Seiler Lutz

 

Lutz Seiler

* 8. Juni 1963 in Gera

Deutscher Schriftsteller

Studierte Geschichte und Germanistik. 1997 übernahm er die Leitung des literarischen Programms im Peter-Huchel-Haus in Wilhelmshorst bei Potsdam 

Seiler lebt als freier Schriftsteller in Wilhelmshorst und Stockholm. Er ist seit 2009 mit einer schwedischen Germanistin verheiratet.

 

Werke unter anderem :


Die Zeitwaage-Erzählungen   2009

Kruso   2014

Stern 111   2020

 

Auszeichnungen unter anderem:


2007 Ingeborg-Bachmann-Preis

  • 2014 Uwe-Johnson-Preis für Kruso 
  • 2014 Deutscher Buchpreis für Kruso

2020 Preis der Leipziger Buchmesse

2023 Bertolt-Brecht-Preis

2023 Georg-Büchner-Preis

 

 

Kruso

Inselabentuer und Geschichte einer außergewöhnlichen Freundschaft. Seiler schlägt einen Bogen vom Sommer 89 bis in die Gegenwart. Die einzigartige Recherche, die diesem Buch zugrunde liegt, folgt den Spuren jener Menschen, die bei ihrer Flucht über die Ostsee verschollen sind und führt uns dabei bis nach Kipenhagen, in die Katakomben der dänischen Staatspolizei.

 

 

 

Mein Einwurf

Für Seiler geht es um die Freiheit oder genauer, um die Frage, wie Freiheit möglich ist. Für ihn soll nicht das Politische, das Gesellschaftliche im Vordergrund stehen - diese Geschichte, die in der DDR spielt, möchte er nicht als einen Roman über das Leben in oder das Ende des Staates sehen - sondern das Philosophische und das Poetische - Seiler kommt von der Lyrik, die in dem Roman auch immer wieder stark durchbricht. 

Ed zitiert immer wieder Trakl.

Der Autor selber sagt, daß er beim ersten Schreibversuch gescheitert und der Roman schließlich entstanden ist, als er das schon Verfaßte nur in ungefähr zehn Seiten zusammenfassen und weglegen wollte.
 "Jetzt habe ich das Buch geschrieben und weiß noch immer nicht, wie man Romane schreibt."

 

Vielleicht fehlt auch ihm etwas Muße, um die geeigneten Wege für die vielen Gedanken zu finden, die sich hinter den Türen, die er in seinem Bewußtsein öffnet, verbergen. Eine App, ein Regenschirm die oder der ihn vor Schubladen schützt. Sein Denken, sein Ausdrücken-Wollen geht tiefer, weit über die Geschichte hinaus.

Ed nimmt Abschied von seinem alten Leben, in dem er seine Freundin G. und damit alles verloren hat, auf einem Bahnhof.

Der Bahnhof, Einsamkeit und Freiheit.

Aufbruch nach Hiddensee. „Am Ende aller Reden schien Hiddensee ein schmales Stück Land von mythischem Glanz, der letzte, der einzige Ort, eine Insel, die immer weiter hinaustrieb, außer Sichtweite geriet – man musste sich beeilen, wenn man noch mitgenommen werden wollte.“

Wohl das Ende der DDR, das sich langsam abzeichnete – oder auch die letzte Möglichkeit vor dem Bau der Mauer den Sprung heraus zu schaffen. 

Und dann die erschossenen Wildschweine, man hatte sie für Flüchtlinge gehalten.

„Flüchtlinge werden wie Flüchtlinge behandelt. Es gibt sie nicht, und also gibt es keine Leichen – sie existieren einfach nicht.“  Sie existierten auch viel später nicht, als es den Staat schon lange nicht mehr gab.

Der „Klausner“, die Gastwirtschaft, ein Abglanz der Gesellschaft. Arbeiten mußte man dort, um das Soll zu erfüllen, manchmal wie Galeeren-Sklaven. Doch der Arbeiter, der Kellner, behielt auch im Chaos Anstand. Und ganz nebenbei möchte Seiler körperliche Arbeiten beschreiben, auch untergegangene Arbeiten, wie „abwaschen“.

Hiddensee eine Insel, die Freiheit probt, unter Aufsicht, versteckt, wie der Fuchs oder die Vögel in den vielen Höhlen.

Die DDR nahm einen auf, gab Arbeit und Unterkunft – wie der Klausner – und Kruso kümmerte sich um sie, mit allem anderen hatte man nichts zu tun. So sollte diese Gesellschaft funktionieren. Gäste von außerhalb waren Obdachlose oder Schiffbrüchige in einem morschen Lokal, welches nach außen vorgab, in allem zu funktionieren. 

Aber da waren noch die Schiffbrüchigen dort unten an den Tischen, die es nicht schafften in die Freiheit zu kommen, die aber obdachlos sind, weil sie unter dem Dach des Staates herausgekrochen sind. Sie sitzen auf der Aussichtsterrasse – die Sehnsucht verbindet.

