Autorenlesungen2021




Autorenlesungen



Deutsche Literatur der Gegenwart

2021


  Gedanken -

                                               beim Zuhören geboren




Lea Singer – Christoph Peters – Thomas Hettche – Anja Kampmann – Regina Scheer – Hans-Ulrich Treichel – Ingo Schulze (mit Frank Witzel)





Lea Singer 

liest aus „La Fenice“ – 11.10.2021


Lea Singer: geb. 11.Aug. 1960 in München als Eva Gesine Baur. 

Ausbildung zur Köchin. Studium von
Germanistik, Operngesang, Musikwissenschaften und Psychologie. 1990 Promotion.
Redakteurin bei diversen Zeitschriften (u.a. SZ-Magazin, Stern, Der Feinschmecker).
Inhaberin der 28. Paderborner Gastdozentur für Schriftsteller und Schriftstellerinnen im WS 2009/2010.
Lebt und arbeitet als Schriftstellerin, Sachbuchautorin und Publizistin in München. 

 

Werke unter anderem:

 

Romane

 „Die Zunge“ (2000),
„Wahnsinns Liebe“ (2003), „Mandelkern“ (2007), „Konzert für die linke Hand“ (2008),
„Der Opernheld“ (2011), „Anatomie der Wolken“ (2015), „Der Klavierschüler“ (2019)
und „La Fenice“ (2020)

 

Auszeichnungen unter anderem:

 

Hannelore-Greve-Literatur-Preis (2010) 

Schwabinger Kunstpreis (2016)
 Bodensee-Literaturpreis (2018)



La Fenice


Lea Singer erzählt die historisch verbürgten Erlebnisse einer jungen Frau, La Zaffetta genannt, im Venedig der Renaissance (1531), und offenbart, wie nebenbei, die Abgründe der Serenissima in der Zeit eines Tizian oder Aretino. Sie spricht durch die Person einer jungen Frau, die einen Skandal auslöste, weil sie sich das Recht nahm, ihre Wünsche zu leben. Und die zum Kult wurde auf einem der berühmtesten Bilder der Welt: Tizians Venus von Urbino, die aber mit der Göttin Venus nichts gemein hat.


Notizen


Der Hauptpunkt bei Lea Singer ist die Sinneswahrnehmung,. Sie will die Gestalten ihrer Romane im Bewußtsein der Leser entstehen lassen. Bei ihren Erzählungen geht es dabei hauptsächlich um historische oder gegenwärtige Künstler.

„Aber bei mir steht nie der Fall im Vordergrund, sondern ein Thema, das mich bedrängt. Hier war es das Thema der Gewalt gegen Frauen und des Internet-Mobbings", sagt Lea Singer.

La Fenice ist die Geschichte der Demütigung und ihre Folgen für die Gedemütigte. Diese Lust an der Erniedrigung anderer gab es im 16. Jahrhundert genauso wie heute. Für die Kurtisane Angela del Moro, genannt La Zaffetta, gibt es drei Ziele: Ihre Würde behalten, Geld verdienen, blond werden.

 

Lea Singer schreibt die sehr gut recherchierte Geschichte in der Ich-Form, um alles näher an sich heranzulassenm,  auch wenn es ihr, wie in der Vergewaltigungsszene, sehr schwer fällt. 

Es gab, so die Autorin, eine Unmenge von historischem Stoff und sie hat alles weggelassen, was den heutigen Bezug stört. 

Sehr gut ihre neben der Lesung gehaltenen historischen Erklärungen, wie zum Beispiel über den gesellschaftlichen Stand der Kurtisanen, die diesen Beruf nur durch eine hohe Bildung ausüben konnten. Ihr einziges Zeichen war ein gelbes Band im Haar, denn gelb war damals die Farbe der Schande. Angela del Moro war nur eine Kurtisane für die Eliten. Aber das alles war nur eine Fassade, genau wie Venedig, das Venedig, welches man sah und sieht, nur eine Fassade war und ist. Der Roman will hinter diese Kulissen schauen, hinter die Fassaden der Menschen und der Gesellschaft.





Siehe auch

Autorenlesungen 2015

Autoren : Singer, Lea






Christoph Peters

liest aus „Dorfroman“ – 25.10.2021



Geb. 11. Oktober 1966 in Kalkar 

Studierte von 1988 bis 1994 Malerei an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe.


Werke unter anderem:


1999 Stadt Land Fluß. Roman

2010 Japan beginnt an der Ostsee

2010 Die Katze winkt dem Zöllner. Essay

2018 Das Jahr der Katze. Roman

2020 Dorfroman. Roman

 

Auszeichnungen unter anderem:


2014 Poetikdozentur der Universität Paderborn.

2016 Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg.

2021 Thomas-Valentin-Literaturpreis

2022 Niederrheinischer Literaturpreis für Dorfroman 




Dorfroman


Alles scheint noch vertraut in Hülkendonck, einem Dorf am Niederrhein. Als wären die dreißig Jahre, in denen der Erzähler hier nicht mehr lebt, nie gewesen. Sein Besuch bei den Eltern beschwört die Vergangenheit wieder herauf: die idyllische Weltfremdheit der 70er Jahre, den Beginn einer industriellen Landwirtschaft, die das bäuerliche Milieu verdrängt. Und den geplanten Bau des "Schnellen Brüters", eines neuartigen Atomkraftwerks, das die Menschen im Ort genauso tief spaltet wie im ganzen Land. Es ist jene Zeit, in der der Erzähler zu ahnen beginnt, dass das Leben seiner Eltern nicht das einzig mögliche ist – und in der er Juliane kennenlernt, eine Anti-Atomkraft-Aktivistin, die ihn in die linke Gegenkultur einführt...

