Autorenlesungen2022



Deutsche Literatur der Gegenwart

2022


  Gedanken -

                                               beim Zuhören geboren



Felicitas Hoppe - Peter Stamm - Maike Wetzel - Norbert Gstrein - Ulrike Almut Sandig - Marcel Beyer - 

Judith Herman -Kerstin Hensel - Lea Streisand





Felicitas Hoppe 

liest aus „Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm“ – 17.10.2022


Felicitas Hoppe : 

geb. am 22. Dezember 1960 in Hameln. Studium von Literaturwissenschaft, Rhetorik, Religionswissenschaft, Italienisch und Russisch in Tübingen, Berlin und Rom u.a.



Werke unter anderem


1996 erschien ihr Debütroman „Picknick der Friseure“. Seitdem veröffentlicht sie Erzählungen, Romane, Kinderbücher, Feuilletons und auch Übersetzungen, darunter die Romane „Pigafetta“ (1999), „Paradiese, Übersee“ (2003), „Hoppe“ (2012), „Prawda. Eine amerikanische Reise“ (2018), „Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm“ (2021).

Erzählbände, Kinder- und Jugendbücher und Übersetzungen 


Auszeichnungen unter anderem:


Georg-Büchner-Preis 2012

 Erich-Kästner-Preis für Literatur 2015

 Großer Preis des Deutschen Literaturfonds 2020

  Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor 2021

Berliner Literaturpreis  2024


Hoppe hatte Poetikdozenturen in u.a. Wiesbaden, Innsbruck, Göttingen, Washington D.C., Hamburg, Shanghai, Köln und Kassel inne.




Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm


Der Stoff ist unschlagbar: ein Bad in Blut, eine schöne Frau, Gold und ein Mord, der grausam gerächt wird. So klingt das Lied der Nibelungen, die Sage von Siegfried, dem Strahlenden, seinem düsteren Gegenspieler Hagen und der schönen Kriemhild. Aber ist das die wahre Geschichte dieser europäischen Helden, die in Island oder Norwegen beginnt, am Rhein entlang spielt, die Donau runter erzählt wird und schließlich im Schwarzen Meer mündet? Niemand weiß, wie es wirklich war, meint Hoppe und erfindet die Wahrheit. Felicitas Hoppes Roman "Die Nibelungen": Das erste gesamteuropäische Heldenepos der Gegenwart. 



Notizen


Ausgerechnet die Nibelungen mag man sagen, dieses deutscheste Mythos aller deutschen Mythen. Felicitas Hoppe versucht eine neue Herangehensweise, neu an der Oberfläche zu kratzen, wie sie selber sagt. Der Hintergrund des Romans sind die Aufführungen auf der Freilichtbühne der Nibelungenfestspiele in Worms. Doch warum der Untertitel " Ein deutscher Stummfilm" ? Die Autorin erklärt es so: Weil nicht gesprochen, wird alles größer, die Handlung wird durch wenig sprechen charakterisiert, eben durch Handlung. Mittelalterliche Texte sind so. Was man nicht sehen kann, geschieht nicht. Es ist das klassische Stummfilmverfahren. Alles ist im Dunkeln und mit sehr viel Gewalt. Requisieten haben hier die höchste Bedeutung.

Auf drei Ebenen spielt dieser Roman:


1. Die Geschichte selber

2. Eine Stummfilmvariante auf der Bühne

3. Pausengespräche von Darstellern

und schließlich die Metareflexionsebene von Felicitas Hoppe.


Der Roman, so die Autorin, setzt selbstverständlich alle Kenntnisse über den Mythos voraus, denn wenn ich nichts mehr voraussetzen darf, kann ich aufhören zu schreiben.


An einer Stelle dieses Werks heißt es: "Helden sind nicht dazu da, verstanden zu werden." Felicitas Hoppe erklärt diesen Satz auf ihre Art: " Helden sind uns vollkommen fremd, gerade jene aus dem Mittelalter. Auf der anderen Seite sind sie uns unheimlich bewußt, vertraut."

Daran schließt sich eine weitere Frage an. "Was leistet die Literatur im posthistorischem Zeitalter ?"

Felicitas Hoppe:  Literatur kann die Verhältnisse spiegelverkehrt darstellen. Doch die Möglichkeiten der Literatur sind bescheiden, denn ich brauche  Distanz um zu verstehen. Das geht nicht mit der Gegenwart, aber zum Beispiel mit dem Nibelungenlied.

Und was tut der der schreibt ? Wäscht er sich seine Hände in Unschuld ?

Hoppe: Ich war nicht dabei, habe mich nur  in die Betrachtung versenkt.


Am Ende des Romans wird schließlich ein stummer Zeuge vom Anfang zum erzählenden Ich. Zum Chronisten. Der Chronist, so die Autorin, erfüllt immer eine Absicht. Es gibt auch in der Literatur keine absolute Neutralität..


Fazit: Die Autorin hält ihr Werk für nicht befriedigend und auf einer Bühne für nicht aufführbar.



Mein Einwurf


Und was bieten diese Nibelungen nicht alles: Liebe, Verrat, Gier, Betrug, sogar einen Schatz. Und nicht zu vergessen: Ehre und Treue. Angeblich deutsche Tugenden. Deutsche Tugenden. Warum wird dieser Begriff, so frage ich mich, eigentlich als verwerflich angesehen? Nur weil er mißbraucht wurde ? Und muß man Literatur, nur weil sie mißbraucht wurde, verdammen ? Literatur und Sprache sind nicht die Täter, sondern die, die sie mißbrauchen.  Außerdem gibt es fast unzählige verschiedene Fassungen. Das Nibelungenlied aus dem Mittelalter. Eigentlich kein Lied im heutigen Sinn, sondern ein Epos. Ein Heldenepos.


Jedenfalls regt dieses Werk mich in mehrfacher Hinsicht zum Nachdenken an.  Und zwar über Literatur und Sprache. Und über das Schreiben. Vielleicht sind auch Autoren nicht dazu da, verstanden zu werden, aber um anzuregen, über das Nichtverstehen nachzudenken.






Peter Stamm

liest aus „Das Archiv der Gefühle“ – 24.10.2022


Peter Stamm

 geb. am 18. Januar 1963 in Scherzingen, Kanton Thurgau, Schweiz


Nachdem Stamm 1987 ein halbes Jahr Anglistik an der Universität Zürich studiert und anschließend ein halbes Jahr in New York gelebt hatte, wechselte er das Studienfach auf Psychologie mit Psychopathologie und Informatik als Nebenfach. Nach längeren Aufenthalten in New York, Paris und Skandinavien ließ sich Peter Stamm 1990 in Winterthur nieder. Hier war er vor allem als Journalist tätig, Stamm arbeitete unter anderem für die Neue Zürcher Zeitung, den Tages-Anzeiger, die Weltwoche und die satirische Zeitschrift Nebelspalter. Seit 2003 ist Stamm Mitglied des Verbandes Autorinnen und Autoren der Schweiz und lebt wieder in Winterthur.