Ja, diese Insel, sie ist mehr als der Wunsch nach Freiheit, sie ist die Freiheit, die sie alle nie erreichen, nur ersehnen. Bis hierher und dann sterben oder zurück. Für die Schiffbrüchigen, die Obdachlosen,die lieber sterben. 

„Wer hier war, hatte das Land verlassen, ohne die Grenze zu überschreiten“.

Sie alle wollten nicht wirklich ausreisen, sie waren hier auf der Insel frei! Und lebten diese Freiheit im Staat, aber weit weg von ihm. 

Kann man die Freiheit auf einer Insel – in einem Staat – verstecken ? Eine Phantasie-Freiheit. Und plötzlich ist man gefangen in dieser sich selber vorgespielten Freiheit. Eine Rückkehr in die Vergangenheit ? War das überhaupt möglich ?

Die Insel war zu einer Enklave geworden, die man vor der restlichen Welt verteidigen mußte. Eine Enklave der nicht wirklichen Freiheit, die nun drohte sich zu verlieren.

Man hatte ganz einfach die Realität vergessen.In all den Jahren, „in diesen schweren Zeiten.“

Aber es war auch eine Insel der Ausgegrenzten: Punks, Schwule, Langhaarige...

„Durch Kruso entstand ein Netz von Kontakten und Aktionen, das den Esskaas (Saisonarbeiter) behagte, weil es ihre Besonderheit unterstrich....ihre Einzigartigkeit...schwer zu begreifende Form legaler Illegalität in einem Land, das sie entweder ausgespuckt und für unbrauchbar erklärt hatte oder dem sie sich schlichtweg nicht mehr zugehörig fühlten.“

Wer die DDR verläßt, verläßt die Verantwortung, gibt sie ab an die anderen, so wurde es den Menschen dort beigebracht. Und so geschah es später auch im Klausner.

Und irgendwie war Kruso auch ein Schiffbrüchiger, ein obdachloser Russe. Einer, der versuchte, zu retten, was nicht zu retten war. Zu organisieren mit dem Bewußtsein, daß der Untergang bevorstand.

Die Freundschaft zwischen Ed und Kruso glich dem Verhalten der Bevölkerung im Staat: Es war „mehr als Vertrautheit und mehr als Vertrauen. Im Grunde war es eine gemeinsame Fremdheit.“

Und dann immer wieder Ed´s Vortrag der Trakl Gedichte. Ausgerechnet dieser Dichter, der, um es vorsichtig auszudrücken, eine sehr innige Beziehung zu seiner Schwester hatte. Gleichsam Kruso. Da schließt sich der Kreis:

Trakl und seine Schwester

Kruso und seine Schwester

Kruso und Ed – Blutsbrüder

Wie hieß es doch früher immer hier im Westen ? Unsere Brüder und Schwestern im Osten.

Da erinnere ich mich an einen Satz von Peter von Matt:

„Muss man nicht durch sie hindurch die Qualen des Menschen Georg Trakl studieren, die Qualen der sich liebenden, einander vernichtenden Geschwister ?“

Ja, sie haben sich gegenseitig vernichtet. Trakl und seine Schwester, Kruso und seine Schwester, Ed und Kruso, die Menschen im geteilten Deutschland. Und sie sind auch heute noch nicht eins. Noch einmal Peter von Matt:

„Macht man sich nicht der Lüge schuldig, wenn man schön findet, was aus der schweren Not stammt ?“

Irgendwann hatte plötzlich die Flucht aus dem Klausner (der DDR) begonnen. Die zweite Reihe (Kruso und Ed) hatte übernommen.  Damit begann aber auch das Vergessen. Und plötzlich ging alles ganz schnell.

Die Menschen drangen einfach in den Klausner ein, wie durch eine Mauer. Ed verteidigt sich mit dem Messer in der Hand, aber „keine Gewalt“, wie an der Grenze. Beide Seiten aufgebracht. Abwehren und eindringen. In den Westen, mit den vielen Speisen ?

Die Insel war verkommen, heruntergekommen, verwest, wie der ganze Staat. „Hier wartest du“ – „Hier sind wir das Volk“. 

Längst war alles zusammengebrochen, aber man benahm sich, als sei immer noch die alte Ordnung gültig. Die neue Realität, das Jetzt wurde einfach ignoriert. 

„aber es klang...., wie der letzte Versuch, jemand zu sein.“ Doch „ Alle Grenzen waren offen. Offen seit Tagen.“

Der Fall der Mauer, die letzte Vergabe begann.....

Und nach den Flüchtlingen fragt heute niemand mehr, auch nicht nach denen, die ihnen geholfen haben. Die aus der DDR existieren nicht mehr, haben eigentlich nie wirklich für uns existiert, unsere Brüder und Schwestern von drüben. 

Noch heute sind sie die Schiffbrüchigen aus dem Osten.­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­



 

 

 

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