 Einfühlsam und packend erzählt Christoph Peters von den inneren Zerreißproben eines jungen Mannes und eines ganzen Dorfes. Es ist der große Roman über den turbulenten Aufbruch in jene Bundesrepublik, in der wir heute leben.

Kindheitsgeschichte, bundesrepublikanischer Epochenroman, zartbittere Liebesgeschichte, Eltern-Kind-Reflexion und – Dorfroman.



Notizen


Der Roman aus den 1970er Jahren schildert den Aufbruch des neuen Deutschland in der Nachkriegszeit, die Kindheit und Jugend des Autors, sowie die damalige Denkweise. Und das Sein bei der späteren Rückkehr in das Heimatdorf.

Christoph Peters berichtet somit auf drei Erzählebenen: kindliche, jugendliche, erwachsene.

 

Der Autor tritt ein wenig in die Fußstapfen des Urvaters der Dorfgeschichten, Berthold Auerbach. Peters geht es in erster Linie nicht um den bekannten Reaktor, den „Schnellen Brüter“, sondern um das Dorf. Wie haben sich die Sozialstrukturen zwischen Kindheit und dem Jetzt verändert ? Vierzehn Jahre hat er unermüdlich an dem Roman gearbeitet, recherchiert.

Herausgekommen ist mehr oder weniger eine Biographie. Jedoch finden sich in dem Roman auch viele heutige Themen, die schon in den 1970ern aktuell waren.

 

Am Ende der Lesung erzählt Peters einiges aus seiner „Werkstatt“, wie er es selber nennt. So schreibt er zum Beispiel alle drei Ebenen hintereinander, wie er jeden Roman von vorne bis zum Ende bearbeitet, also nicht verschiedene Teile schreibt, um sie später zusammenzufügen.

Manchmal, so der Autor, muß man aus einem Roman auch etwas herausretuschieren, wodurch aber nicht die historische Genauigkeit verloren geht.

Und dann noch etwas persönliches: Christoph Peters bekennt etwas humorvoll, daß seine Romane auch immer eine Art Liebesgeschichte, etwas sexuelles beinhalten müsssen, denn: „Ich brauche jeweils eine Frau, die mich durch den Roman führt, auch wenn sie erfunden ist.“

Dies gilt dann auch für den „Dorfroman", der jedoch keinerlei Sentimentalitäten zeigt.












Thomas Hettche

liest aus „Herzfaden“ – 08.11.2021



Thomas Hettche wurde am 30. November 1964 in Treis, einem Dorf am Rande des Vogelsbergs geboren und lebt in Berlin.


 Seine Essays und Romane, darunter »Der Fall Arbogast« (2001), »Die Liebe der Väter« (2010), »Totenberg« (2012) und »Pfaueninsel« (2014) wurden in über ein Dutzend Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.


Auszeichnungen unter anderem :


  2005 Premio Grinzane Cavour 

 2014 Wilhelm-Raabe-Preis

  2015 Solothurner Literaturpreis

  2019 Josef-Breitbach-Preis

2020 Herzfaden  Shortlist zum Deutschen Buchpreis 




Herzfaden

(2020)

Ein zwölfjähriges Mädchen gerät nach einer Vorstellung der Augsburger Puppenkiste durch eine verborgene Tür auf einen märchenhaften Dachboden, auf dem viele Freunde warten: die Prinzessin Li Si, Kater Mikesch, Lukas, der Lokomotivführer. Vor allem aber die Frau, die all diese Marionetten geschnitzt hat und nun ihre Geschichte erzählt. Es ist die Geschichte eines einmaligen Theaters und der Familie, die es gegründet und berühmt gemacht hat. Sie beginnt im 2. Weltkrieg, als Walter Oehmichen, ein Schauspieler des Augsburger Stadttheaters, in der Gefangenschaft einen Puppenschnitzer kennenlernt und für die eigene Familie ein Marionettentheater baut. In der Bombennacht 1944 verbrennt es zu Schutt und Asche.



Notizen


Thomas Hettche erzählt am Anfang seinees Romans, wie ein zwölfjähriges Mädchen nach einer Vorstellung der "Augsburger Puppenkiste" durch eine verborgene Tür auf einen märchenhaften Dachboden gelangt. Diese Szene hat mich gleich an "Die unheimliche Bibliothek" von Haruki Murakami erinnert. Und ja, in beiden Erzählungen geht es auch um die Freiheit, aber bei Hettche gibt es noch andere Ebenen.

Da ist neben der märchenhaften Erzählung - die übrigens in rot gedruckt ist, im Gegensatz zu den informativen Teilen in blau - vor allen Dingen die Entstehungsgeschichte der "Augsburger Puppenkiste", beziehungsweise der Erfinderfamilie. Gleichzeitig ist es aber auch eine gesellschaftlich-historische und Medien-historische Geschichte. Vergangenheit und Gegenwart ( bis 1960, denn hier endet der Roman ) werden immer wieder gekonnt miteinander verbunden. Beeindruckend die Schilderung des Bombenangriffs vom November 1944, bei dem das gesamte Theater verbrennt. Erzählt aus den Augen von Hatü oder Hannelore Oehmichen, der Tocher des Theatererfinders.

Die Kindergeschichten der Augsburger Puppenkiste sind eben nur die Oberfläche, aber nicht ohne viele Hinweise auf die Wahrheit. Sozusagen ein Märchen über die Wahrheit.