Werke unter anderem:

 

Weit über das Land. Roman, 2016

Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt. Roman, 2018

Wenn es dunkel wird. Erzählungen, 2020

Das Archiv der Gefühle. Roman., 2021



Auszeichnungen unter anderem:

 

Johann-Friedrich-von-Cotta-Literaturpreis der Landeshauptstadt Stuttgart, 2017

Schweizer Buchpreis, 2018



Das Archiv der Gefühle


Die Sängerin Fabienne heißt eigentlich Franziska, und es ist vierzig Jahre her, dass sie eng befreundet waren und er ihr seine Liebe gestand. Fast ein ganzes Leben. Seitdem hat er alles getan, um Unruhe und Unzufriedenheit von sich fernzuhalten. Er hat sich immer mehr zurückgezogen und nur noch in der Phantasie gelebt. Er hat sein Leben versäumt. Aber jetzt taucht Franziska wieder auf. Gefährdet das seine geschützte Existenz, oder nimmt er diese zweite Chance wahr?



Notizen


Der Roman spielt im Jahr 2020 und macht den Leser mit einem beziehungsgestörten, beziehungssuchenden Ich-Erzähler bekannt. Zitat: Niemand erwartet noch etwas von mir, ich von mir am allerwenigsten.

       

Dieser Ich-Erzähler verwaltet ein Archiv in seinem Haus, an dem sonst niemand mehr Interesse hat, wofür es aber im Leben des Autors einen realen Hintergrund gibt. Der Erzähler scheut in seinem Leben jedwede Veränderung, er lebt nur in der Erinnerung. Seine Liebe ist eine Franziska, die ihn aber nicht liebt. An dieser Stelle überlege ich, ob er auch seine Gefühle in einem inneren Archiv verwaltet.


Nach einer Frage nach Szenen und Figuren erklärt der Autor: Er reiht nichts einfach aneinander, eine Szene ergibt sich aus der nächsten. Und ja, die Figuren sind beim Schreiben ab und zu in seinem Kopf, obwohl sie nie da sind. Außerdem führten die Personen in seinen Romanen immer irgendwie ein Doppelleben - zu Hause und in der Öffentlichkeit. Was die Zukunft betrifft, so erkärt Peter Stamm, daß es für ihn keine alten Ideen gibt, die er noch in Romanen verarbeiten will, weil die Ideen eben alt sind und er nur Aktuelles erzählen möchte. "Wenn es draußen regnet, regnet es auch im Roman." 


Am Ende erfahren wir in einem privaten Nebensatz von Peter Stamm, daß er es abgelehnt habe, Bilder von der Taufe (er ist nach eigenen Worten nicht gläubig) seiner Kinder machen zu lassen. Aber, so möchte ich sagen, sind nicht alle Erinnerungen auch nur Bilder, die wir archivieren und zum Teil später "wegwerfen", weil sie nichtssagend sind, wertlos, weil eigentlich keine Wahrheit dahinter steht ? Es sind Momentaufnahmen eines früheren Lebens ohne Wert für das Heute, gespeichert in einem Archiv.


In dem Roman löst der Ich-Erzähler am Ende das Archiv in seinem Haus auf, das Archiv der Gefühle löst sich alleine auf.         







Mein Einwurf


Ja, Gefühle können überfluten, überkochen, aber sie können sich auch in Luft auflösen.

 

Gefühle, so mein Empfinden, sollten uns den Weg durchs Leben weisen, weil sie uns etwas sagen wollen. Es ist jedoch sinnlos sie zu unterdrücken oder sich gedankenlos von ihnen leiten zu lassen. Aber sie eignen sich auch nicht um einfach archiviert und verwaltet zu werden.








Maike Wetzel

liest aus „Entfernte Geliebte“ Erzählungen – 31.10.2022



Maike Wetzel

geboren 1974 in Groß-Gerau


 studierte an der Filmhochschule in München und in Großbritannien, führte Regie und schrieb Drehbücher zu mehreren Kurzfilmen und Reportagen. Wetzel lebt und arbeitet als freie Journalistin (Die "Zeit" und die „FAZ“) und Schriftstellerin in Berlin und München


Werke unter anderem:

 

 Erzählbände : "Hochzeiten“  2000

 "Lange Tage“ 2003

 "Entfernte Geliebte" 2021

   Roman "Elly“ 2018

  Kurzfilme :"Marcus-Penelope“ 1995

 "Norwegen“ 2002

 "Proll“ 2021


Auszeichnungen unter anderem:

 

Drehbuchpreis der Bayerischen Theaterakademie 2000

Gerhard-Beier-Preis 2006  

Robert-Gernhardt-Preis 2017 



„Entfernte Geliebte“ Erzählungen 



Ein Mann sagt zu einer Frau: Ich liebe dich, und damit fängt die Suche erst an. Ein Mädchen hungert sich vor den Augen seiner Familie zum Skelett. Ein Autounfall und drei Geliebte lassen eine junge Frau an der Wirklichkeit zweifeln. Ein kleines Kind stellt das Leben eines Paares auf den Kopf.
 Liebe - Freundschaft - Hass. So einfach wie in dem alten Abzählreim ist es für die Entfernten Geliebten in Maike Wetzels Geschichten nicht. Ihre Seelen vibrieren in Glasfaserkabeln und am Trog von Bio-Schweinen. Sie sammeln Treuepunkte, hausen nördlich von Hollywood, auf dem Land, in der Großstadt oder in verwunschenen Hotelruinen. Sie träumen, lieben und verlieren sich in schlaflosen Nächten, beim Kinderkriegen, an fremden Fenstern oder zwischen Gras und Rüben. Manche von ihnen werden gerade erwachsen, andere sind es bereits. Immer tasten sie sich an die Grenze zwischen Wunsch und Wirklichkeit heran. 




Notizen


Die Erzählungen spielen in den 1980/90er Jahren in der BRD, wobei es sich durchweg um keine autobiographischen Texte handelt. Die Autorin liest zwei Geschichten: "Zeugen" und "Die Katze".


In der ersten Erzählung empfinde ich die Satzkonstruktionen zunehmend als schwach und anspruchslos. Die meisten Sätze beginen mit "Ich". Dazu erscheinen mir, hauptsächlich in "Die Katze", viele Beschreibungen nur als Klischee. Außerdem wirken die Erzählungen sehr konstruiert.


