt, was der Junge mit einem "Boaaah" quittiert und weitergelaufen sei, nachdem er noch freundlich "Einen schönen Tag" gerufen habe.

Eine tolle Geschichte, finde ich, auch wenn meine Mutter nicht recht wußte, wie sie das Geschehen einordnen sollte.
Dieser Junge hatte sich über einen Menschen, der ihm begegnete Gedanken gemacht und auch keine Scheu gezeigt, seinen Wissensdurst zu befriedigen. Dabei wurde sein vorher Gedachtes wohl, wie der Ausruf zeigt, weit überboten. Und außerdem ging es auch noch über seine Vorstellungskraft hinaus. Die eigenen Eltern sind für so ein Kind ja schon ziemlich alt, die Oma oder der Opa in einem noch schwerer vorstellbarem Alter und nun dies. Eine Zahl von einem anderen Stern, die ihn sicherlich noch lange beschäftigt hat, vielleicht auch noch zu einem Gespräch zu Hause führte. Für das Kind war etwas geschehen, es hatte eine außergewöhnliche Erfahrung gemacht. Einfach nur durch sein Fragen.

 
Warum fragen wir eigentlich nicht viel öfter ? Es wäre jedesmal der Anfang für neue Gedanken.

Denn jede Zukunft beginnt mit einer Frage.

Und wer so nett und freundlich auf eine andere Person zugeht wie der kleine Junge, bekommt auch eine Antwort. Vielleicht würden auch wir dann ab und zu etwas erfahren, das uns erstaunend ausrufen ließe : Boaaah !






Sesam, öffne dich !

 

An einem der letzten Tage unternahm ich mal wieder einen Rundgang von der Leostraße über die sogenannte Südstadt zurück zu meiner Wohnung. Wenn ich ganz gemütlich gehe, bin ich etwa eine Stunde unterwegs. Da ich heute wohl etwas schneller war, überredete ich mich noch zu einem kleinen Umweg über die Karlstraße.


Etwa zweihundert Meter von zu Hause, ich war schon in der Leostraße, an der immer eine Reihe Autos parken, kam plötzlich ein kleiner Junge hinter einem dieser ruhenden Fahrzeuge hervorgesprungen und blieb, während eine junge Frau, wahrscheinlich die Mutter, sich im vorderen Teil des Wagens zu schaffen machte, vor mir stehen. Hocherfreut und ganz selbstsicher sah er zu mir auf und rief: „Ich habe den Kofferraum aufgemacht."


Warum und wie blieb genauso ungesagt, wie der Grund für seine unheimliche Freude, da er gar nicht aufhörte, den Satz „ich habe den Kofferraum aufgemacht“ mir gegenüber zu wiederholen. Er sprudelte geradezu aus ihm heraus. Allmählich begann auch die Mutter etwas zu lächeln. Da ich mich nicht weiter einmischen wollte, lobte ich den Jungen einfach. „ Super, was du alles kannst, du großer Kofferraumaufmacher“. Er lachte noch einmal und lief zu seiner Mutter, während ich meinen Weg nach Hause fortsetzte.

Irgendwie war diesem Kind wohl etwas gelungen, was es selber von sich nicht erwartet hatte. Das passiert uns Erwachsenen ja manchmal auch, aber können wir noch so außer Rand und Band geraten vor lauter Freude darüber ? Was würde geschehen, wenn wir in so einer Situation auf irgendjemanden zugehen und ihm freudig erregt von unserer „Tat“ erzählen würden ? Eine Antwort will ich auf diese Frage lieber nicht geben. Doch eins ist sicher: Wir alle haben im Laufe unseres Lebens etwas verloren : Das spontane Wir-selbst-sein. Wir spielen nur noch Rollen. Auch vor uns selber.


Und dabei gibt es doch auch bei jedem von uns so viele Kofferräume, die wir öffnen könnten. Marcel Reich-Ranicki hat in einem Gespräch mit Peter von Matt gesagt: Gute Literatur ähnele einem Koffer mit einem doppelten Boden. Das gilt auch für die Kofferäume in uns. Und bestimmt kennt auch jeder jemanden, der sich über das Öffnen freuen würde. Wir müssen nur den Mut haben, es ihm freudestrahlend zu sagen.