Aber dem Autor geht es auch noch um eine andere Frage: Wie war das mit den Kindern, die im Faschismus groß geworden sind ?

"Und sie werden nicht mehr frei, ihr ganzes Leben"Adolf Hitler, 1938

Ein Kernsatz des Romans. Die Fäden der Marionetten, so Hettche, sollen die Jugend wieder herausführen aus jener und hinüber in eine andere Zeit.

Das kleine Mädchen kommt übrigens am Ende, genau wie der kleine Junge bei Murakami, wieder frei. Und auch die Augsburger Puppenkiste überlebt in Freiheit.

Wie der Titel "Herzfaden" zustandegekommen ist, konnte der Autor nicht erklären, aber es geht ihm auch um die Verzauberung der Kunst mit den Marionetten, der gesamten Kunst bis zum Schreiben, denn auch Literatur ist seiner Meinung nach eine einfache Kunst. Nur Papier und Druckerschwärze. Die menschliche Phantasie braucht eben nicht viel für die Verzauberung.

In einem Interwiev, welches ich nach der Lesung von ihm gefunden habe, sagt Thomas Hettche:

"Ich bin mit der Puppenkiste im Fernsehen aufgewachsen, vor allem mit »Urmel aus dem Eis« und dem »Kleinen König Kalle Wirsch«. Und ich erinnere mich, dass ich schon als Kind diese besondere Faszination der Marionetten begriff: Ich sah die Fäden der Marionetten, die ja ihren Mund nicht bewegen und keine Mimik haben, und trotzdem nahm mich die Geschichte gefangen. Diese besondere Magie der Marionetten habe ich versucht einzufangen. Ich wollte erzählen, aus welchen Zeitumständen die »Augsburger Puppenkiste« entstanden ist, die ja so prägend für mehrere Generationen von Kindern in diesem Land war, aber ich wollte auch von dem Zauber erzählen, der Marionetten innewohnt: Wie kann es möglich sein, dass ein totes Stück Holz an Fäden lebendig wird?"





Anja Kampmann

liest aus „Der Hund ist immer hungrig“ – 15.11.2021


Geb. 1983 in Hamburg, lebt in Leipzig

 

Sie studierte an der Universität Hamburg
und am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig.

 

 Ihren ersten Erfolg als Autorin hatte sie
2006, als sie als Finalistin des Open Mike nach Berlin eingeladen wurde. 

Seit 2011 arbeitete sie zudem für den Deutschlandfunk und die NZZ sowie an einer Promotion zu Musikalität und Stille im Werk von Samuel Beckett. 

 

Werke unter anderem:

 

Gedichtbände

2016 Proben von Stein und Licht

2021 Der Hund ist immer hungrig

 

2018 Wie hoch die Wasser steigen - Debütroman

 

 

Auszeichnungen unter anderem:

 

2013 MDR-Literaturpreis

2018 Mara-Cassens-Preis und Rainer-Malkowski-Preis

2018 Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse und den deutschen Buchpreis 

mit dem Roman „ Wie hoch die Wasser steigen“




Der Hund ist immer hungrig


 

Zeitungsträger, ein Mädchen auf dem Spielplatz, Jugendliche in ihrer naiven Sehnsucht fragen sich nach dem großen Leben und wo es sein könnte. Die Zukunft unterdessen hat ein anderes Blau und kündigt sich an mit Klonpferden und Mammuts. Die neuen Gedichte erzählen vom Marschland, Figuren treten auf, wiederkehrende Motive verklammern sie zu einem großen Bild der Landschaft in unserer Zeit.


Notizen


"Der Hund ist immer hungrig" und der Leser hoffentlich auch, hungrig, um mehr zu erfahren.

Anja Kampamann`s Gedichtband ist in fünf Kapitel aufgeteilt. Es beginnt in Norddeutschland, dort, wo das Leben noch geerdet ist, um dann den Bogen immer weiter zu spannen. Den Abschluß bildet ein größeres Liebesgedicht.

Es sind Gedichte über Landschaften, über vergangene Zeiten, über von ihr Gesehenes, Wahrgenommenes, Erfahrenes. Die Erfahrungen, die sie gemacht hat, drängen in die Texte, nicht umgekehrt. Auf der einen Seite der wissenschaftliche Fortschritt, auf der anderen Seite ihre Art die Welt zu betrachten und sich mit ihr auseinanderzusetzen. Aber es sind keine autobiographischen Texte, die will sie nicht schreiben.

Ihre Gedichte sind quasi Prosa in Lyrik gegossen. Verdichtete Kurz-Geschichen.

Bein Schreiben von Gedichten, so die Autorin, ist es, wie mit einer Taschenlampe ins Dunkel zu leuchten, einen gewissen Punkt anzuleuchten. Bei der Prosa muß man alles beleuchten und auch erklären. Der Leser ist beim Gedicht freier als bei der Prosa.

Aber Anja Kampmann arbeitet auch ziemlich frei - genauso wie sie liest -, Sie denkt dabei nicht an und in „Jamben" und dergleichen. Sie läßt Variationen beim Lesen zu, will nichts vorgeben. Schließlich liest jeder das Gedicht für sich anders.

Gedichte, so sagt sie, haben genauso wie die Philosophie das Recht, anders zu fragen. Fragen nach dem Hintergrund, dem Warum.

Manchmal wolle sie über etwas gar nicht schreiben, aber dann läßt sie das Thema nicht mehr los.

Doron Rabinovici hat mal in einer Lesung gesagt, er habe den Roman geschrieben, um es loszuwerden, weil es einmal gesagt werden muß.  Dagegen behauptet Anja Kampmann, etwas eben nicht abzuhandeln um es loszuwerden.