Maike Wetzel:  Hinter den gelesenen Geschichten gibt es keinen realen Hintergrund, eher eine Rückbesinnung auf die Erfahrungen der Jungend auf dem Weg erwachsen zu werden.


Sie interessiere sich hauptsächlich für den Raum zwischen Realismus und Irrealismus. Und so spielt sie auch immer wieder mit dem Wechsel auf verschiedenen Zeitebenen, mit der Zeitenwende.


Auf die Frage, warum sie auf zwei weiteren Ebenen - der realistischen und der phantastischen - schreibe, antwortet Maike Wetzel : Das Realistische spiegelt sich im Phantastischen und umgekehrt. Sie spricht von einem Spiegelbild der Poesie.


Am Ende noch eine Auskunft auf die Frage, wie ihr Weg zum Schreiben erfolgt ist. Antwort: Sie habe schon immer schreiben wollen, schon mit sieben Jahren damit begonnen und anschließend an Schreibwettbewerben mit bekannten Autoren teilgenommen.




Mein Einwurf


Da sind sie wieder, die langen Abende, Dunkelheit, die seltsamen Feiertage. Eine Zeit mit vielen Toten, sogar heiligen Toten. Mit erschreckenden, auch freundlichen, meist jedoch eigenartigen Gestalten, bis hin zu einem Kind in der Krippe. Alles noch im Realismus oder schon im Phantastischen ? Theodor Fontane sagt über den Realismus: Er ist die Widerspiegelung des wirklichen Lebens. Also auch der jeweiligen Gesellschaft. Danach wäre das Phantastische die Widerspiegelung des Realismus. Und der Raum zwischen Realismus und Irrealismus ? Ein Raum zwischen einer Spiegelung ?







Norbert Gstrein

liest aus "Vier Tage, drei Nächte" –07.11.2022


Norbert Gstrein

geboren  3. Juni 1961 in Mils bei Imst, Tirol

 lebt heute in Hamburg

Studium der Mathematik - Studien an der Stanford University / Kalifornien - Universität Erlangen

Dissertation Zur Logik der Fragen



Werke unter anderem :

 

·  Als ich jung war. Roman. 2019

·  Der zweite Jakob. Roman.  2021

·  Vier Tage, drei Nächte  Roman  2022



Auszeichnung unter anderem :

 

2022 Thomas-Mann-Preis




Vier Tage, drei Nächte

 

Es geht um Elias und Ines, um zwei Halbgeschwister, die erst von ihrer familiären Verbindung erfahren, als sie sich schon ineinander verliebt haben. Es geht also um eine unmögliche Liebe, um unerfüllbares Begehren, um Inzest und auch um patriachalische Herrschaftsstrukturen und daraus hervorgehenden Vaterhass. Elias übernimmt die fast durchgängige Ich-Erzähler-Perspektive.




Notizen


Der Autor stellt in seinen Romanen die Frage nach der historischen Gewißheit. Geschichte als Geschichte und Geschichten.

Der Ich-Erzähler ist eine der Hauptfiguren. Gstrein: Erzähler sind bei mir immer unzuverlässig. Selbst einem Ich-Erzähler  sollte man nie alles glauben.

Eine Geschichte aus der Corona-Zeit. Kein Corona-Roman. Liebe zwischen Halb-Geschwistern, Halb-Inszest, Haß auf den sehr dominanten Vater, einem Hotelbesitzer. Und dann gibt es noch eine andere Ebene, ein Geheimnis des Autors : Wir erzählen uns Geschichten nur, um andere Geschichten nicht erzählen zu müssen.

Vieles erzählt Gstrein nur, um etwas, ein Geheimnis, etwas Verstecktes zu verschleiern. Der Roman ist ein Experiment, um zunächst von einem anderen Aspekt abzulenken, von dem Geheimnis des Autors. Es gibt viele kleine Signale in dem Roman. So stellt sich zum Beispiel irgendwann raus, daß ein Liebhaber der Schwester ein Schwarzer ist. Aber all diese Hinweise werden vom Leser überlesen und sollen bewußt überlesen werden. Man muß, so der Autor, um alles zu erkennen, den Roman öfter lesen, aber fast niemand liest einen Roman öfter. Die Auflösung erfolgt erst fast am Ende des Werks und Gstrein liefert sie auch erst am Ende der Lesung und des Gesprächs.

Die andere Ebene : Das Verhältnis von Schwarz und Weiß. Um Rassismus.

Ach ja, der Titel des Romans hat übrigens nichts mit dem Thema Rassismus gemein. Er bezieht sich nur auf zwei Szenen in der Gesichte.




Mein Einwurf


Geheimnisse, Spurensuche. Gibt es das nich auch manchmal in unserem Leben ? Etwas, daß wir keinem Menschen, selbst dem Nahestehensten nicht erzählen. Oft senden wir kleine Signale, deuten es an, aber behalten es dann doch bis ins Alter, bis ans Lebensende für uns. Lebensgeheimnis.









 Ulrike Almut Sandig

 

liest aus "Leuchtende Schafe" – Gedichte     14.11.2022 




Ulrike Almut Sandig

geboren  15. Mai 1979 in Großenhain, Sachsen, ist eine deutsche Schriftstellerin und Lyrikerin.

 

Studium der Journalistik (abgebrochen), Religionswissenschaft und Indologie (u. a. in Indien, 2005) studierte sie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, das sie 2010 mit einem Diplom abschloß.

Sie ist unter anderem Frontfrau des Poesiekollektivs Landschaft und vertont, verfilmt ihre Poesie teilweise auch und trägt sie in enger Zusammenarbeit mit Künstlern aus der ganzen Welt vor.

 

Werke unter anderem :

 

Monster wie wir. Roman, 2020

Leuchtende Schafe, Gedichte 2022

 

 

Auszeichnungen unter anderem :

 

·  2018: Wilhelm-Lehmann-Preis

·  2018: Horst Bingel-Preis für Literatur „für ihr lyrisches Werk“

·  2020: Roswitha-Preis

·  2021: Erich-Loest-Preis für ihr lyrisches Werk sowie ihren Roman Monster wie wir

·  2021: Thomas Kling-Poetikdozentur



Leuchtende Schafe


Am Anfang war das Licht, oder doch die Lumières? Von der Erschaffung der Welt ist es in Ulrike Almut Sandigs neuem Gedichtband nur ein "Feuer, Erde, Wasser, Sprung" zur Sinfonie der Berliner Großstadt.…



Notizen


Die Autorin trägt ihre Gedichte sehr eindrucksvoll vor. stimmlich, aber zwischendurch auch mit zwei kleinen Einspielungen mit von ihr gedrehten Filmchen.