Jetzt mache ich den Kofferraum zu.Vielleicht trifft irgendjemand ja ebenfalls den großen Kofferraumaufmacher. Der kennt bestimmt auch den doppelten Boden. Sagt mir dann, was ihr entdeckt habt.







Marionetten  

 

Da sitze ich nun neben meiner Schreibtischlampe, die zwar einen kleinen Dachschaden hat - oben aus dem Schirm ist ein winziges Stück herausgebrochen - aber sonst ihren Anforderungen voll genügt. An der Lampe vorbei, nicht durch das Loch,  kann ich durch das Fenster das Geschehen draußen vor der Disco beobachten. Da ab 23 Uhr Einlaß ist, trudeln nach und nach die Jugendlichen dort ein. Die meisten kommen in Gruppen aus der Stadt, wo sie sich in diversen Lokalen auf die Nacht vorbereitet haben. 


Und während auf einer Bank unter einem größeren Baum, schon ein Pärchen kuschelt, steht nebenan ein Mädchen, dessen Alter durch die Dunkelheit nicht abzuschätzen ist und tanzt mit ihrem Handy, so als wolle sie den beiden Jungen vor ihr klarmachen, daß sie diese eigentlich gar nicht benötige. Jedenfalls nicht zum tanzen. Bei einer anderen kleinen, gemischten Gruppe herrscht lautstarkes Gelächter. Würden sie sich von hier sehen, wüßten sie, worüber sie lachen. 

Hinter den Bahnschienen zwischen Kiosk und Imbiß zwei Jungen, die intensiv in etwas hineinbeißen, wahrscheinlich Döner oder dergleichen. Eine vorbeiziehende Mädchengruppe, alle mit Blick auf ihr Handy,  scheinen sie zu ignorieren. Die Speise in ihren Händen ist erst mal wichtiger. Außerdem kostet sie keine Eintrittskarte oder irgendein Getränk.  "Angebot" steht auf dem Schild am Imbiß: 3 Euro. Und das muß für das leibliche Wohl genügen. Schließlich will man sich ja auch noch etwas für das weitere Leben aufsparen.


Aber überlassen wir die Jugend des 21sten Jahrhunderts ihrem Vergnügen. Ein knappes Jahrhundert früher beschäftigten sie sich in diesen Altersgruppen noch mit ganz anderen Dingen. Vor-in und nach dem Krieg natürlich zwangsläufig. Neulich war ich bei einer Lesung des Autors Thomas Hettche, der aus seinem Buch "Herzfaden" gelesen hat. Da geht es hauptsächlich um die Entstehungsgeschichte der "Augsburger Puppenkiste", aber auf anderen Ebenen auch um die gesellschftlichen, politischen Verhältnisse und besonders um die Frage, wie Kinder und Jugendliche damals groß geworden sind.


Und während Hatü oder Hannelore, die Tochter des Erfinders der Puppenkiste, Holzpuppen für das Theater schnitzte, um diese in ihrer Phantasie und auf der Bühne später zum Leben zu erwecken, versucht man heute das im Internet Vorgeführte im Leben nachzuspielen. Irgendwie alles gleich, nur auf anderen Ebenen und in einer Freiheit, die man damals noch nicht kannte.

 

Und so hängen sie heute in ihrer Freiheit als Marionetten an den Fäden der Smartphones. 

Die Puppenkiste lebt.



Tierische Begegnung

Da habe ich oft von Menschen geschrieben, die mir zufällig irgendwo begegnet sind. Neulich kamen mir welche in grünen Jacken entgegen, die hinter anderen mit einer Blechtrommel hergelaufen sind. Nein, Günter Grass war nicht dabei. Hier war nur mal wieder Schützenfest. Doch nicht immer haben Menschen meine Aufmerksamkeit beansprucht, manchmal auch andere Lebewesen.