Man wird gedrängt zu den Problemen der Welt, aber es gibt natürlich auch noch das andere, was Lyrik ausmacht. Das alles fast das am Ende des Gedichtbandes stehende längere Liebesgedicht wunderbar zusammen.







Regina Scheer

liest aus „Gott wohnt im Wedding“ – 22.11.2021



Geboren 1950 in Ost-Berlin


studierte Regina Scheer von 1968 bis 1973 Theater- und
Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 1972 bis 1976 war sie
Redakteurin bei der Zeitschrift „Forum“ und von 1980 bis 1990 Redakteurin bei der
Literaturzeitschrift „Temperamente“. Ab den 1990er Jahren arbeitete sie dann als freie
Autorin, Historikerin und Herausgeberin.

 Lebt in Berlin.


Werke unter anderem


Die Monographien „AHAWAH. Das vergessene
Haus. Spurensuche in der Berliner Auguststraße“ (1992),

„Es gingen Wasser wild über unsere Seele“ (1999), 

„Im Schatten der Sterne“ (2004), 

„Wir sind die Liebermanns“ (2006) 

„Zerbrochene Bilder“ (2011).

 

2014 veröffentlichte sie den Roman „Machandel“ 

2019 den Roman „Gott wohnt im Wedding“.

 

Auszeichnungen unter anderem:


2014 Mara-Cassens-Preis
 2017 Literaturpreis Berlin-Brandenburg der Gewerkschaft Ver.di  



Gott wohnt im Wedding


Alle sind sie untereinander und schicksalhaft mit dem ehemals roten Wedding verbunden, diesem ärmlichen Stadtteil in Berlin. Mit dem heruntergekommenen Haus dort in der Utrechter Straße. Leo, der nach 70 Jahren aus Israel nach Deutschland zurückkehrt, obwohl er das eigentlich nie wollte. Seine Enkelin Nira, die Amir liebt, der in Berlin einen Falafel-Imbiss eröffnet hat. Laila, die gar nicht weiß, dass ihre Sinti-Familie hier einst gewohnt hat. Und schließlich die alte Gertrud, die Leo und seinen Freund Manfred 1944 in ihrem Versteck auf dem Dachboden entdeckt, aber nicht verraten hat.



Notizen


Für ihren Roman "Gott wohnt im Wedding" hat Regina Scheer einen schönen Begriff gefunden: 

Es ist " Erinnerungsliteratur "

Allerdings, so die Autorin : "Erinnerungsliteratur beschreibt immer nur einen Teil der Wahrheit."

Es sind Geschichten über Juden, Roma, Sinti, die in einem bestimmten Haus im Wedding gelebt haben und teilweise später wieder zurückgekehrt sind. Aber auch historische Ereignisse in und um dieses Haus. Und, eine Besonderheit, dieses Haus spricht, erzählt auch selber. Das ist für Regina Scheer aber keine Besonderheit, weil Häuser "steingewordenes Leben sind". Und außerdem, so sagt sie nebenbei, warum soll eine erwachsene Erzählerin nicht mal in das Land der Märchen eintauchen, wo auch viele Gegenstände sprechen.

Und der Titel, auch der stammt aus einem "Märchen", zumindest aus einer erzählten Geschichte. Die Pfingstgemeinde in Berlin hat sich damals der Roma angenommen und während den Kindern eine Geschichte erzählt wird, taucht die Frage auf: " Wohnt Gott auch in Berlin ?"

Regina Scheer sagt, sie habe in ihre fiktiven Geschichten immer wieder auch wahre Geschichten eingebaut, denn wenn man schreibt, ist alles eine Recherche.

Wenn sie sich aber Geschichten von Figuren ausdenke, dann müsse sie auch die Geschichten der Figuren kennen, über die sie nicht schreibe.

Ja, es wiederhole sich immer alles und doch ist es nicht dasselbe. 

Zitat eines Juden aus dem Haus:  Mit der Vergangenheit bin ich fertig, es gibt nur noch etwas zu erledigen.

Der Krieg ist eben nicht zuende, wenn nicht mehr geschossen wird.







Hans-Ulrich Treichel

liest aus „Schöner denn je“ – 29.11.2021


Geboren 1952 in Versmold in Westfalen

 

Studierte an der FU
Berlin Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft und wurde dort 1983 mit einer
Arbeit über Wolfgang Koeppen promoviert. 

1993 habilitierte er sich mit einer Arbeit
über Auslöschungsverfahren in der Literatur und Poetik der Moderne

 

Von 1995 bis
März 2018 lehrte er am Deutschen Literaturinstitut Leipzig

 

Werke unter anderem:

 

Gedichtbände

 „Tarantella“ (1982)

 „Seit Tagen kein Wunder“
(1990) 

„Südraum“ (2007)

 

Romane

 „Der Verlorene“ (1998)

 „Tristanakkord“ (2000),
„Der irdische Armor“ (2002)

 „Menschenflug“ (2005)

 „Anatolin“ (2008)
„Grünewaldsee“ (2010)

 „Frühe Störung“ (2014) 

„Schöner denn je“ (2021) 


Auszeichnungen unter anderem :

 

2003 Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis 

2003 Margarete-Schrader-Preis

2005 Hermann-Hesse-Preis




 

Schöner denn je


Einmal so wie Erik sein! Das hat sich Andreas immer gewünscht und sich von Jugend an um eine Freundschaft mit dem zwar stets höflichen und beneidenswert gelassenen, aber letztlich unnahbaren Erik bemüht. Doch Erik ist nicht nur der Bessere, was die Schulnoten, die Beliebtheit bei den Mädchen oder den Sport betrifft. Auch zwanzig Jahre später, als sie sich in Berlin zufällig begegnen, ist aus Andreas nur ein Romanist in der Lehrerfortbildung geworden, während Erik es als Filmarchitekt in die glamouröse Welt Hollywoods und in die Nähe bekannter Filmstars geschafft hat - zum Beispiel Hélènes, einer weltberühmten Schauspielerin, für die wiederum Andreas sein Leben lang geschwärmt hat. Ohne zu ahnen, dass ausgerechnet diese Hélène von der Leinwand herabsteigt und für einige Tage leibhaftig in sein Leben treten wird. Dank Erik zwar, aber ohne ihn.