Sandig: Texte sind nicht nur Texte, sondern auch Schriftbilder. Ich kann nur lesen, was hörbar ist  - alles andere spielt im Kopf beim Lesen.

So mischt Ulrike Almut Sandig in „Friedrich Hölderlin, überarbeitet“  Zeilen aus dem im Jahr 1800 verfassten Hölderlin-Werk „Wie wenn am Feiertage“ auf, indem sie in den ersten drei Strophen jede zweite Zeile des Dichters durch eine eigene ersetzt. Dieses Werk war eine Anfrage vom Hölderlin Turm in Tübingen. Da sie das Gedicht aber nicht nur lesen   - Das wäre langweilig gewesen -  sondern etwas eigenes machen wollte, überarbeitete sie es. Entstanden sind zwei verschiedene Textebenen. Man versteht es erst nicht, aber dann doch auf einer anderen Ebene.

Die Autorin: Ich arbeite gerne mit dem, was mich irritiert, was sich reibt. Sprache überfordert einen, aber wir haben nichts anderes und müssen es über die Reibung verstehen. Außerdem ist sie ein Fan von oraler Literatur.

Ich habe in mir so viele Wörter, wie ihr in euch......Weiterhin erklärt sie: Die Welt braucht nicht meine Arbeiten, aber es gibt ein Bedürfnis nach Ordnung im eigenen Kopf, die Welt so zu ordnen, daß du sie so verstehen kannst, wie sie im Gedicht stattfindet. Außerdem will sie Literatur nicht so verstanden wissen, daß sie etwas verstanden habe, was das Publikum nicht verstanden habe. Gewachsen sei ihr Werk nach der Frage : Wie hängen sehen und verstehen zusammen ?

Die Autorin nimmt einen bei dieser Lesung mit auf viele verschiedene Reisen, Klangreisen, geistige Reisen auf unterschiedlichen Ebenen. Vom Klatschreim von Kindern bis Hölderlin und Droste-Hülshoff.


Ausschnitte :

 

heut Nacht

bin ich
 aufgewacht

weil ich so
plötzlich und
 vor allem

ohne Grund
erwacht
 
war

_______________

 

es gibt nicht das Erste ohne das Zweite.

und alles hing an diesen Menschen: der Sprung, die Erde,
 der Himmel.

es gibt nicht den Turnlehrer ohne die Klasse.

es gibt nicht den Ersten ohne die Letzten.

Und alles hing an diesem Himmel: die Menschen, der Sprung,

die Erde.

 

_________________________________________

 

Zippelonika                                                                     

 

ich kenne eine Frau

die hat Augen wie Kakao

eine dicke fette Leberwurst

das weiß ich ganz genau

und ich weiß auch , wo sie wohnt

nämlich dreimal hinterm Mond

und ich weiß auch, wie sie heißt

nämlich Zipp Zippelipp Zippelonika!

 

 

 

Zippelonika ist ein weibliches Wesen aus einem alten Kinderlied, das auch schon Peter Rühmkorf zitiert hat. )



Mein Einwurf


Die Winterjacke habe ich natürlich schon länger aus dem Schrank geholt und auch die sonstige Kleidung der Witterung angepaßt. Besonders,wenn ich meinen abendlichen Sparziergang in Angriff nehme. Doch dies ist nicht mehr ganz der Weg der vergangenen Monate, weil mitten drin vor gut zwei Wochen mal wieder ein Hindernis aufgebaut worden ist. Und das gilt es, wie jedes Jahr zu umschiffen. Also gut, zu umlaufen. Obwohl beide Begriffe irgendwie zutreffen. Ja, Du denkst ganz richtig. Seit Mitte November heißt die Innenstadt natürlich Weihnachtsmarkt. Und wegen der allgemeinen Aufforderung Energie zu sparen, hat man die Weihnachtsbeleuchtung erst Anfang November aufgehängt.Kann man ja dafür nach Weihnachten länger in Betrieb lassen. Rechts neben dem Rathaus, direkt vor dem Gymnasium, daß ich in einem anderen Leben mal besucht habe, findet sich pünktlich auch wieder die Krippe ein. Ein Esel und zwei Schafe. Lebend. Zwei abgetrennte kleine Flächen. Um dem Tierschutz gerecht zu werden. Die zwei Monate werden sie da wohl aushalten.

 

Ach ja, Schafe. Weiß gar nicht, ob auf dem polnischen Acker, wo die russischen oder ukrainischen, - ich weiß es nicht - Raketenteile niedergegangen sind, auch Schafe waren. Hätten bei anders bestückten Teilen leicht zu leuchtenden Schafen werden können. Die vor irgendeiner Krippe damals waren davon natürlich noch nicht gefährdet. Aber zu der Zeit konnte auch noch kein Strom ausfallen. Da wären leuchtende Schafe hilfreich gewesen.

 

Ja, Ulrike Almut Sandig hat mich mitgenommen auf Reisen. Auch von den Schafen bei der Krippe bis zu dem Acker in Polen. Überall leuchtende Schafe. Und auf dem Weihnachtsmarkt am Domplatz und in der Innenstadt : Leuchtet es tausendfach. Was sagst Du ? Wegen der Glühbirnen. Natürlich auch.

 

Am Anfang war das Licht, oder doch die Lumières?







 Marcel Beyer

 

liest aus "Bilder im Krieg,2022"      21.11.2022 



Marcel Beyer

 

geboren 23. November 1965 in Tailfingen, Baden-Württemberg, 


Lyriker, Epiker, Essayist und Herausgeber .

 

Er studierte  Germanistik, Anglistik und Literaturwissenschaft an der Universität Siegen; 1992 erlangte er dort den Magistergrad mit einer Arbeit über Friederike Mayröcker.



Werke unter anderem :

 

Sie nannten es Sprache. Aufsätze.  2016

Das blindgeweinte Jahrhundert. Bild und Ton 2017

Dämonenräumdienst. Gedichte 2020

Friederike Mayröcker: Gesammelte Prosa  - Herausgeber. 2001

 

 

Auszeichnungen unter anderem :

 

Heinrich-Böll-Preis (2001)

Friedrich-Hölderlin-Preis (2003)  

Kleist-Preis (2014)

Lessing-Preis (2019)

Georg-Büchner-Preis (2016)

Friedrich-Hölderlin-Preis und der Peter-Huchel-Preis (2021)




Bilder im Krieg, 2022




Notizen


Hier liest ein Autor aus einem Buch, das es noch gar nicht gibt. "Wir sind dabei, ein Buch daraus zu bauen", so Marcel Beyer. Er liest aus einem Manuskript, von Zetteln und selbst die sind noch nicht immer richtig geornet. Aber das ist keineswegs ein Manko. Ganz im Gegenteil, denn so bleiben auch Lücken für Erklärungen.