Donnerstag steht über meinem Gedächtnisprotokoll. Es muß gegen 17 Uhr in der Mallinckrodtstraße gewesen sein, kurz hinter einem ehemaligen Sportplatz, heute ein kaum genutzter Bolzplatz mit zwei erbärmlich aussehenden Toren und zwei Bänken dahinter. Bei Sonnenschein und Ruhe ein wunderbares Plätzchen, das nur oft auch von lärmenden Personen beansprucht wird. Dann gehe ich, wie an jenem Tag, mit einem "schade" vorbei. Ein paar Meter weiter an der Straße zwei alte, große Bäume. Genau dort wurde ich zum Anhalten gezwungen, weil ein Eichhörnchen die Fahrbahn überquerte, einen der Bäume ansprang und in Höhe etwa meiner Körpergröße innehielt. Ganz ruhig, nur unauffällig atmend, blieb ich ungefähr zwei Meter vor dem Baum stehen. Meine linke Hand bewegte sich extrem langsam, kaum von mir selber bemerkt, in die Tasche meiner Jacke, wo sich wie fast immer auf meinen Spaziergängen der kleine Photoaparat bereit hielt. Was ich kaum bemerkte, galt allerdings nicht für das Eichhörnchen. Es wackelte hin und her und schaute abwechselnd zu mir und zur Spitze des Baums. Beim Menschen, so dachte es wohl, weiß man nie, ob Freund oder Feind. Und dann immer diese seltsamen Geräte in seinen Händen. Ich nehme lieber den Weg nach oben. Mir dahin zu folgen, scheint er mir nicht geeignet.


Ja, Gedanken. Sind sie nur bei uns vorhanden oder in vielleicht anderer Form auch beim Tier, bei anderen Lebewesen ? Wie auch immer, den Satz von der Krone der Schöpfung oder besser, der Natur, mag ich nicht unterschreiben. Er stammt ja schließlich auch nur von einem Menschen.


Jedenfalls habe ich mein Photo nicht bekommen, dafür aber einen gedankenvollen Heimweg. Und das ist viel wertvoller als ein Bild.

Und nun stelle man sich einen alten Mann, mal nicht denkend, ganz oben im Baum vor, vom Eichhörnchen bewacht. Bis ich da wieder runter komme.



Wo wohnt der Igel ?

Demnächst fahre ich übrigens mal wieder ins Badische. Werde dort unter anderem natürlich wie immer viele Spaziergänge in den Weinbergen unternehmen. Dunkle und helle Trauben, an beiden Seiten des Weges leuchten sie mir entgegen. Und wenn ich mich umdrehe, der wunderschöne Blick über das kleine Städtchen unter mir. Vorne schlängelt sich der Weg unaufhörlich nach oben. Was sagst du ? Ach so, du warst auch schon dort. Dann kennst du die schönen Wanderwege ja. Ach, die mußtest du meiden, weil dort die Sonne immer den Bildschirm deines Smartphones blendete. Und die Bank oben am Gipfel, vor einem kleinen Busch, hinter dem die Weintrauben reifen und man einen wunderbaren Ausblick hat, bis hinüber nach Frankreich ? Daran kannst du dich nicht erinnern. Deine Freunde hatten dir so viel zu erzählen, da mußtest du erst mal antworten. Schade, dann hast du auch das Gespräch der Grashalme und Reben verpaßt. Ja, auch die unterhalten sich, wenn man genau hinhört. Und nebenbei habe ich im letzten Jahr noch gesehen, wie die Weintrauben geerntet werden, wie sie vorsichtig in die Hände der Männer und Frauen gleiten und behutsam in Behältern bis zum Weitertransport abgelegt werden. Und ein Erntehelfer erzählte mir, wie man sie zu Wein weiterverarbeitet.Das habe ich mir dann gleich mal in einer Weinkellerei angesehen. Und am Abend, bei einem kleinen Gläschen mit dem Getränk, erschienen vor meinem geistigen Auge wieder die Trauben am Berghang neben meinem Wanderweg.

Leider ist dir dann auch die Frage des kleinen Mädchens entgangen, das mit ihrer Oma an der Bank vorbeiging. "Oma, wo wohnt der Igel ?" Die Oma überlegte einen Augenblick und erklärte dann:" Der wohnt in Büschen". Schnell schaute ich mich um, ob im Busch hinter der Bank sich auch einer eingerichtet hatte. War wohl gerade nicht zu Hause. Wo wohnen eigentlich deine Freunde ? Du meinst, bei Facebook. Gibt es da auch grüne Büsche und Reben und Gräser und Wälder ? Ach so, da kommt sowieso kein Igel hin.