Notizen


Die Romane von Hans -Ulrich Treichel greifen irgendwie alle ein bißchen ineinander über.

Sein neuester "Schöner denn je" spielt in der Zeit vor 1989, also vor dem Mauerfall, ungefähr in den 70er Jahren, als es auch noch keine Handys gab und dadurch eine andere Abhängigkeit gegeben war, man also noch nicht jederzeit erreichbar war. Es ist übrigens auch die Studentenzeit des Autors in Berlin.

Die Hauptperson leidet an einem Durchschnittlichkeitsempfinden in Bezug auf einen Freund von ihm. "Ich war anders als er, aber ich wollte so sein wie er".

Außerdem geht es auch um das Thema "Männerfreundschaft". Treichel: "Es kommt nicht darauf an was man tut, sondern wie man sich dabei fühlt."

Am Anfang des Schreibens steht für Treichel nicht das Nachdenken über eine Person. Er schreibt intuitiv. Unser eigenes Leben, so erzählt der Autor, ist auch schon strukturiert. Und daraus schreibe er. Beim Schreiben sei für ihn außerdem jede Zeit eine Gegenwart. Es herrscht eine Vergegenwärtigung.

Besonders interessiere ihn, daß die Literatur in das Innere eines Menschen und auch aus dem Inneren einer Person in die Welt schauen kann.

Der Roman "Schöner denn je" laufe in Bildern ab, fast so wie ein Film. Auf die Frage, warum man immer sofort erkenne, daß ein Roman von ihm sei, antwortet er: Etwas von ihm Geschriebenes habe so etwas wie einen "Treichel-Sound". Sowas könne man nicht lernen und sei auch nicht konstruiert, sondern stelle sich über den "persönlichen Pulsschlag" her.






40. Paderborner Gastdozentur

für Schriftstellerinnen und Schriftsteller 

 
Ingo Schulze / Frank Witzel:


 
Warum und aus welchem Grund schreiben wir

 

Ingo Schulze

 

* 15. Dezember 1962 in Dresden

Studierte bis 1988  Klassische Philologie und Germanistik an der Universität Jena.

Anschließend zwei Jahre als Dramaturg am Landestheater Altenburg. Danach Journalist.

Seit Mitte der 1990er-Jahre lebt Schulze als freier Schriftsteller in Berlinö

In zweiter Ehe ist Schulze mit der Literaturwissenschaftlerin Jutta Müller-Tamm verheiratet.

 

Werke unter anderem:

 

1998 Simple Storys. Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz. Berlin

2020 Die rechtschaffenen Mörder

 

Auszeichnungen unter anderem:

 

2007 Preis der Leipziger Buchmesse

2013 Bertolt-Brecht-Preis der Stadt Augsburg

 2020 Bundesverdienstkreuz 1. Klasse

  2021 Preis der Literaturhäuser

  2021 Kunstpreis der Landeshauptstadt Dresden

 

Frank Witzel

12. November 1955 in Wiesbaden

Schriftsteller, Illustrator, Radiomoderator und Musiker

Witzel absolvierte nach der Schule zunächst eine musikalische Ausbildung am Konservatorium Wiesbaden.

 Bereits in seiner Kindheit lernte er Klavier, Cello und klassische Gitarre. Ab 1975 veröffentlichte Witzel Gedichte in alternativen Literaturzeitschriftenö

 

Werke unter anderem :

 

Lyrik und Prosa

1978 Stille Tage in Cliché.

2015 Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969. Roman

2021 Erhoffte Hoffnungslosigkeit. Metaphysisches Tagebuch II


Auszeichnung :

 

2021 Erich Fried Preis (ernannt von Ingo Schulze)

 

 06.12.2021

Warum und aus welchem Grund schreiben wir.

 


 

Notizen

 

Ingo Schulze bekannt unter anderem von "Simple Stories" - Verzahnte Geschichten aus der Zeit vor und nach der Wende.

Beide Autoren erzählen ihre Geschichten in dieser Vorlesungsreihe zusammen, weil die Geschichten dann wieder neu erzählt werden können. Schulze aus der DDR-Sicht, Witzel aus der BRD-Sicht. Genau wie die beiden Autoren haben eben auch die zwei Länder mindestens zwei Traditionen.

In ihrem Bewußtsein war bis 1989 nur die Trennung von BRD und DDR. Und so berichten sie aus ihrer Jugend und wie sie dann zum Schreiben gekommen sind.

Frank Witzel:

Das Lesen habe ihn zum Schreiben gebracht. Am Anfang war es Literatur die von der katholischen Kirche geprägt war. Die Magie in Kinderbüchern, aber vor allen Dingen die Heiligengeschichten, obwohl diese eher bei der "Schundliteratur" angesiedelt waren. Genauso wie in den 50er und 60er Jahren die kleinen Heftchen wie "Lanzer", "Fix und Foxie", bis hin zur Bravo.