Marcel Beyer beschreibt Bilder, die er in irgendwelchen Medien gesehen hat. Es geht ihm hauptsächlich um nichtfiktionales Erzählen, wie unter anderem, nein, hauptsächlich, um Bilder aus dem Krieg in der Ukraine. Was erzählen uns diese Bilder ? Der Autor ist nur Beobachter, Beobachter der Bilder und beschreibt etwas, daß er selber nicht gesehen hat. Aber, in einer Ezählung sei der Beobachter auch immer Teil der Szene.

Bei der Betrachtung der Bilder stellt sich bei ihm eine Unruhe ein, die aber nicht von den Bildern herrührt, sondern von Geräuschen, die man sich vorstellt, auch aus einem selber erlebten Krieg oder einer vergleichbaren Szene kennt. Der Autor überschreibt also die stummen Bilder mit Stimmen, mit Lauten, was aber auch in den Weg der Fiktion führt.

Was, so die Frage, ist nun aber die Funktion der Literatur bei einer solchen Bildbeschreibung, die von fast allen Normen einer Bildbeschreibung abweicht ? Marcel Beyer : "Ich muß keine sachlichen Berichte liefern, habe eine andere Freiheit, aber auch eine andere Verantwortung." Seine Imagination ist seine Arbeit, die Arbeit der Sprache, der Literatur. Und so unterzieht der Autor seine Sprache auch immer wieder einer Überprüfung. "Es geht nicht nur um das Wie des Schreibens, sondern auch um die Moral des Schreibens."  

Die Vermittlung, die Literatur, so der Autor, könne hier etwas, was nur sie kann. Aber die Literatur sei sich auch bewußt, daß die Sprache immer ein Eigenleben hat




Mein Einwurf


Und wie ist es nun mit den Bildern aus meinem Urlaub, die ich mir manchmal auf dem Bildschirm betrachte ? Die werden beim Anschauen sorfort lebendig und erzählen Geschichten. Sogar die Geräusche oder die Stille, die in manchen Szenen auf den Bildern beim photographieren herschten, vermag ich noch nachzuvollziehen.

 

Meine Urlaubsbilder blieben bei ihm wohl stumme Bilder. Aber vielleicht würden sie ihm mehr sagen, mehr erzählen als uns, die wir uns von den Geräuschen ablenken lassen.








 Judith Hermann

 

liest aus "Daheim"      24.11.2022 


Zwischen – Lesung  in der Kaiserpfalz Paderborn, zum 50-jährigen Bestehen der Universität und  40-jährigem Jubiläum der Paderborner Gastdozentur für Schriftstellerinnen und Schriftsteller 2021




Judith Hermann

geboren 15. Mai 1970 in Berlin, sie ist Mutter eines Sohnes und lebt in Berlin-Prenzlauer Berg.


Nach dem Abitur begann Hermann ein Germanistik- und Philosophie-Studium mit der Absicht, als Journalistin zu arbeiten. Sie brach es ab, besuchte die Berliner Journalistenschule unter Dozent Alexander Osang, der ihr als Verfasserin von Reportagen mangelndes Talent bescheinigte, und machte ein Praktikum in New York. Die Berliner Journalistenschule schloss Hermann mit einem Diplom ab. 1997 nahm sie an der Autorenwerkstatt Prosa im Literarischen Colloquium Berlin teil.



Werke unter anderem :

Sommerhaus, später. Erzählungen – 1998

Lettipark. Erzählungen – 2016

Daheim. Roman -  2021

 

Auszeichnungen unter anderem :

 

2001: Kleist-Preis für Sommerhaus, später

2021: Rheingau Literatur Preis für Daheim

2022: Bremer Literaturpreis für Daheim

2022: Preis der LiteraTour Nord für ihr bisheriges Werk und für Daheim





Daheim


Judith Hermann erzählt in ihrem neuen Roman "Daheim" von einem Aufbruch: Eine alte Welt geht verloren und eine neue entsteht.Sie hat ihr früheres Leben hinter sich gelassen, ist ans Meer gezogen, in ein Haus für sich. Ihrem Exmann schreibt sie kleine Briefe, in denen sie erzählt, wie es ihr geht, in diesem neuen Leben im Norden. Sie schließt vorsichtige Freundschaften, versucht eine Affaire, fragt sich, ob sie heimisch werden könnte oder ob sie weiterziehen soll. Judith Hermann erzählt von einer Frau, die vieles hinter sich lässt, Widerstandskraft entwickelt und in der intensiven Landschaft an der Küste eine andere wird. Sie erzählt von der Erinnerung. Und von der Geschichte des Augenblicks, in dem das Leben sich teilt, eine alte Welt verlorengeht und eine neue entsteht.





Mein Einwurf


Judith Hermann erzählt am Anfang des Romans eine Geschichte, eine alte Geschichte von ihr als - wie sie selber in der Lesung sagt - Prolog. Das Ende dieser Geschichte läßt sie aber nicht ruhen, fordert eine Fortsetzung von ihr. Die Hauptfigur saß immer noch hinter mir. In Daheim steht diese Protagonistin wieder auf, ihr Leben setzt sich fort. Dreißig Jahre später.

Es war eine für mich sehr schöne Lesung, in deren Pausen von Prof. Eke, der auch die anderen Autorenlesungen an der Universität leitet, zusammen mit Judith Hermann die Motive herausgearbeitet wurden. Das Geschlossene - das Unbestimmte - das Wurzeln schlagen. Zu kurz und zu oberflächlich kam mir nur die Interpretation des Titels, der für mich der Anfang und der Schlußsatz sein könnte.

"Daheim" sagt man ja eigentlich im Süden des Landes, doch die Geschichte spielt an der Nordsee. Dort ist der Begriff gar nicht im Wortschatz enthalten. Da ist man "zu Haus", im Haus, daß zu ist, geschlossen ist, genauso wie das Haus in der Stadt. Die Protagonistin flieht aus dieser Stadt auf ein Dorf, wo alles offen ist, heimischer. Man ist daheim. Bei sich angekommen.

Daheim könnte meiner Meinung nach auch der Schlußsatz sein. Dann schlägt man das Buch zu und liest den Titel : Daheim. Angekommen. Zufrieden, jetzt kann das Leben beginnen. Mit dem Titel  Man kann das Buch erneut aufschlagen. Frage: Beginnt jetzt alles wieder von vorne ?