Egal, jedenfalls haben das kleine Mädchen und ich etwas gelernt: Igel wohnen in Büschen. Toll, daß ich mich da hingesetzt und aufgepaßt habe. Gleich werde ich den Rückweg auf der anderen Seite des Hügels antreten. Mal abwarten, was es dort noch zu entdecken und zu lernen gibt. Bin schon sehr gespannt. Gerne würde ich dich ja mitnehmen, aber ich habe gerade gehört, daß du schon wieder eine Nachricht bekommen hast. Da mußt du natürlich erst antworten. Bestimmt wichtig. Was? Ein Freund hat sich gerade eine Pizza bestellt. Super, das kannst du jetzt all deinen anderen Freunden erzählen. Ich gehe schon mal, vielleicht bekomme ich noch zu sehen, wie ein Igel nach Hause kommt oder beobachte nebenbei andere aufregende Dinge. Eventuell begegnet mir sogar das kleine Mädchen mit seiner Oma wieder. Das hat bestimmt noch ganz viele Fragen.

Unsere Welt hier draußen hat uns ja so viel zu erzählen.

 

 

                                                               ...........Für Mo

            




Mein Ich              

Da stand ich nun unentschlossen mit der Frage an mich vor der Tür, ob ich es noch wagen könne einen kleinen Rundgang zu machen. Der Blick nach oben zeigte mir eine schwarze Wolke, die sich langsam aber unaufhaltsam näherte. Irgendwie kam sie mir bekannt vor, aber Wolken sehen sich oft ähnlich. Außerdem, so erklärte ich mir sogleich, begegnet einem dieselbe Wolke nie zweimal im Leben. Schwarze Wolken, weiße Wolken, unzählige sind schon über mir hinweggezogen. Die einen freundlich, andere, indem sie ihre Ansammlung von ganz kleinen Wassertröpfchen über mir abgeladen haben. Und wieviel unterschiedliche Wolken es gibt: Schäfchenwolken, Schleierwolken, Haufenwolken, Gewitterwolken, Regenwolken. Und jede dieser Wolken ist wieder verschieden. Also fast so wie bei den Menschen.

Weder die Anzahl der Wolken, noch die Anzahl der Menschen denen ich begegnet bin, ist mir bekannt. Und von vielen Menschen glaube ich, sie schon einmal gesehen zu haben. Ähnlich wie bei den Wolken. Wievielen Menschen begegnen wir eigentlich täglich ? Wieviele laufen an einem vorbei, neben einem her, wieviele sehen wir durchs Fenster, beobachten wir vielleicht ? Nein, ich habe sie nie gezählt, kann es und will es auch nicht. Aber neulich auf einer Bank überlegte ich mir zumindest, was einzelne Personen, die gerade an mir vorbeigehen,  wohl jetzt vorhaben, wohin ihr Weg führt, ja, was sie in diesem Moment denken, eventuell auch über mich hier auf der Bank.Was wäre, wenn ich jetzt aufstehen und in einen dieser Menschen hineinschlüpfen könnte, nur für einen Tag ? Aber mit all seinen Gedanken, seinem Handeln, eben für einen Tag er sein können. Und doch in meinem Bewußtsein bleiben, morgen wieder ich sein. Und hier an der Bank würde ich mir selber begegnen. Mit den Gedanken von jenem Mann, der soeben da vorne links in die schmale Gasse eingebogen ist.

Auf dem Rückweg: Gerade hatte ich die Straßenseite gewechselt, weil drüben, zumindest lückenhaft, die Sonne schien, als ich vor mir eine Frau mit einem Hund sah, die irgendetwas in ihr Auto verstaute. Beim langsamen Näherkommen bemerkte ich, daß es der Hund war, den sie versuchte, ins Innere zu befördern. Doch bevor sie einstieg, lächelte sie mich an und sagte: Eben wollte ich sie begrüßen, weil ich sie für jemand anderen gehalten habe. Grüßen sie ruhig, antwortete ich und wünschte ihr noch einen schönen Tag. Doch beim Weitergehen überlegte ich, ob ich nicht doch die andere Person sei, die die Frau grüßen wollte. Vielleicht war ich -in diesem Moment zumindest- gar nicht ich, sondern das Nichtich. Vielleicht der junge Mann, der vor mir in jene schmale Gasse eingebogen war. Mit wem hatte die Frau mich verwechselt ? Was hatte ich gemeinsam mit diesem Menschen ?