Daneben interessierte ihn die Malerei. Die Surrealisten. Über diese Phantasie kam er zum Schreiben. Außerdem waren es die Texte und Autoren der damals angesagten Musik, Popmusik und die gesamte alternative Literatur.

Ingo Schulze:

Geboren in Dresden. Bis zu seinem 13. Lebensjahr hat er gar nicht gelesen, sich nur vorlesen lassen. Dann hörte er etwas von einem Mann namens Biermann und wollte auch so werden wie er. Vor allen Dingen aber war er absolut nicht dazu zu bewegen, zur Armee zu gehen.

Bei ihm war es das Nachahmungsmoment Er wollte etwas werden, groß herauskommen. Und diese Möglichkeit sah er für sich nur beim Schreiben. Nach der Teilnahme an einem DDR-Wettbewerb " Junge Dichter gesucht", und viele Diskussionen über die Armee hat er dann wirklich angefangen zu schreiben.

Für beide war es keine politische Entscheidung. Im Vordergrund stand die Tatsache, daß der Dichter (in der DDR), der Künstler (in der BRD) jeweils eine besondere Stellung in der Gesellschaft einnahmen. Man wollte eben anderes sein, als alle anderen, man rebellierte gegen das Althergebrachte. Und dies galt auch für die bisherige, alte Literatur.




13.12.2021

 Bin ich Schriftsteller? Oder Stimmenimitator?



Notizen


Frank Witzel:

 Ingo Schulze, so der Autor, arbeite mehr mit Humor, obwohl der auch ihn beschäftigt habe. An dieser Stelle wendet Schulze ein, daß er über sich ungern von Humor spricht. Er bevorzuge in dem Fall den Begriff Komik.

 

Frank Witzel erzählt, daß er sehr von Peter Handke beeinflußt worden sei. Angefangen mit den Erzählungen "Begrüßung des Aufsichtsrats“. Allerdings habe er in den 70er Jahren Verschiedenes beim Schreiben ausprobiert. Und so kam er von der Lyrik zur Prosa, wobei es in der Lyrik seine eigene Stimme war. Doch dann wurde das Erzählen für ihn wichtiger. Und so kam es zu seiner Idee, eine Anthologie zu schreiben. Thema: "Eigen-und Selbstliebe". Zu diesem Zweck erfand er Autoren und dazugehörige Biographien.

An dieser Stelle muß ich an Jan Wagner denken, der mit  "Die Eulenhasser in den Hallenhäusern" 2012 einen ähnlichen Versuch unternommen hat.

 

Ingo Schulze wollte in der DDR der 90er Jahre die politische Aufmerksamkeit erringen. Man habe da an so eine Art “Dutschek-DDR" gedacht, aber plötzlich kam die D-Mark. Über den Journalismus kam er nach Petersburg/ Rußland. Aufgewachsen in der Gesellschaft der DDR konnte er die beiden Gesellschaftsformen literarisch nicht zusammenknüpfen. Allerdings wurde er von seiner Suche nach der eigenen Stimme, die er in der DDR nie gefunden hatte, hier erlöst, nachdem er Autoren wie Puschkin und andere gelesen hatte. Heute wehrt er sich gegen eine eigene Stimme. Ja, das Schreiben war sowohl bei Witzel wie auch bei Schulze ein fortwährendes Entwickeln, ein sich Ausprobieren. Stellt sich mir die Frage, war die Aufgabe der eigenen Stimme für Schulze ein Schritt zurück oder ein Stillstand ? Eine Weiterentwicklung der Nachahmung - wie bei "33 Augenblicke des Glücks" 1995. Die Texte seien von einem literarischen Journalisten aus Deutschland, der in Petersburg verschwungen sei. Also ähnlich den Anthologien von Witzel.- oder die Suche nach etwas ganz Neuem ?

 

Frank Witzel zu dem Thema: Etwas nachschreiben kann auch zu eigenem Schreiben führen. Es stellt sich nur die Frage, ob es für den Autor ein gewisses Reinheitsgebot gibt.

Er habe sich hinter erfundenen Namen versteckt. Man könne das Buch, das man gelesen hat, zuklappen und quasi weiter schreiben, die Ideen fortführen. In seiner Anthologie würden sich aber auch Stimmen finden, die später die Stimme von ihm sein könnte.

 

Ingo Schulze fragt sich, ist Stimmenimitation ein Spiel oder eine Resonanz aus der Literatur ? Wenn er etwas liest, möchte er auch etwas Ähnliches zumindest schreiben. Aber Hemingway zum Beispiel funktionierte in der DDR nicht, da man dort unter anderem nicht einfach alles kaufen oder verkaufen konnte.  Erst in den 90er war eine Nachahmung dieses Autors möglich. Die finden wir dann im Kapitel 2 der „Simple Stories“.

“Harry Nelson kam im Mai 90, eine Wohe nach meinem neunzehnten Geburtstag, aus Frankfurt nach Altenburg. Er suchte nach Häusern, vor allem aber nach Bauland an den Zufahrtsstraßen zur Stadt.Es ging um Tankstellen.“

Aber das empfindet Schulze nicht als Plagiat. Und er widerspricht, daß er versucht zu einer eigenen Stimme zu kommen. Genau das will er nicht !

 

Zwischendurch ein Gedanke von mir: Wenn es diese eigene Stimme beim Schreiben gibt, setzt sich diese dann nicht zwangsläufig im Alltag, im Ich, im Sein fort ? Oder von der anderen Seite betrachtet, findet man die eigene Stimme, die es eigentlich im Alltag, im Ich, im Sein zwangsläufig gibt, da jeder Mensch anders ist, auch beim Schreiben zwangsläufig wieder ? Bildet sie sich auch dort ab ?