Der Roman läßt jedenfalls alles bewußt offen - man ist ja daheim.

 

 ***

 

 

Siehe auch Autorenlesungen 2016  ("Lettipark")






 Kerstin Hensel

 

liest aus "Cenderella räumt auf" und "Regenbeins Farben"      28.11.2022 




Kerstin Hensel

geboren 1961 in Karl-Marx-Stadt, ausgebildete Krankenschwester, studierte am Institut für Literatur in Leipzig und unterrichtet heute an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«. Hensel ist Mitglied in der Akademie der Künste Berlin und im PEN-Zentrum Deutschland. Kerstin Hensel lebt in Berlin.


Werke unter anderem:

 

Lärchenau. Roman   2008

Regenbeins Farben. Novelle.  2020

Cinderella räumt auf. Gedichte  2021

 

 

Auszeichnungen unter anderem:  

 

Anna-Seghers-Preis der Deutschen Akademie der Künste in Berlin (Ost) 1987

 Leonce-und-Lena-Preis der Stadt Darmstadt   1991

Walter-Bauer-Preis der Städte Leuna und Merseburg  2014



 

Cinderella räumt auf

 

Kerstin Hensel widmet sich in »Cinderella räumt auf« Märchen und Mythen, thematisiert ein veraltetes Frauenbild sowie moralische Scheinheiligkeit. Sie macht »Tiefenbohrungen« und schürft im subjektiven Erleben. In ihren lyrischen Gruß-Postkarten wiederum gerät das übliche Belanglose des »Reisegrußes« mit Kerstin Hensels Sprachwitz zur grotesken und mitunter absurden Mitteilung.

 

 

Regenbeins Farben

 

Auf einem Friedhof in der Nähe der Einflugschneise eines Flughafens treffen sich regelmäßig drei Frauen, um die Grabstätten ihrer verstorbenen Männer zu pflegen: Lore Müller-Kilian, eine kapriziöse Industriellengattin mit Hang zur Champagner-Einsamkeit; die 80-jährige Kunstprofessorin Ziva Schlott sowie Karline Regenbein, eine bescheidene, im Abseits des Kunstbetriebs wirkende Malerin. Eines Tages taucht dort Eduard Wettengel auf. Auch er ist seit kurzem verwitwet. Mit einem Mal kommt Leben in die Trauergemeinschaft. Das weibliche Trio buhlt um die Gunst des Galeristen.





Notizen


Am Anfang und am Ende der Lesung steht die Lyrik. Kerstin Hensel liest Gedichte aus "Cinderella räumt auf".

Cinderella sei ja nichts weiter als die verkitschte amerikanische Version vom "Aschenputtel". Die Autorin widmet sich in diesem Gedichtband Märchen und Mythen, thematisiert ein veraltetes Frauenbild sowie moralische Scheinheiligkeit. Mit all dem will sie durch ihr Sprachspiel aufräumen. Präzise aggressiv, verspielt und mit Komik. Beim Schreiben von Lyrik, so die Autorin, findet das Gespräch mit anderen statt, aber auf das Heute angespielt.

In dem Prosastück "Regenbeins Farben" sind ein bißchen Goethes Wahlverwandschften im Hintergrund. Karline Regenbein trifft sich ständig mit zwei weiteren Witwen auf dem Friedhof und alle drei wetteifern um die Gunst des zufällig auftauchenden Witwers Eduard Wettengel. Karline Regenbein, eine Künstlerin, Malerin, arbeitet mit Farben. Und Farben sind die Vielfalt des Lebens: schwarz - grau - bunt. Das Arbeiten in der Kunst,. sagt Kerstin Hensel, sei ein Kleinhalten, aber auch eine Befreiung. Der Friedhof liegt übrigens in der Nähe eines Flughafens, in der Einflugschneise.

Oben die Sehnsucht - unten das Leben - unter der Erde die Vergangenheit.

Der Schluß des Romans läßt alles offen. Und nein, so die Autorin, es gibt kein direktes Vorbild. Sie schreibe immer aus erfahrener Erfindung. Außerdem sei es eigentlich keine Novelle, sondern eine Erzählung und ihrer Meinung nach auf keinen Fall ein Roman. Aber der Verlag wollte den Begriff "Novelle".



Mein Einwurf


"Cinderella räumt auf" könnte meiner Meinung nach genauso die Überschrift über das  Prosawerk sein. Auch auf dem Friedhof wird doch in der Erzählung aufgeräumt. Und zwar mit den alten Trauerritualen. Eigentlich müßte man doch tatsächlich dort die Sektkorken knallen lassen. Ja, Trauer um die Verstorbenen, aber das Leben für alle anderen geht doch weiter, wie die vier Hinterbliebenen deutlich machen. Und für manchen fängt es gerade erst an. Auch die Flugzeuge oben bezeugen das doch deutlich. Und Cinderella ? Eine "verkitschte Version". Verkitscht, ein Wort, daß in der sogenannten Weihnachtszeit - inzwischen von Oktober bis Januar - auf vielen Ebenen besonders gut paßt. Auch da sollte man mal aufräumen. Entweder man kehrt den Ursprung wieder raus oder überläßt es der Vergangenheit. "Die schlechten in Kröpfchen, die guten ins Töpfchen."

Märchen sind nicht nur Gute-Nacht-Geschichten für Kinder. Wenn man sie etwas aufmerksamer ließt, findet man sie auch heute noch überall. Sogar auf Friedhöfen.






Lea Streisand


 41. Paderborner Gastdozentur

für Schriftstellerinnen und Schriftsteller


Lea Streisand

 

Geboren 1979 in Ost-Berlin, Schriftstellerin,

 

studierte Neuere deutsche Literatur und Skandinavistik an der Humboldt-Universität Berlin.

Seit 2003 liest sie Geschichten auf Berliner Lesebühnen und gründete 2008 mit anderen Rakete 2000.

Seit 2005 schreibt sie Artikel und Kolumnen für die Tageszeitung (taz). Seit 2014 spricht sie die wöchentliche Kolumne War schön jewesen bei Radio Eins in der Sendung Der schöne Morgen

Streisand lebt in Berlin.

 

Werke unter anderem :

 

Im Sommer wieder Fahrrad   2016

Hufeland, Ecke Bötzow          2019

Hätt’ ich ein Kind                   2022

 

 

Auszeichnung

 

2022/2023  Poetikvorlesungen im Rahmen der Gastdozentur für Schriftstellerrinnen und Schriftsteller an der Universität Paderborn


 

 Lesung aus ihrem Roman "Hätt ich ein Kind – 05.12.2022




Notizen


Das ganze Schaffen von Lea Streisand kommt ihrer Erlebniswelt sehr nahe. Wichtig ist ihr immer ein genaues Hinsehen, welches stets auch mit Komik gepaart ist, das eigene Versagen aber nicht ausspart.