So viele unterschiedliche Menschen. Und doch haben sie alle etwas gemeinsam. Wie die Wolken über uns.



Angekommen ?         

Es ist ein Freitag während der letzten Septembertage in meinem jährlichen Urlaubsort. Also genau genommen bin ich jedes Jahr zweimal dort. Vielleicht spricht man im Ort auch schon über mich, den alten Mann mit einem Buch auf einer Bank. Der ist auch beim Bäcker um die Ecke bekannt. Selbst, wenn er mehrere Monate nicht aufgetaucht ist. Das junge Mädchen hinter der Theke lächelte gleich am ersten Tag, nahm eine Tüte in die Hand und stellte nur die Frage: Wieder zwei Rosenbrötchen ? Da ich sie erstaunt ansah, gab sie nur zur Antwort: Habe ich noch so in Erinnerung. Das gab mir dann doch zu denken, da mein letzter Einkauf dort vor etwa vier Monaten stattgefunden hatte. Gut, ich mache auch manchmal gerne einen Scherz, wie: Es dürfen auch Tulpen sein. Aber wieviel tausend Kunden hat sie in der Zwischenzeit schon bedient ? Und warum bin ausgerechnet ich jemandem im Gedächtnis geblieben ? Selbst die Nachbarn von meiner Ferienwohnung winken mir schon aus dem Garten zu, obwohl doch reichlich Gäste dort jedes Jahr auftauchen. Und eine ältere Dame am Kiosk, wo ich immer eine Ansichtskarte – ja, die gibt es noch - aus dem immer gleichen Bestand herausfische, begrüßt mich jeweils mit der Feststellung: Schön, daß sie wieder da sind. Aber das wollte ich alles gar nicht erzählen. Also zurück zu jenem Freitag.

Einen Rundgang, kreuz und quer durch die Gegend hatte ich schon hinter mir und beabsichtigte nun, den Weg hinauf zu den beiden Bänken am Weinberg zu nehmen. Aber irgendwie war es mir an diesem Tag für einen Aufstieg zu heiß und so beendete ich meine Wanderschaft an der Lieblinksbank wie eine "Reiterin" immer sagt, wenn sie vorbeikommt. Dort unten, wo es früher Hühner, später Rehe gab. Inzwischen ist es hinter der Bank verwaist. Da ich ja immer ein Buch in der Tasche habe, begann ich auch gleich zu lesen. Es waren höchstens zwei Seiten, als plötzlich ein Radfahrer, nach meiner Schätzung so um die fünfzig Jahre, stoppte und eine "Unterhaltung" begann.

"Was lesen sie da ?" - "Kurzgeschichten von Heinrich Mann" - "O, Heinrich Mann, schreibt der auch Kurzgeschichten ? Mein Bruder liest auch viel. Ich kann das nicht. Er hat auch studiert. Das kann ich auch nicht. Selbst bei der Zeitung kann ich höchstens die Überschriften lesen. Mein Bruder liest auch Spiegel und sowas. Das kann ich auch nicht."

So ging das noch eine ganze Zeit weiter, indem er mir erzählte, was sein Bruder alles lesen kann, aber er nicht. Warum es ihm nicht möglich ist, habe ich bis heute nicht erfahren, weil ich gar nicht zu Wort kam und er sich nach seiner Erzählung wieder aufs Rad schwang und mit einem Gruß Richtung der Ortschaft entschwand. So blieb ich ratlos zurück. Dabei machte er auf mich gar keinen unwissenden Eindruck. Auch Heinrich Mann war ihm wohl kein Unbekannter. Nur lesen konnte er nicht. Also lesen ansich ist ihm wohl schon möglich, aber keine ganzen Texte, schon gar nicht längere. Schade, gerne hätte ich mich mit ihm darüber unterhalten, zumal ich den Eindruck hatte, daß er es bedauerte.

Nun mal ehrlich, man muß auch nicht alles können, aber es zugeben können, verdient Achtung.