 

Und dann noch die Frage an den Autor: Wie originell muß man beim Schreiben sein ? Schulze: „Erzählen lassen, erzählen überlassen. Sagen doch sie mal etwas über mich.“ Denn: "Der Autor ist nicht der beste Interpret." – Gemeint: Sein bester Interpret.



 

10.01.2022 

Die Erfindung der Neuen Leben.

 Die vielen Leben der Erfindung.

 

 

Notizen

 

Ingo Schulze möchte gerne etwas über seine eigene Jugend, seine Schülerzeit in der DDR schreiben. Drei Jahre versucht er es, ohne ein Ergebnis. Schon zweifelt er daran, überhaupt noch schreiben zu können. Sein Problem: “Wie schreibe ich über die Zeit vor 1989“. Eine andere Frage: "Wie schreibt jemand über die DDR, der nicht mehr schreiben will ?" Herausgekommen ist ein Briefroman ( Briefe 1990-Juli 1990 ). Erinnerungen an das Leben des Ich-Erzählers. Schulte konnte wieder über jemanden schreiben, der über sein Leben in der DDR schreibt. Titel: „Neue Leben“.

 

Auch Frank Witzel hat immer wieder daran gedacht, über seine Jugend  Anfang der 60er zu schreiben. Dieses Vorhaben gelang zunächst ebenfalls nicht. Aber ab 2005 hat er sich dann immer stärker mit diesem Projekt beschäftigt. Schließlich erschien der Roman 2015, für den er dann 2012 (für ein Kapitel) den Robert-Gernhardt-Preis und 2015 (für den fertiggestellten Roman) den Deutschen Buchpreis erhielt. Titel : " Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch –drepessiven Teenager im Sommer 1969"

Während der gesamten Zeit des Schreibens  hat er stets nach einem Anfang gesucht. Witzel: “Es gibt Dinge, die kann man nicht sagen, nicht zusammen sagen, nicht zusammen denken.“

 

Beide, Schulze und Witzel, mußten sich erst über das „Ich“ des Erzählers klar werden, um mit ihm vor oder zurückgehen zu können. Der Ich-Erzähler und der Schreiber müssen ihrer Meinung nach immer nebeneinader stehen. Das ist möglich, denn so Schulze: „ Kunst, Literatur kann und darf alles.“

 

Witzel: Zunächst muß ich mir darüber klar werden, ob ich etwas Gedankliches aus meinem Leben überhaupt schreiben will und, ist es, wenn ich es schreibe, für mich gelungen.

 

Und ganz plötzlich, so Schulze, wußte er, wie die Novelle enden würde. Als ich dem Ich-Erzähler einen Platz gegeben hatte, konnte er auch wieder das schreiben, was er schreiben wollte. Die Briefe in „Neue Leben" sind auf der Rückseite von Manusskripten geschrieben. Und Schulze tritt nur als Herausgeber der Briefe auf, aber der Herausgeber Ingo Schulze ist nicht Ingo Schulze.

 

Bei Witzel sind es keine Briefe, sondern Gespräche, Verhöre in 98 Kapiteln. Und während bei Schulze "Die Lebensansichten des Katers Murr" von E.T.A. Hoffmann als Grundlage fungierten, verneint Witzel ein Vorbild in der Konstruktion.

 

Absolut notwendig halten beide Autoren die Arbeit von Lektoren, damit auch eine andere Seite nochmal fragt, „möchtest du das wirklich so ?"

 

An der Stelle möchte ich fragen:  Kann, darf man vom Leser überhaupt erwarten, daß er verschiedene Dinge nebeneinander versteht ? Und: Will man als Schreibender das überhaupt oder will man nur dem Leser etwas erklären oder vielleicht sogar nur einfach etwas aufschreiben ? Letzteres wäre mir zu wenig, denn nur das Nebeneinander bringt den Leser zum Denken und zum Erkennen von anderen Dingen. Schulze und Witzel versuchen das jeweils über eine dritte Person, die für sie oder über die sie schreiben. Aber all diese Fragen, Ansätze und Möglichkeiten zeigen meiner Meinung nach, daß jeder Roman bei jedem Lesen neu entsteht, weil jeder Leser ihn anders liest.



17.01.2022

 Die weitere Erprobung der Prosa im Roman und im Essay. 

 

Notizen

 

Frank Witzel erzählt hier von der Entstehung seines Romans „Vondenloh“.

Vorausgegangen war der Wunsch seines Verlegers, einen einfachen, linearen Roman zu schreiben. Einen für den Leser unkomplizierten. Zum Beispiel so wie eine Schriftstellerin, die nur „120-Seiten-Romane“ schreibt. Dies akzeptiert er nicht, schreibt aber nach einiger Zeit einen Roman über Vondenloh, eine Schriftstellerin, die nur 120-Seiten-Romane schreibt. Als der Verlag dieses Werk ablehnt, trennt sich Witzel von ihm und läßt ihn von einem anderen Verlag herausgeben. Nach einigen Jahren hat er dann noch einen Anhang geschrieben, einen Anhang über gewisse Personen mit enthüllenden, fiktiven Geschichten.