Der Roman "Hätt ich ein Kind" beschäftigt sich zunächst mit der Frage, was Mutter sein heute bedeutet. Der Titel stammt übrigens aus dem Märchen "Schneewittchen" der Gebrüder Grimm.


Lea Streisand erzählt immer wieder nach kurzen Leseabschnitten sehr plastisch von Müttern heute und von der Rolle der Mütter, Schwiegermütter und auch Väter in den Grimmschen Märchen.


Die Autorin: Die Geschichten der Brüder Grimm handeln fast alle von unerfüllten Kinderwünschen. Es galt ihrer Meinung nach schon damals der Satz der Mütter: Ich schaffe es nicht mit dem Kind. Also war in den Märchen eine gute Mutter nur eine tote Mutter. Es müßten also, wie auch in der Pandemie geschehen, nicht die Eltern vor den Kindern, sondern die Kinder vor den Eltern geschützt werden. Letzteres sei bei den Märchen der Gebrüder Grimm der Fall. Sie bildet also die Märchen aus der Vergangenheit auf die Gegenwart ab.


Wie Lea Streisand erklärt, hat sie sich schon im Studium mit Märchen beschäftigt. Außerdem habe sie auch zwei Märchenerzählerinnen in der Familie. Wichtig sei für sie, ein genaues Lesen der Märchen und ein immer wieder hinschauen, was da eventuell nicht stimmt, nicht logisch ist. Man muß Märchentexte ernst nehmen und nachforschen.

Allgemein erzählt sie Geschichten immer wieder mit Komik, weil diese auch Spaß machen sollen. "Am Ende mußt das Lachen über dem Tod stehen."  Aber das Geschehen müsse auch zum eigenen Erleben gehören, jedoch überwunden sein.  Zitat von Natascha Wodin : "Man kann nicht über den Abgrund schreiben, wenn man drin ist."


In ihren Werken, so Lea Streisand, gehe es immer um den Kontrollverlust einer Person, die dann aber wieder die Hoheit über das Geschehen erlange, ohne jedoch das Schlimme zu vergessen.


Den Roman "Hätt ich ein Kind" bezeichnet sie neben aller Komik auch als ein literaturwissenschaftliches Buch.




Mein Einwurf


Märchen sind in der jetzigen Zeit vor Weihnachten ja nicht fehl am Platz. Und Wünsche stehen da natürlich ganz oben auf jeder Liste. Die meisten gehen dann sogar in Erfüllung. Zumindest die der Kinder. Für sie ist diese Zeit, dieser Augenblick, wenn wir an Heiligabend denken, wie ein Märchen. Selbst ein Wunsch von mir wurde vor kurzer Zeit Wirklichkeit. Mein kleines Päckchen fand noch den Weg zum Empfänger, auch wenn es eine ganze Woche umhergeirrt ist. In Märchen gehen Wünsche eben immer in Erfüllung. Na gut, um ein Märchen handelte es sich bei mir nicht. Obwohl wir, wenn ich an die Geschichte, die ich mal von der Entstehung des Kriststollens gelesen habe, doch ganz nahe am Märchen ist. Und wenn man den augenblicklichen Zustand der Welt betrachtet, hört das Wünschen gar nicht mehr auf und man hofft, daß so manches Märchen wahr wird. Genau da muß ich an einen Satz denken, den Peter Härtling bei der Verleihung des Jacob-Grimm-Preises im Jahre 2012 zitiert hat. „Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich“  beginnt mit dem Satz: „In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hatte,...."Manchmal sehnt man sich nach diesen alten Zeiten zurück.

 

Lea Streisand habe ich im Jahre 2019 schon einmal gehört. Damals mit ihrem Roman „Hufeland, Ecke Bötzow“. Seit dieser Zeit ist sie, zumindest für mein Empfinden, reifer, fortgeschrittener und trotz aller Komik, die ihr glücklicherweise geblieben ist, weil sie zu ihr gehört, tiefsinniger geworden.

 

Doch bevor ich mich jetzt in tiefsinnigen Gedanken verliere, überlege ich, wie es wäre, hätt ich ein Kind. Welches Kind wünscht sich denn sowas ?





Vorlesung 1 

Alte Stimme - Komischer Körper     12.12.2022



Notizen


Lea Streisand hat zwar in der Poetry Slam Szene begonnen, diese dann aber bald aus mehreren Gründen in Richtung Lesebühne und Radio verlassen.


Für sie ist nicht die Show auf der Bühne, sondern der Text das Wichtigste. Sie will nicht Kunst machen, sondern etwas erzählen, etwas mitteilen. Sie wollte, so die Autorin, nicht lernen, wie man schreibt, sondern worüber man schreibt. Sie wollte Geschichten erzählen. Nichts weiter. Deshalb ging sie zur Lesebühne. Diese Bühne ist für sie ein Schutzraum, gibt einen Rahmen vor und schüzt sie. "Auf der Bühne kannst du alles machen. In der Literatur kannst du alles schreiben."  Doch eine Schauspielerin zu sein, lehnte sie ab, weil sie nicht mit Texten von anderen arbeiten wollte, sondern eben etwas von sich erzählen. Ja, sich auch selber darstellen.Und das auch immer mit Satire und Komik.

Komik kommt von Komödie. Und Komik gliedert sich in zwei Arten :


Herabsetzung - über jemand anderen lachen

Heraufsetzung - sich auch über sich selber lustig machen


Für sie gilt, daß sie sich niemals über Schwächere lustig macht, aber natürlich auch, zum Beispiel in ihren Radiokolumnen, über die Probleme Behinderter spricht.

Ein Radiokolumne ist für sie Schreiben in der Öffentlichkeit. Und da das Radio zur Familie gehört, ist ihre Kolumne zur Begleiterin der Familie geworden, womit sie auch zur Familie gehört.


Worüber sie jede Woche in ihren Kolumnen schreibt (taz) und spricht (Radio eins) ? Über sich, Erlebnissen in ihrem Alltag, Probleme ganz allgemein. Die Bühne, so sagt sie, ist ein Raum des Möglichen, aber nicht alles was möglich ist, muß auch realisiert werden. Dies gilt auch für die Radiokolumnen. Manche politischen Themen sind zum Beispiel nicht immer möglich und außerdem gibt es Unterschiede zwischen Mann und Frau. Manches dürfe ein Mann, aber auf keinen Fall eine Frau.