Na ja, vielleicht treffe ich ihn im nächsten Urlaub dort wieder. Dann ist er ja auch schon jemand der mich kennt. Die Anzahl wächst und bald habe ich den Eindruck schon einer von Ihnen zu sein. Zumindest ein Touristenbewohner. Oder besser, ein Lesebankbewohner. Und für einige kein Fremder mehr, wenn er dort auftaucht. Ein lesendes Buch in der Landschaft. Und für mich fällt dabei oft auch noch eine schöne Geschichte ab. Bin ich jetzt schon einer von ihnen und nur zum Urlaub daheim ?

Das ist nun natürlich vollkommen übertrieben, aber dennoch gibt es einem das Gefühl, irgendwie angekommen zu sein.

            

            


Seltsamer Kunde

Jetzt tummeln wir uns doch tatsächlich schon im Monat März, was zumindest für mich bedeutet, daß der Frühling vor der Tür steht. Wie heißt es doch in einem Lied aus vergangenen Zeiten: Im Märzen der Bauer die Rößlein anspannt. Er setzt seine Felder und Wiesen instand. Gut, heute fährt er seinen Trecker zur Demonstration. Egal, es bewegt sich draußen wieder etwas. Die Starre des Winters löst sich auf. 


Übrigens haben sich seit längerer Zeit auch die Weihnachtsmänner - ach nein, die heißen ja jetzt Osterhasen - wieder in den Regalen der Lebensmittelläden eingefunden. Und wie jedes Jahr wurden die Überlebenden der Weihnachtszeit schnell umgekleidet. Es geht eben immer weiter. Ob diese kleinen Männchen und Tierchen demnächst auch sprechen können und uns zuwinken ? Irgendeine App oder KI wird ihnen bestimmt irgendwann künstliches Leben einhauchen. Dann brauchen die Kinder auch keine Ostereier mehr suchen oder auf das Christkind warten. Erscheint alles auf ihrem Smartphone. Und der Homo sapiens kann wieder in seine Höhlen zurückkehren, während draußen die Familie Trump-Storch.....hier endet das schaurige Märchen. Ich will meinen Schokoladen-Osterhasen zurück ! Alexa hilf uns ! Zurück in die Gegenwart. Oder ist sie das womöglich ?


Was ich neulich allerdings in einem Regal mit Eiern, auf einer Verpackung gesehen habe, war kein Weihnachtsmann und auch kein Osterhase. Auch nicht künstlich. Ob intelligent mag ich nicht zu sagen. Aber sehr ruhig die vorbeihastenden Kunden beobachtend, die sie noch gar nicht wahrgenommen hatten. Eigentlich wollte ich zu den Brötchen, doch dann war mir eingefallen, daß ich keine Eier mehr hatte. Also machte ich kehrt und stand jetzt ziemlich ungläubig vor dem Regal mit den verpackten Eiern. Ganz unten die Zehnerpackungen mit Eiern von freilaufenden Hühnern. Stand dort geschrieben. Aber was auf der Packung saß und sich in aller Seelenruhe putzte, war kein Huhn. Nein, man mag es nicht glauben, es war ein ganz kleines Mäuschen. Niemand außer mir beachtete es. Und das Mäuschen fühlte sich dort sichtlich wohl und zu Hause.


Ohne Aufsehen zu erregen habe ich mich zur Obst-und Gemüseabteilung nebenan umgedreht und einen Angestellten herbeigewunken. Ein Fingerzeig von mir in Richtung des seltsamen und sicherlich noch minderjährigen Kunden ließ ihn erschrocken einen Schritt rückwärts gehen, das Telephon aus der Tasche holen und mir zuflüstern: Ich rufe an. 

Um nicht sehen zu müssen, was man mit der Kleinen veranstaltet, setzte ich meinen Einkauf erst mal ohne Eier fort. Erst kurz vor dem Gang zur Kasse vollzog ich dann doch noch einen Schlenker zurück. Dort war alles ruhig. Vom Personal nichts mehr zu sehen und auf den Eierschachteln hockte weder ein Weihnachtsmann noch Osterhase und auch kein Mäuschen. Also schnappte ich mir eine Schachtel in der Hoffnung, daß die Eier wirklich von Hühnern stammten und begab mich zur Kasse. 

Auf dem Heimweg ging mir dann die Frage nicht aus dem Kopf, ob das schon die ersten Frühlingsgefühle der Natur sind. Oder auch schon künstliche Intelligenz ? Frische Eier von kleinen Mäuschen. Güteklasse M. 






Nach oben