 

Enthüllendes auch bei Ingo Schulze. Und hier eine ähnliche Entstehung. Er sollte in der „Sonntags-FAZ" in einer bestimmten Reihe einen "Contra-Artikel" schreiben. Der Artikel wurde abgelehnt, aber es entstand der Roman „Peter Holtz“. Ein Schelmenroman aus der Endzeit der DDR und dem Neuanfang in der BRD. 1974 schon versucht der 12-jährige Peter Holtz eine Kellnerin davon zu überzeugen, daß es eigentlich dem Sozialismus widerspricht, mit Geld (was er nicht hat) zu bezahlen. Das Widersinnige im Sozialismus und später im Kapitalismus als Millionär.Peter Holtz scheitert auf beiden Seiten.

 

Eine weitere Herangehensweise beim Schreiben unternimmt Frank Witzel  mit dem Roman „Inniger Schiffbruch“. Eine autobiographische Erzählung anhand von gefundenen Tagebüchern seines Vaters bei der Wohnungsauflösung seiner Eltern. Es geht um seine Jugendzeit. Dokumente, hauptsächlich von seinem Vater, nur ganz wenige von seiner Mutter.

Hierbei stellt Witzel fest, daß er seine Arbeitsweise – Phantasie-erfundene Dinge usw. - bei der Verwendung der Dokumente nicht anwenden konnte.

 

Allgemeine Hinweise der Autoren:

 

Das erste Kapitel eines Romans legt den Eingangswinkel für den Roman fest.

Man arbeitet, so Witzel, nicht nur mit Ablehnungen. Jedes Buch hat nicht nur eine eigene Genese, sondern auch eine eigene Entscheidung.

Die Problematik liegt für Schulze zwischen der Realität und der Fiktion.

WitzelMan kann etwas nur schreiben, was einen selber interessiert, nicht, was den Leser interessieren könnte. Schulze: Die Intention des Autors ist uninteressant. Wichtig ist, was es für den Leser ist.

Zum Thema Humor, Parodie erklärt Schulze: Wenn man etwas ernst nimmt und es weiter erzählt, entsteht eine Komik, keine Parodie.




24.01.2022

 Unerledigtes und Zukünftiges


Notizen


Ingo Schulze liest zunächst einen ganz kurzen Abschnitt aus seinem letzten Roman (2020) :“Die rechtschaffennen Mörder“. Der Roman besteht aus drei Teilen, wovon der erste Teil zweidrittel des ganzen Werks einnimmt. Im zweiten Teil taucht dann ein „Ich" auf, das nicht mehr der Autor ist und wohl den ersten Teil geschrieben hat. Der Erzähler im dritten Teil ist dann ein gewisser „Schultze". Außerdem wird in diesem Teil eine Person aus einem anderen seiner Romane eingefügt.

Der österreichische Schriftsteller Joseph Roth (1854-1934) habe ihn zum Schreiben des Romans gebracht. Eigentlich wolslte Schulze eine längere Erzählung in einem legendenhaften Tonfall schreiben, aber während des Schreibens habe er seine Meinung zum „Ich“ geändert, welvches ihm fremd geworden sei.

Den ersten Teil hat er dann in einem legendenhaftem Tonfall aus der alten DDR geschrieben. Zwischen Teil eins und Teil zwei und drei liegt der Mauerfall, die Wiedervereinigung.

 

Frank Witzels Unterscheidung zwischen Roman und Erzählung: Im Roman schaffe man einen eigenen Kontext.

Bei Schulze gehören mehrere Erzählungen meistens irgendwie zusammen. Aber, so Witzel, wenn ich mehrere Erzählungen auf einen Band hin arbeite, dann arbeite ich auf einen Roman hin.

 

Bei Witzel gibt es ein Manuskript von zwölf Erzählungen. Davon sind vier in Romane übergegangen. Ein Roman "Direkt danach und kurz davor" (2017) besteht aus acht Geschichten mit "Wir-Erzählerinnen" aus der Nachkriegszeit. Aus einer Erzählung liest Witzel kurz, worauf Schulze einwirft, daß sie im Märchenton geschrieben sei. Diese acht Erzählungen sind laut Witzel im Konttext zum Roman geschrieben. Aber es ginge ihm nicht um die Verwertung des Manuskripts, jedoch könne man Ideen daraus vielleicht weiterverwenden.

Es gibt, so Witzel, drei Möglichkeiten:

1. Von der Erzählung zum Roman

2. Vom Roman zur Erzählung

3. Von der Erzählung zur Erzählung.

Ingo Schulze beschreibt beschreibt in seinem Band "Tasso im Irrenhaus" drei besondere Kunstwerke.

Diese drei Erzählungen sind zu einem Ganzen entwickelt, aber es könnte auch jede Erzählung für sich alleine stehen.

Der Autor setzt den Begriff "Erzählung" gleich der "Kurzgeschichte".

Anders als bei der Erzählung müsse man beim Roman immer eine Person haben und wissen, wie diese auf die Welt schaut. Bei der Erzählung ergebe sich die Person aus der Geschichte.

Das Wichtigste ist für Schulze immer der Schluß.

Frank Witzel behauptet, daß es bei ihm genau umgekehrt sei. Außerdem habe er bei einer Erzählung immer gewisse Beschränkungen. Er beginne eigentlich immer zu schreiben, ohne zu wissen, wohin es gehen soll. Aber es gebe dann doch etwas in ihm, das will wissen, wohin es gehen soll.

Ingo Schulze braucht, so erklärt er, stets vorher eine Entscheidung für einen gewissen Stil.

Die schlußfolgernde Zusammenfassung des moderierenden Professors :

Gottfried Benn hat bei seiner Rede zum Georg-Büchner-Preis 1951 gesagt:

"Ein Gedicht entsteht nicht, es wird gemacht."

Und so sei es auch mit dem Roman und der Erzählung.





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