Auf ihre erste Radiosendung bekam sie zum Beispiel Kommentare wie: Wie kann eine so junge Frau eine so häßliche Stimme haben ? (Siehe Titel der Vorlesung). Jetzt habe sie es aufgegeben, Kommentare zu lesen.

Auf die Frage nach einem Buch über ihre Kolumnen antwortete Lea Streisand: Meine Kolumnen sind Radiokolumnen, die kann man nicht einfach in ein Buch packen.



Vorlesung 2

Das Leben schreibt keine guten Geschichten    19.12.2022



Notizen


Lea Streisand : Schriftsteller schreiben Romane. Schriftsteller schreiben gute Geschichten. Das Leben schreibt keine guten Geschichten. Das Leben schreibt langweilige Geschichten. Autoren schreiben gute Geschichten.


Sie fühlt sich nicht kompetent zu sagen, wie man einen Roman schreibt. In der Literaturwissenschaft ist ein Roman etwas Abgeschlossenes. Sie möchte gerne weitermachen.


Kolumnen nennt sie Tempoliteratur. Den Text muß man als Schreibender immer von innen und außen betrachten.

Wir denken immer in Geschichten. In ihrem ersten Roman wollte Lea Streisand eigentlich von der Komik im Krankenhaus erzählen, in dem Krankenhaus, in dem sie als Krebspatientin gelgen hatte. Als Patientin, die immer Angst hatte. Die Angst ist eine Geschichtenerzählerin. Sie, Lea Streisand, schreibt gegen die Angst.


Um eine Geschichte so zu erzählen, damit andere sie auch annehmen können, muß man sich von der Geschihte trennen. Ein Text kann nicht die Erledigung eines Traumas sein. Das Trauma muß erledigt sein.


Das Schreiben selber:

Nach dem ersten Satz, der für sie keine Schwierigkeit sei, läuft es, so die Autorin, von ganz alleine. Der Anfang sei immer eine Einladung an einen Ort, zu einer Situation, usw. Lea Streisand erklärt, daß sie ihre Texte nie nach einem Plan schreibe. Sie habe nur eine Idee. Danach baut sie sich eine Bühne, auf der sich alles weitere abspiele.Wichtig sei ihr, nicht viel drumherum zu schreiben. Das Motto müsse sein: Erzähl doch einfach die Geschichte.


Lea Streisand: Die Geschichte selber entsteht am Ende immer erst im Kopf des Lesers. Aber auch, wenn es fiktive Geschichten sind, müssen sie stimmen, zumindest was die Fakten angeht.


Der Grund für sie, einen Roman zu schcreiben: Das muß doch mal gesagt werden. Aber eines, so die Autorin, dürfe man nicht vergessen:


Das sind alles nur Geschichten, egal, was wirklich geschehen ist.






Vorlesung 3  

 Schreiben im Jetzt   09.01.2023 


Notizen


Lea Streisand stellt ihrer Vorlesung die Frage vorweg: Darf man noch Geschichten erzählen, wenn sich viele Menschen der Realität entziehen ? Hier geht es auch um die Authentizität. Wenn jemand authentisch rüber kommt, hat er gut erzählt.


Was, so die Autorin, will ich erzählen, weil es mich zum Beispiel aufregt ? Lea Streisand versucht alles an ihrer Gehbehinderung und den damit verbundenen Problemen im Alltag deutlich zu machen. In unserer Gesellschaft habe keiner mit einer Behinderung eine andere Stellung. Ständig höre man den Satz: Du kannst alles sein, was du willst und wenn du es nicht willst, bist du es nicht. Allerdings möchte sie nicht nur etwas Persönliches erzählen, sondern es auf die gesellschaftliche Ebene erheben.


Schreiben bedeute, sich so verständlich zu machen, wie möglich. Etwas o zu erzählen, daß andere es verstehen. "Schreiben im Jetzt" sei allerdings kein herrenloses Geschäft. Auf Twitter und anderen sozialen Netzwerken, wo sie ihre Geschichten teilweise zuerst veröffentliche, um sie zu testen ( ihrer "Versuchswelt" ) artet es immer mal wieder aus. Man wird angegriffen, auch sie als Behinderte. Dort wird eben alles von Privat ins Öffentliche transportiert. Nannte man es früher "Betroffenheitsliteratur", so ist es heute ein "erzählendes Sachbuch", so die Autorin. Aber sie könne inzwischen damit umgehen.


Und so hat sie ihre Behinderung in fast alle ihre Werke eingebaut. Mal mehr, mal weniger. Aber wie baut man "Kleinigkeiten" aus der Kolumne in etwas Größeres, den Roman ein ? Wie vom Versuchsfeld der Kolumne in den Roman ? Antwort: Man sucht viele kleine Geschichten, sammelt sie und läßt daraus den Roman werden. Aber Vorsicht. Steht auf dem Buch der Begriff "Roman"  muß es nicht der Realität entsprechen, nicht authentisch sein. Fehlt der Begriff, kann es zu Schwierigkeiten bis zum Skandal kommen, wenn der Inhalt nicht real ist. Das aber sei Journalismus, der sie nicht interessiere. Sie möchte erzählen, was sie bewegt.


Um jedoch heute einen Vertrag zu bekommen, muß man, so Lea Streisand, in den sozialen Medien präsent sein. Verträge richteten sich nach der Zahl der Follower. Sie benutze diese Medien aber auch für sich selber. Sie möchte gelesen werden, möchte im Gespräch bleiben, deshalb soziale Netzwerke, Radio und Kolumnen.Die direkte Reaktion der Leser und Hörer sei ihr wichtig. Nur dürfe man nicht alles lesen. Erst komme immer das Lob, erst am Ende der Haß. Man müsse für sich erkennen, im Netz, das bin nicht ich, ich bin nur die Produktionsfläche.


Lea Streisand : Ich erkäre anderen etwas, damit andere sich auch trauen, ihre Geschichte zu erzählen.






Lesung aus ihrem Werk   16.01.2023


Abgerundet hat Lea Streisand ihre Gastdozentur unter anderem mit einer Lesung aus dem Manuskript ihres noch unvollendeten neuen Romans.

Hier handelt es sich wohl um die Aufarbeitung ihrer Jugend in Bezug auf ihre Eltern. Mehr war aus der Lesung aus drei Kapiteln noch nicht zu entnehmen.

Die Autorin trägt alles mit Leichtigkeit vor, betont jedoch auch, daß diese Leichtigkeit hart erarbeit sei.

Aber, so kann man wohl ihr bisheriges Werk mit einem Satz von ihr zusammenfassen:


Geschichten sind Geschenke, die weitergegeben werden.







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